01 Februar 2016

Christoph Martin Wieland: Nadir und Nadine

Nadir und Nadine

"Zwischen unersteiglichen Felsen, die sich nur auf einer Seite auftun, wo das Meer einen kleinen Busen in das Land hinein macht, zieht sich ein langes, fruchtbares, der Welt unbekanntes Tal, das die Einwohner in ihrer Sprache «die ruhige Aue» nennen. Es wird seit undenklichen Zeiten von einer gutherzigen Art von Hirten bewohnt, die so glücklich sind, keinen andern Gesetzgeber zu kennen als die Natur. Sie haben kein gemeinschaftliches Oberhaupt, weil sie keinen Anführer gegen ihre Feinde und keinen Richter nötig haben, der ihre Händel entscheide oder ihre Verbrechen bestrafe; denn sie haben keinen Feind, fangen keine Händel an und begehen keine Verbrechen: sie sind alle gleich und leben zusammen wie gutartige Geschwister. Ihre Herden geben ihnen Nahrung und Kleidung, sie sind ihr vornehmster Reichtum; und wiewohl jede Familie ihre eigene hat, so werden sie doch von den benachbarten Bergen, die bis auf einen gewissen Grad von Höhe fruchtbar sind, so reichlich mit Weide und Futter versehen, daß nie kein Streit deswegen unter ihnen entstehen kann.
Diese guten Leute stehen, man weiß nicht warum, unter dem Schutze eines Zauberers, der in ihrer Nachbarschaft auf einem hohen Felsen wohnt und dem sie es zuschreiben, daß ihre Täler vor allen Arten von Raubtieren und ihre Herden vor ansteckenden Krankheiten gesichert sind. Indessen muß man gestehen, daß er sie diesen Schutz teuer genug bezahlen läßt, denn alle vier Jahre müssen ihm, vermöge eines Rechtes oder Herkommens, dessen Ursprung und Gültigkeit niemals untersucht worden ist, alle junge Mädchen von vierzehn Jahren vorgeführt werden; er nimmt sie in Augenschein, wählt sich aus, welche ihm am besten gefällt, und fährt sie in seinem Wagen davon, ohne daß man weiter etwas von ihr zu hören bekommt. Weil nun im Tale der Ruhe alle Eltern ihre Kinder sehr zärtlich lieben und jedes Mädchen von vierzehn Jahren, unter den Knaben von sechzehn oder siebzehn, irgendeinen guten Freund hat, der im Notfall seine beiden Augen um sie gäbe, so ist dieser Tribut den guten Hirten überaus lästig; und die Angst, in der sie alle vier Jahre leben, wenn die Zeit des Besuchs von ihrem Beschützer herannahet, verbittert das Glück, dessen sie sonst genössen, nicht wenig. Indessen, da sie es nicht ändern können, begnügen sie sich, darüber zu seufzen, und suchen sich mit dem Gedanken zu trösten, daß der Zauberer noch immer gütig genug sei, sich alle vier Jahre an einem Mädchen zu begnügen; denn, sagen sie, was wollten wir machen, wenn er ihrer zwei oder drei mit sich nähme? Er würde es immer so anzugehen wissen, daß er am Ende recht behielte."

Unter den Mädchen, die das nächste Mal dem Zauberer zugeführt werden, ist Nadine. Nadir, der sie unendlich liebt, muss erleben, dass der Zauberer sie entführt, und versucht sie zu retten.
Er braucht keine Heldentaten und Guttaten zu vollbringen, um die Hilfe zweier mächtiger Zauberer zu gewinnen. Er erhält einen Ring, der über alle Macht von Zauberern hinaus geht, und die Geschichte geht gut aus.
Man kann die Erzählung nachlesen oder sich überlegen, welche Eigenschaften der Ring haben muss, was Nadir tun muss und wer ihm vielleicht helfen könnte, damit die Erzählung gut ausgeht und sie dennoch weder langweilig noch sehr kurz zu sein braucht. 

Welche Motive Wieland in seiner Märchensammlung Dschinnistan einsetzt, zu der auch "Nadir und Nadine" gehört, kann man hier nachlesen
Interessant ist auch die Wirkungsgeschichte der Märchensammlung, in der Mozart und Karl May eine Rolle spielen. 

Wie erklärt sich aber, dass Wieland "schon im 19. Jahrhundert unter den deutschen Klassikern der am wenigsten Gelesene" war? Und welcher Schriftsteller des 20. Jahrhunderts hat ihm wohl neue Leser zugeführt?

Wer eine Hilfe braucht: Er hat eine Schule der Atheisten geschrieben.

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