09 März 2014

Leo Fischels Tochter Gerda

Sie war eines jener reizend zielbewußten heutigen Mädchen, die auf der Stelle Omnibusschaffner würden, wenn eine allgemeine Idee dies verlangte. [...]
 [...] man redet sich in die Liebe hinein wie in den Zorn, wenn man ihre Gebärden macht. [...]
Genügt es Ihnen, wenn ich beschwöre, daß das Wissen mit der Habsucht verwandt ist; einen schäbigen Spartrieb darstellt; ein überheblicher innerer Kapitalismus ist? [...]
Wäre Gerda einige Jahre später geboren worden, so wäre ihr Papa einer der reichsten Männer der Stadt gewesen, wenn auch gerade dann kein besonders gut angesehener, und ihre Mutter würde ihn wieder bewundert haben, ehe Gerda in die Lage hätte kommen können, die Streitigkeiten zwischen ihren Erzeugern als Zwiespalt in sich selbst zu empfinden. Sie würde sich dann wahrscheinlich mit Stolz als ein Rassenmischwesen gefühlt haben; wie die Verhältnisse aber in Wirklichkeit waren, lehnte sie sich gegen ihre Eltern und deren Lebensprobleme auf, wollte nicht von ihnen erblich belastet sein und war blond, frei, deutsch und kraftvoll, als hätte sie mit ihnen nichts zu tun. Das besaß, so gut es aussah, den Nachteil, daß sie nie dazu gekommen war, den Wurm, der an ihr fraß, ans Licht zu befördern. [...]
Sie waren keine Rasseantisemiten, sondern Gegner der »jüdischen Gesinnung«, worunter sie Kapitalismus und Sozialismus, Wissenschaft, Vernunft, Elternmacht und -anmaßung, Rechnen, Psychologie und Skepsis verstanden.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 73

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