22 Februar 2016

Hippias kommt zu den Liebenden (Wieland: Agathon)

Wahre Liebe (wie man längst beobachtet hat) ist eben so sorgfältig ihre Glückseligkeit zu verbergen, als jene frostige Liebe, welche Coquetterie oder Langeweile zur Mutter hat, begierig ist, ihre Siege auszuposaunen. Allein dieses war weder die einzige noch die vornehmste Ursache einer Zurückhaltung, welche unsre Liebenden, aller angewandten Mühe ungeachtet, einem so scharfsichtigen Beobachter nicht entziehen konnten. Das Bewußtsein der Verwandlung, welche sie erlitten hatten; die Furcht vor dem komischen Ansehen, welches sie ihnen in den Augen des Sophisten geben möchte; die Furcht von einem Spott, [...] 
Danae weit davon entfernt, sich durch die Kunstgriffe des Sophisten ein Blendwerk vormachen zu lassen. Sie kannte ihn zu gut, um nicht in seiner Seele zu lesen; sie sah wohl, daß es zu einer Erörterung mit ihm kommen müsse, und war nur darüber unruhig, wie sie sich entschuldigen wollte, daß sie, über der Bemühung den Charakter des Agathons umzubilden, ihren eignen oder doch einen guten Teil davon verloren hatte. [...] 
Alcibiades selbst im Frühling seiner Jahre und Reizungen war nicht liebenswürdiger als derjenige, den du mir für ein komisches Mittelding von einem Phantasten und von einer Bildsäule gegeben hast. Wenn eine Verschiedenheit zwischen Agathon und den Besten ist, für welche ich ehmals aus Dankbarkeit, Geschmack oder Laune, Gefälligkeiten gehabt habe, so ist sie gänzlich zu seinem Vorteil; so ist es, daß er edler, aufrichtiger, zärtlicher ist, daß er mich liebet, da jene nur sich selbst in mir liebten; daß ihn mein Vergnügen glücklicher macht als sein eignes; [...] 
[Hippias:] Bekenne, Danae -" "Ja", (fiel sie ihm lebhaft ein) "ich bekenne, daß ich liebe wie ich nie geliebt habe; daß alles was ich sonst Glückseligkeit nannte, kaum den Namen des Daseins verdient hat; ich bekenne es, Hippias, und bin stolz darauf, daß ich fähig wäre, alles was ich besitze, alle Ergötzlichkeiten von Smirna, alle Ansprüche an Beifall, alle Befriedigungen der Eitelkeit, und eine ganze Welt voll Liebhaber wie eine Nußschale hinzuwerfen, um mit Callias in einer mit Stroh bedeckten Hütte zu leben, und mit diesen Händen, welche nicht zu weiß und zärtlich dazu sein sollten, die Milch zuzubereiten, die ihm, vom Felde wiederkommend, weil ich sie ihm reichte, lieblicher schmecken würde, als Nektar aus den Händen der Liebesgöttin." [...] 
Agathon hatte nun nichts dringenders als von Danae zu erfahren, was der Gegenstand ihrer einzelnen Unterredung mit dem Hippias gewesen sei. Man wird es dieser Dame zu gut halten können, daß sie die Aufrichtigkeit ihres Berichts nicht so weit trieb, ihm das Complot einzugestehen, worein sie sich von dem Sophisten anfangs hatte ziehen lassen; und dessen Ausgang so weit von der Anlage des ersten Plans entfernt gewesen war. Die zärtlichste und vertrauteste Liebe verhindert nicht, daß man sich nicht kleine Geheimnisse vorbehalten sollte, bei deren Entdeckung die Eigenliebe ihre Rechnung nicht finden würde. [...] 
Hippias hatte nichts vergessen, was die Pracht seines Fests vermehren konnte; und nach demjenigen, was im zweiten Buch von den Grundsätzen, der Lebensart und den Reichtümern dieses Mannes gemeldet worden, können unsre Leser sich so viel davon einbilden als sie wollen, ohne zu besorgen, daß wir sie durch überflüssige Beschreibungen von den wichtigern Gegenständen, die wir vor uns haben, aufhalten würden. [...]  
"Ich bin erfreut, Callias" (sagte er zu ihm [Agathon]) "daß du, wie ich sehe, einer von den Unsrigen worden bist. Du rechtfertigest die gute Meinung vollkommen, die ich beim ersten Anblick von dir faßte; ich sagte immer, daß einer so feurigen Seele wie die deinige, nur wirkliche Gegenstände mangelten, um ohne Mühe von den Schimären zurückzukommen, woran du vor einigen Wochen noch so stark zu hängen schienest." Zum Glück für den guten Agathon rettete ihn die Darzwischenkunft einiger Personen von der Gesellschaft, mitten in der Antwort, die er zu stottern angefangen hatte; aber aus der Unruhe, welche diese wenige Worte des Sophisten in sein Gemüt geworfen hatten, konnte ihn nichts retten. [...] 
[Agathon erschrickt über sich selbst:]
Endlich faßte er sich doch so weit, daß er seinem beklemmten Herzen durch dieses oft abgebrochene Selbstgespräch Luft machen konnte: "Wie?—'Ich bin erfreut, daß du einer von den Unsrigen geworden?'—Ists möglich? Einer von den Seinigen?—Dem Hippias ähnlich?—Ihm, dessen Grundsätze, dessen Leben, dessen vermeinte Weisheit mir vor kurzem noch so viel Abscheu einflößten?—Und die Verwandlung ist so groß, daß sie ihm keinen Zweifel übrig läßt? [...] es ist mehr als zu gewiß, daß ich nicht mehr ich selbst bin!—Wie? sind mir nicht alle Gegenstände dieses Hauses, von denen meine Seele sich ehmals mit Ekel und Grauen wegwandte, gleichgültig oder gar angenehm worden? [...] 
wo bin ich? An was für einem jähen Abhang find ich mich selbst—welch einen Abgrund unter mir—O Danae, Danae!—"hier hielt er inn, um den trostvollen Einflüssen Raum zu lassen, welche dieser Name und die zauberischen Bilder, so er mit sich brachte, über seine sich selbst quälende Seele ausbreiteten. Mit einem schleunigen übergang von Schwermut zu Entzückung, durchflog sie itzt alle diese Szenen von Liebe und Glückseligkeit, welche ihr die letztverfloßnen Tage zu Augenblicken gemacht hatten; und von diesen Erinnerungen mit einer innigen Wollust durchströmt, konnte sie oder wollte sie vielmehr den Gedanken nicht ertragen, daß sie in einem so beneidenswürdigen Zustand unter sich selbst heruntergesunken sein könne. "Göttliche Danae", rief der arme Kranke in einem verdoppelten Anstoß des wiederkehrenden Taumels aus; "wie? Kann es ein Verbrechen sein, das Vollkommenste unter allen Geschöpfen zu lieben? Ist es ein Verbrechen glücklich zu sein?"—
(Wieland: Agathon)

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