11 März 2014

Schlafe, was willst du mehr? - Wandlung eines Motivs

"Ein garstig' Lied! Pfui! Ein politisch' Lied", erklärt  einer der Studenten in "Auerbachs Keller" in Goethes Faust I. Auch Goethe hat sich stark von der Französischen Revolution und allen Revolutionsgedanken distanziert und doch ist eines seiner Altersgedichte zur Vorlage eines der bekanntesten politischen Gedichte aus dem Vormärz geworden.
Das hat seine literarische Vorgeschichte, die sich aus verschiedenen Umschreibungen des Gedichts (Parodien), die sich immer weiter vom Original entfernen,  erschließen lässt. *


Wiegenlied

„Deutschland - auf weichem Pfühle
Mach` dir den Kopf nicht schwer
Im irdischen Gewühle!
Schlafe, was willst du mehr?
Laß` jede Freiheit dir rauben,
Setze dich nicht zur Wehr,
Du behältst ja den christlichen Glauben;
Schlafe, was willst du mehr?
Und ob man dir alles verböte,
Doch gräme dich nicht zu sehr,
Du hast ja Schiller und Göthe:
Schlafe, was willst du mehr?
Dein König beschützt die Kameele
Und macht sie pensionär,
Dreihundert Thaler die Seele:
Schlafe, was willst du mehr?
Es fechten dreihuntert Blätter
Im Schatten, ein Sparterheer;
Und täglich erfährst du das Wetter:
Schlafe, was willst du mehr?
Kein Kind läuft ohne Höschen
Am Rhein, dem freien, umher:
Mein Deutschland, mein Dornröschen,
Schlafe, was willst du mehr?“

Georg Herwegh, in Lieder eines Lebendigen1841
Interpretation


Wo sind noch Würm' und Drachen,
Riesen mit Schwert und Speer?
Was kannst du weiter machen?
Schlafe! was willst du mehr?

Du hast genug gelitten
Qualen in Kampf und Strauß;
Du hast genug gelitten
Schlafe, mein Volk, schlaf aus!

Wo sind noch Würm' und Drachen,
Riesen mit Schwert und Speer?
Die Volksvertreter wachen:
Schlafe! Was willst du mehr?

Heinrich Hoffmann von Fallersleben, 9. Februar, 1840
aus Unpolitische Lieder, I. Teil
LXII.

     Du hast Diamanten und Perlen,
Hast alles, was Menschenbegehr,
Und hast die schönsten Augen –
Mein Liebchen, was willst du mehr?
5
     Auf deine schönen Augen
Hab’ ich ein ganzes Heer
Von ewigen Liedern gedichtet –
Mein Liebchen, was willst du mehr?

     Mit deinen schönen Augen
10
Hast du mich gequält so sehr,
Und hast mich zu Grunde gerichtet –
Mein Liebchen, was willst du mehr?

Heinrich Heine, Buch der Lieder 62,  1823/24 Wikisource


»Ach, von dem weichen Pfühle
Was treibt dich irr umher?
Bei meinem Saitenspiele
Schlafe, was willst du mehr?

Bei meinem Saitenspiele
Heben dich allzusehr
Die ewigen Gefühle;
Schlafe, was willst du mehr?

Die ewigen Gefühle,
Schnupfen und Husten schwer,
Ziehn durch die nächt'ge Kühle;
Schlafe, was willst du mehr?

Ziehn durch die nächt'ge Kühle
Mir den Verliebten her,
Hoch auf schwindlige Pfühle;
Schlafe, was willst du mehr?

Hoch auf schwindligem Pfühle
Zähle der Sterne Heer;
Und so dir das mißfiele:
Schlafe, was willst du mehr?«

Joseph von Eichendorff in: Ahnung und Gegenwart, 1. Buch, 5. Kapitel (1805)

Nachtgesang

O gib vom weichen Pfühle,
Träumend, ein halb Gehör
Bei meinem Saitenspiele
Schlafe! was willst du mehr?
[61]
Bei meinem Saitenspiele
Segnet der Sterne Heer
Die ewigen Gefühle;
Schlafe! was willst du mehr?

Die ewigen Gefühle
Heben mich, hoch und hehr,
Aus irdischem Gewühle;
Schlafe! was willst du mehr?

Vom irdischen Gewühle
Trennst du mich nur zu sehr,
Bannst mich in diese Kühle;
Schlafe! was willst du mehr?

Bannst mich in diese Kühle,
Gibst nur im Traum Gehör.
Ach, auf dem weichen Pfühle
Schlafe! was willst du mehr?


*Herweghs Gedicht hat freilich auch seine Nachgeschichte:

Preußen, was willst du mehr?
Hör endlich auf zu streiten,
Mach mir's nicht gar zu schwer!
Wir haben ja gute Zeiten
Preußen, was willst du mehr?

Der Handel steht in Blüte,
Es wimmelt der Verkehr,
Das Defizit wird zur Mythe -
Preußen, was willst du mehr?

Laß dir zu sehr nicht grauen
Vor all dem Militär;
Es kommt ja nicht zum Hauen -
Preußen, was willst du mehr?

Und macht heut oder morgen
Er dir das Herzchen schwer:
Bismarck wird alles besorgen -
Preußen - was willst du mehr?

Verfasser unbekannt, 1863 
bezogen auf den preußischen Verfassungskonflikt 1862-66, Bismarck war 1862 Ministerpräsident geworden

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