Denn ein Gedanke, der nicht einen praktischen Zweck hat, ist wohl eine nicht sehr anständige heimliche Beschäftigung; namentlich aber solche Gedanken, die ungeheure Stelzschritte machen und die Erfahrung nur mit winzigen Sohlen berühren, sind unordentlicher Entstehung verdächtig. Früher hat man ja wohl von Gedankenflug gesprochen, und zur Zeit Schillers wäre ein Mann mit solchen hochgemuten Fragen im Busen sehr angesehen gewesen; heute dagegen hat man das Gefühl, daß mit so einem Menschen etwas nicht in Ordnung sei, wenn das nicht gerade zufällig sein Beruf ist und seine Einkommensquelle. Man hat die Sache offenbar anders verteilt. Man hat gewisse Fragen den Menschen aus dem Herzen genommen. Man hat für hochfliegende Gedanken eine Art Geflügelfarm geschaffen, die man Philosophie, Theologie oder Literatur nennt, und dort vermehren sie sich in ihrer Weise immer unübersichtlicher, und das ist ganz recht so, denn kein Mensch braucht sich bei dieser Ausbreitung mehr vorzuwerfen, daß er sich nicht persönlich um sie kümmern kann. Ulrich in seiner Achtung vor Fachlichkeit und Spezialistentum, war im Grunde entschlossen, nichts gegen eine solche Teilung der Tätigkeiten einzuwenden. Aber er gestattete sich immerhin noch selbst zu denken, obgleich er kein Berufsphilosoph war, und augenblicklich malte er sich aus, daß das auf den Weg zum Bienenstaat führen werde. Die Königin wird Eier legen, die Drohnen werden ein der Wollust und dem Geist gewidmetes Leben führen, und die Spezialisten werden arbeiten. Auch eine solche Menschheit ist denkbar; die Gesamtleistung möchte vielleicht sogar gesteigert werden. Jetzt hat jeder Mensch sozusagen noch die ganze Menschheit in sich, aber das ist offenkundig schon zuviel geworden und bewährt sich gar nicht mehr; so daß das Humane fast schon der reinste Schwindel ist. Es käme für den Erfolg vielleicht darauf an, bei der Zerteilung neue Vorkehrungen zu treffen, damit in einer besonderen jener Arbeitergruppen auch eine geistige Synthese entsteht. [...]
Mit einem Wort, es geschah viel, es war eine bewegte Zeit, die um Ende 1913 und Anfang 1914. Aber auch die Zeit zwei oder fünf Jahre vorher war eine bewegte Zeit gewesen, jeder Tag hatte seine Erregungen gehabt, und trotzdem ließ sich nur noch schwach oder gar nicht erinnern, was damals eigentlich los gewesen war. Man konnte es abkürzen. Das neue Heilmittel gegen die Lues machte –; in der Erforschung des Pflanzenstoffwechsels wurden –; die Eroberung des Südpols schien –; die Steinachexperimente erregten –; man konnte auf diese Weise gut die Hälfte der Bestimmtheit weglassen, es machte nicht viel aus. Welche sonderbare Angelegenheit ist doch Geschichte! Es ließ sich mit Sicherheit von dem und jenem Geschehnis behaupten, daß es seinen Platz in ihr inzwischen schon gefunden hatte oder bestimmt noch finden werde; aber ob dieses Geschehnis überhaupt stattgefunden hatte, das war nicht sicher. Denn zum Stattfinden gehört doch auch, daß etwas in einem bestimmten Jahr und nicht in einem anderen oder gar nicht stattfindet; und es gehört dazu, daß es selbst stattfindet und nicht am Ende bloß etwas Ähnliches oder seinesgleichen. Gerade das ist es aber, was kein Mensch von der Geschichte behaupten kann, außer er hat es aufgeschrieben, wie es die Zeitungen tun, oder es handelt sich um Berufs- und Vermögensangelegenheiten, denn in wieviel Jahren man pensionsberechtigt sein wird oder wann man eine bestimmte Summe besitzen wird oder ausgegeben hat, das ist natürlich wichtig, und in solchem Zusammenhang können auch Kriege zu Denkwürdigkeiten werden. Sie sieht unsicher und verfilzt aus, unsere Geschichte, wenn man sie in der Nähe betrachtet, wie ein nur halb festgetretener Morast, und schließlich läuft dann sonderbarerweise doch ein Weg über sie hin, eben jener »Weg der Geschichte«, von dem niemand weiß, woher er gekommen ist. Dieses Der Geschichte zum Stoff Dienen war etwas, das Ulrich empörte.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 83
Hexenturm in Jülich
vor 15 Stunden
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen