28 Februar 2016

Wieland erläutert, weshalb Vernunft und Tugend seinem Helden nicht weitergeholfen haben

und wartet im Übrigen ab, bis ihm Agathon die Mühe des Erzählens abnehmen wird:

Unsere Leser werden, wenn sie diese Geschichte mit etwas weniger Flüchtigkeit als einen Französischen Roman du jour zu lesen würdigen, bemerkt haben, daß die Wiederherstellung unsers Helden aus einem Zustande, in welchem er diesen Namen allerdings nicht verdient hat, eigentlich weder seiner Vernunft [661] noch seiner Liebe zur Tugend zu zuschreiben sei; so angenehm es uns auch gewesen wäre, der einen oder der andern die Ehre einer so schönen Cur allein zu zuwenden. Mit aller der aufrichtigen Hochachtung, welche wir für beide hegen, müssen wir gestehen, daß wenn es auf sie allein angekommen wäre, Agathon noch lange in den Fesseln der schönen Danae hätte liegen können; ja wir haben Ursache zu glauben, daß die erste gefällig genug gewesen wäre, durch tausend schöne Vorspiegelungen und Schlüsse die andre nach und nach gänzlich einzuschläfern, oder vielleicht gar zu einem gütlichen Vergleich mit der Wollust, ihrer natürlichen und gefährlichsten Feindin, zu bewegen. Wir leugnen hiemit nicht, daß sie das ihrige zur Befreiung unsers Freundes beigetragen; indessen ist doch gewiß, daß Eifersucht und beleidigte Eigenliebe das meiste getan haben, und daß also, ohne die wohltätigen Einflüsse zwoer so verschreiter Leidenschaften, der ehmals so weise, so tugendhafte Agathon ein glorreich angefangenes Leben, allem Anscheinen nach, zu Smyrna unter den Rosen der Venus unrühmlich hinweggescherzet haben würde.
Wir wollen durch diese Bemerkung dem großen Haufen der Moralisten eben nicht zugemutet haben, gewisse Vorurteile fahren zu lassen, welche sie von ihren Vorgängern, und diese, wenn wir um einige Jahrhunderte bis zur Quelle hinaufsteigen wollen, von den Mönchen und Einsamen, womit die Morgenländer von jeher unter allen Religionen angefüllt gewesen sind, durch eine den Progressen der gesunden Vernunft nicht sehr günstige Überlieferung geerbt zu haben scheinen. [...]  da wir nunmehr, allem Ansehen nach, unsern Helden aus der größesten der Gefahren, worin seine Tugend jemals geschwebt hat, oder künftig geraten mag, glücklich herausgeführt haben, einige Betrachtungen darüber anzustellen – – doch nein; wir bedenken uns besser – – was für Betrachtungen könnten wir anstellen, daß nicht diejenige welche Agathon selbst, sobald er Muße dazu hatte, über sein Abenteur machte, um soviel natürlicher und interessanter sein sollten, als er sich würklich in dem Falle befand, worein wir uns erst durch Hülfe der Einbildungs-Kraft setzen müßten, und die Gedanken sich ihm freiwillig darboten, ja wohl wider Willen aufdrangen, welche wir erst aufsuchen müßten. Wir wollen also warten, bis er sich in der ruhigern Gemütsverfassung befinden wird, worin die sich selbst wiedergegebene Seele aufgelegt ist, das Vergangene mit prüfendem Auge zu übersehen. [...]
Wieland: Die Geschichte Agathons, 2.Teil, 8. Buch, 4.Kapitel

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