25 Juni 2018

Moltke: Unter dem Halbmond - Kurdenkrieg

43. Belagerung eines Kurdenschlosses
Sayd-Bey Kalessi, den 12. Mai 1838 
Die Expedition Mehmed-Paschas besteht aus drei Bataillonen des ersten und drei des zweiten Linien-Infanterieregiments. Das ganze Kommando war etwa 3000 Mann stark; es ist gegen einen kleinen Kurdenfürsten gerichtet, der schon seit fünf Jahren der Autorität der Pforte trotzt, gewaltsam Steuern eintreibt und viele Grausamkeiten verübt. [...]
Wir bezogen am linken Ufer ein Lager und die Anordnung desselben ist später stets beibehalten worden. Einen unerfreulichen Eindruck machen die Posten, die alle 20 oder 40 Schritt Front gegen das Lager stehen und die ganze Nacht jede Minute »Hasir-ol!« – »Sei bereit!« – rufen. Dessen ungeachtet entfernen sich viele der mit Gewalt rekrutierten Kurden. [...]
So weit es mit einer Arschine, einer Lanze und einer Wasserwaage geschehen kann, habe ich die Höhe gemessen und habe gefunden, dass die Spitze des großen Turms 1363 Fuß über dem Zelt des Paschas in der Wiese liegt. Hinter den Kulissen sieht man anders als vom Balkon. Dies Schloss ist stark durch seine Lage, aber schwach durch seine bauliche Ausführung; es kann auf keine Weise mit den soliden, prächtigen Bauten der Genueser verglichen werden, die Mauern sind dünn, gewölbt war nur das Kornmagazin, eine der Zisternen und die obere Etage des Turms, welcher Sayd-Beys Gemach enthielt. Der Baumeister hatte sich nie träumen lassen, dass Kugeln von den Klippen westlich des Schlosses herkommen würden und hatte die Eingangstür dieses Gemachs dorthin gekehrt. Nun kam aber wirklich eine 3-Okalik-Kugel von jenem Adlerhorst, zerschmetterte den Schlussstein des Gewölbes über der Tür und fuhr in den Spiegel über des Beys Ruhebett. Eine Bombe war in die oben offene Zisterne gefallen, war dort geplatzt und hatte das Wasser untrinkbar gemacht. Unser schwaches Kaliber hatte die Mauer stark genug beschädigt, was nur bei der schlechten Beschaffenheit derselben möglich war. Die Gegenwart eines fränkischen Offiziers hatte übrigens dem Bey ein übles Vorgefühl gegeben; meine unschuldigen Messgeräte, welche er auf allen Höhen, bald vor, bald hinter dem Schloss erblickte, schienen ihm eine Art Zauber, welcher ihn umstrickte, und er würdigte sie einer lebhaften Füsilade. Wir haben diese Details gestern von Sayd-Bey selbst erfahren. Im Schloss fand man sehr reichliche Vorräte an Korn, Gerste, Schlachtvieh und Pferden; Wasser war genügend vorhanden, aber von schlechter Qualität. Es herrschte eine Unreinlichkeit, die der Besatzung verderblich werden musste; der Hof lag überdeckt mit Resten von Lebensmitteln, Lumpen und Tiergerippen, und die Luft war von Gestank erfüllt. Unter dem Tor trat mir ein Kurde entgegen, der seinen verwundeten Bruder trug; der arme Mensch war durchs Bein geschossen und er erzählte mit Tränen in den Augen, dass er sich nun schon den siebenten Tag hinquäle. Ich ließ den Feldscher kommen: »Es ist ja ein Kurde«, sagte dieser zu wiederholten Malen mit stets gesteigerter Stimme, wie man jemandem sagt: »Begreifst du nicht, dass du Unsinn forderst?« [...]
Einer unserer Artilleristen ist schon vor acht Tagen überfahren worden; noch heute weiß niemand, ob das Bein gebrochen, verrenkt oder nur gequetscht ist; der Mensch liegt ganz hilflos in seinem Zelt. Diesen Zustand des Wundarzneiwesens, hoffe ich, wird Hafiz-Pascha beim Seraskier zur Sprache bringen; hier oder nirgends können Franken helfen. Beim Arzt steht auch noch die Sprache im Weg, aber der Wundarzt sieht und hat wenig zu fragen.  [...]

44. Die Berge von Kurdistan 
Sayd-Bey-Kalessi, den 18. Mai 1838 
Sobald man den Tigris überschreitet, erhebt sich ein köstliches Hügelland und steigt allmählich zum hohen Gebirge an, das noch heute mit Schnee bedeckt ist. [...]

Die Kurden
Der Kurde ist fast in allen Stücken das Gegenteil von seinem Nachbarn, dem Araber. Die Araber üben nur die Gewalt, wo sie eben die Stärkeren sind; sie fürchten das Schießgewehr und suchen auf ihren trefflichen Pferden das Weite; sie verschmähen den Ackerbau und die Städte, das Kamel ersetzt ihnen alles und befähigt sie ein Land zu bewohnen, in dem niemand sonst leben kann. Der Kurde hingegen ist Ackerbauer aus Bedürfnis und Krieger aus Neigung; daher die Dörfer und Felder in der Ebene und die Burgen und Schlösser im Gebirge; er kämpft zu Fuß, Mauern und Berge sind sein Schutz und das Gewehr seine Waffe. Der Kurde ist ein vortrefflicher Schütze, das reich ausgelegte damaszierte Gewehr vererbt sich vom Vater auf den Sohn und er kennt es wie seinen ältesten Jugendgefährten. Der Religion nach sind die meisten Kurden dieser Gegend Mohammedaner, nach der persischen Grenze zu aber wohnen viele jakobitische Christen. Es ist der Pforte nie gelungen, in diesen Bergen alle erbliche Familiengewalt so zu Boden zu werfen wie in den übrigen Teilen ihres Reiches.
Die Kurdenfürsten üben eine große Macht über ihre Untertanen; sie befehden sich untereinander, trotzen der Autorität der Pforte, verweigern die Steuern, gestatten keine Truppenaushebung und suchen ihre letzte Zuflucht in den Schlössern, welche sie sich im hohen Gebirge erbaut. Die Expedition Mehmed-Paschas ist glücklich gewesen; fünf Tage nach Eintreffen des Geschützes war der Platz zur Übergabe gezwungen, der Gesundheitszustand der Truppen ist vortrefflich, der Verwundeten sind nur wenige, fast nur unter den verbündeten Kurden, und diese werden nicht gezählt. An der Eroberung einer kleinen Gebirgsfestung, die ohnehin jetzt ein Schutthaufen ist, kann freilich dem Padischah wenig gelegen sein, sie war aber einer der Zentralpunkte des Widerstandes gegen die Pforte.


45. Zug gegen die Kurden

Karsann-Dagh, den 4. Juni 1838
Der Widerstand der Kurden war mit dem Fall Sayds nicht so allgemein beseitigt, wie wir gehofft hatten;[...]
Das Schlimmste ist, wie soll man einen Volkskrieg im Gebirge ohne jene Scheußlichkeiten führen? Unsere Verluste sind nicht unbedeutend. Mehmed-Bey und Mehmed-Pascha traf ich beim Sturm in der vordersten Reihe der Tirailleuren; Letzterem wurde das Pferd erschossen. Den folgenden Tag war Ruhe, dann ging es weiter in die Berge, wo eine unglaubliche Menge Gefangener aller Art eingetrieben worden sind; ich konnte diesem Zug nicht mehr folgen, nur mit meinen letzten Kräften und unter Eskorte des Paschas kam ich hierher in das Lager, welches außerhalb der Berge zurückgelassen ist und wo ich vier Tage recht elend krank gewesen bin. Der Krieg ist aber zu Ende und alles bittet um Gnade. Seitdem ich mit den türkischen Truppen diese freilich unbedeutende Kampagne mitgemacht habe, habe ich einiges Vertrauen gewonnen; wenn sie nur alle so sind wie diese zwei Regimenter. Die Leute gingen prächtig ins Feuer; der Fatalismus in ungeschwächter Kraft und Beutelust sind freilich bei dieser Gelegenheit mächtige Hebel für ihren Mut, denn ihre Gegner sind wohlhabend. Unsere Ausrüstung ist schlecht, aber der Himmel ist milde; den schwierigen Marsch hierher über steinige Gebirgspfade und durch zahllose Bäche und Flüsse machte unsere Brigade barfuß, die elenden Schuhe in der Hand; zum Gefecht wickelt sich der Soldat seine ganze Toilette samt dem Mantel als Gurt um die Hüften, was gar nicht übel ist. Die Gewehre sind schlecht und machen wenig Anspruch auf Treffen; auch zielen die Leute gar nicht. Während man das Dorf stürmte, bemerkte ich einen Tschausch, der mit abgewandtem Gesicht in Gottes blaue Luft hineinfeuerte. » Arkardasch – Kamerad«, sagte ich, »wohin hast du denn eigentlich geschossen?« » Sarar-jok Babam – es schadet nichts, Väterchen –, inschallah vurdu! – Will's Gott, so hat's getroffen«, antwortete er und feuerte rasch noch eins in dieselbe Richtung. Es ist aber auch wahr, dass wir die meisten Verwundeten von unseren eigenen Kugeln hatten, die immer von hinten über uns wegpfiffen.  [...]

46. Türkische Steuererhebung und Konskription – Kurdenkrieg 
Lager zu Karsann-Dagh (in Kurdistan), den 15. Juni 1838 
Ich habe mir Mühe gegeben mich über den Zustand dieses Landes zu unterrichten, das erst seit drei Jahren wieder der türkischen Herrschaft unterworfen ist. Die Kurden klagen über zwei Dinge, über die Besteuerung und die Truppenaushebungen. Die Kurden zahlten früher gar keine Steuern, aber fortwährende Fehden zertraten ihre Saatfelder, zerstörten ihre Dörfer und niemand fand Schutz gegen einen Mächtigen, außer in seiner eigenen Gegenwehr. [...]
Der Pascha hatte nicht gewollt, dass wir diesen Zug mitmachten, und ich gestehe dir, dass es mir ganz recht war. Um diesen Krieg brauchst du uns nicht zu beneiden, er ist voller Scheußlichkeiten. Nebst mehreren tausend Stück Vieh kamen etwa 600 Gefangene an; die Hälfte besteht aus Weibern mit kleinen Kindern: Ein Junge von sechs bis sieben Jahren hatte Schusswunden und die Kugel, die hier neben mir liegt, haben wir ihm herausgezogen, er wird aber wahrscheinlich durchkommen. Auch Frauen sind verwundet, dass es aber Kinder mit Bajonettstichen gibt, wirft ein trauriges Licht auf die ganze Handlung. Gestern Abend um 5 Uhr hatten die Unglücklichen, von Angst und durch den langen Marsch erschöpft, noch keine Krume Brot erhalten; nur mit Mühe schafften wir für die Soldaten selbst das nötige Mehl herbei und nun kommt unerwartet Zuwachs von mehreren hundert  Zuwachs von mehreren hundert Hungrigen, gerade als wir noch einen neuen Transport erwarteten. Ich brachte gestern den ganzen Tscharsi oder Markt an mich, aber was war da zu holen! Sechzig Ocka Rosinen und etwas Käse. Mehl haben die Leute in den Dörfern selbst nicht, denn unsere Pferde und Maulesel haben ihren schönen Weizen aufgezehrt; heute war ich so glücklich, einen Viertelzentner Reis aufzutreiben, von dem ich einen kolossalen Pillaw bereiten ließ. Kinder und Weiber stürzten darüber her, die Männer aßen Baumblätter; glücklicherweise ist heute Mehl angekommen, auch gestern spät hat man noch ein wenig Brot aufgetrieben; die Verpflegung ist jetzt regelmäßig.
Unter solchen Umständen machen einzelne hübsche Züge doppelte Freude. Ein Soldat des zweiten Regiments fand ein Kind von drei oder vier Tagen hinter einem Stein; während die anderen sich mit Beute beladen, trägt er das Würmchen wie eine Amme den weiten halsbrecherischen Weg hierher. Hier angekommen, findet sich, dass das kleine Wesen weder Vater noch Mutter mehr hat; der arme Mensch wusste gar nicht, wie er seinen Fund wieder loswerden sollte; eine Frau nahm sich endlich des Säuglings an und der Soldat ging auch nicht unbelohnt davon.
Man kann über dieses Unglück Hafiz-Pascha keinen Vorwurf machen; nach den Gräueln in Papur hat er nur zu lange gezaudert, weil man ihm Unterwerfung versprach und ihn täuschte. Endlich musste denn doch Gewalt gebraucht werden; und wo man solche Diener hat wie die Baschi-Bosuks, da kann man sich denken, dass viel Böses geschieht, dem kein Einhalt zu tun ist. Wie soll auch überhaupt ein Krieg mit Milde geführt werden, wo Felsen und Dörfer erstürmt werden müssen, auf die sich Weiber und Kinder mit ihrer Habe geflüchtet haben? Da ist solch Unglück unvermeidlich. Wir werden jetzt in wenigen Tagen hier aufbrechen, so viel ich weiß, nach Malatia.


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