12 Februar 2016

Bernard: Das totale Archiv

Zur Funktion des Nicht-Wissens in der digitalen Kultur

"In den letzten fünfzehn Jahren, die für die Verfügbarkeit und Zuordnung von Daten vermutlich größere Veränderungen erbracht haben als das halbe Jahrtausend zwischen Gutenberg und Google, wäre dieser Stoff kaum noch Remake-fähig: Die sozialen Netzwerke und Dating-Apps nötigen ihre Nutzer inzwischen zur Echtheit und Einheitlichkeit der Profile. Die bewährte Triebfeder der Filmhandlung ist also blockiert – und es ist vor diesem Hintergrund konsequent, dass der größte Komödienerfolg der letzten Jahre, die Hangover-Trilogie, mit einem Total-Blackout der Helden nach durchzechter Nacht beginnen muss. Wenn das Web 2.0 die Wissenslücken im alltäglichen Handeln der Figuren stopft, bleiben nur noch Alkohol und Drogen, um die unerlässlichen Amnesien herbeizuführen, die Verwicklungskomödien am Laufen halten." (Bernard: Das totale Archiv pdf, S.6)

So bemerkenswert die Entwicklung der Zuordnung von Daten ist, so ungenau sind Bernards Überlegungen an diesem Punkt. So wie Hippias sich über die Identität seines Sklaven Agathon völlig im Unklaren sein kann, so kann heute durch Identitätsdiebstahl ein Wissen vorgetäuscht werden, das weit intensivere Täuschungen als kurzfristige Verwechslungen ermöglicht.

"die Freilegung einer »Ordnung des Diskurses« hat sich auch um das Negativ dieser Ordnung zu kümmern, um das herausgefallene, ausgesonderte, als veraltet, verfehlt, gefährlich oder noch unausgegoren geltende Wissen." (S.11)

"Die »Geltung der Normen« in einem Staat, schreibt Popitz, sei daran gebunden, dass nicht jede einzelne Übertretung aufgedeckt und bestraft werde; dies sei weder in einem verwaltungspraktischen Sinne möglich, weil die »Sanktionsorganisation« überfordert wäre, noch in einem moralischen, weil die Masse der Delinquenten eine allgemeine »Abstumpfung der Sanktionsbereitschaft« herbeiführe und die gesellschaftlichen Normen ihre »Schutzfunktion« verlieren würden. Von diesem Argument leitet Popitz die eminente Notwendigkeit der »Dunkelziff er« für das Funktionieren eines Gesellschaftssystems ab, die dem »Starren« und »Überfordernden« der Norm, wie er schreibt, »Entlastung … durch die Begrenzung der Verhaltensinformation« schaffe." (S.12)

"Der Algorithmus ist eine Autorität, aber ihr Kalkül, ihre Regierungsweise bleibt im Dunkeln. Für große Teile der Internetgemeinschaft, der indiff erent-konsumistischen wie der politisch aktiven, ist die Welt des Digitalen weiterhin ein Raum der Transparenz, der Partizipation, der Freiheit – also modernste Ausprägung der Errungenschaften der Moderne. Wer das Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen, das dieser Raum produziert, aber genauer untersucht, könnte auch zu dem Ergebnis kommen, dass genau jene 250 Jahre alten Elemente einer bürgerlichen Öff entlichkeit angesichts der Funktionsweisen digitaler Kultur auf die Probe gestellt sind." (S.16)

"Die Analyse des Nicht-Wissens hat daher keineswegs, wie es vielleicht bei einem ersten Blick auf diese Kategorie scheinen mag, einen Beigeschmack von Irrationalismus, sondern kann im Gegenteil einen Beitrag zur Analyse von Machtstrukturen im digitalen Zeitalter liefern. Wie Alexander Galloway sagt: »The point of unrepresentability is the point of power. And the point of power today is not the image. The point of power today resides in networks, computers, information, and data.«" (S.17)

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