06 Juni 2018

Helmuth von Moltke: Unter dem Halbmond

Briefe H. v. Moltkes aus der Türkei nach Deutschland

Konstantinopel 24.12.1835
[...] Du weißt, dass meine Absicht war, nur etwa drei Wochen in Konstantinopel zu verweilen und dann über Athen und Neapel zurückzukehren. Nun hat aber der Seraskier mich durch die Gesandtschaft förmlich auffordern lassen die Abreise zu verschieben, was meinen ganzen Reiseplan ändert. Ich muss meinen Gefährten, den Baron Bergh, allein ziehen lassen, was mir in jeder Beziehung äußerst leid ist.

Konstantinopel, den 4. Januar 1836
Ich schrieb dir in meinem letzten Brief, dass mein Aufenthalt sich hier unerwartet verlängert. Der Seraskier lässt mich jede Woche ein paarmal rufen; da die Türken aber jetzt den Ramadan feiern, wo alle Geschäfte des Tages über ruhen, so finden die Besuche des Nachts statt. Das zehnrudrige Kaik des Seraskiers erwartet mich zu Galata und am jenseitigen Ufer des Hafens finde ich seine Pferde. Ebenso geht es zurück. Voraus schreitet ein Kawass oder Polizeisoldat, der mit seinem langen Stock unbarmherzig auf alles losschlägt, was nicht aus dem Wege geht. Dann folgt der Imrohor oder Stallmeister des Paschas und zwei Fackelträger zu Fuß; dann ich auf einem schönen türkischen Hengst mit Tigerdecken und goldenen Zügeln, begleitet vom Dolmetscher. [...]

Konstantinopel, den 20. Januar 1836
Mehmed Chosref Pascha ist nächst dem Großherrn der mächtigste Mann im Reich. In seiner Erscheinung hat er wohl kaum seinesgleichen in der Welt. Stelle dir einen Greis von nahezu achtzig Jahren vor, der die ganze Lebendigkeit, Rührigkeit und Laune eines Jünglings bewahrt hat. Das stark rote Gesicht mit schneeweißem Bart, eine große gebogene Nase und auffallend kleine, aber blitzende Augen bilden eine markante Physiognomie, die durch die rote, über die Ohren herabgezogene Mütze nicht verschönert wird. Der große Kopf sitzt auf einem kleinen, breiten Körper mit kurzen, krummen Beinen. Der Anzug dieses Generals besteht aus einer blauen Bluse ohne alle Abzeichen, weiten Pantalons und ledernen Strümpfen (Terlik). Chosref Pascha hat sich während fünfunddreißig Jahren in den höchsten Staatsämtern zu erhalten gewusst, was seiner Gewandtheit alle Ehre macht. Der Seraskier redet fast nur in scherzhaftem Ton, aber die Mächtigen zittern bei seinem Lächeln. Er weiß alles, was in der Hauptstadt vorgeht, hat seine Kundschafter überall und kennt keine Schonung gegen solche, die sich der neuen Ordnung der Dinge widersetzen. Chosref Pascha war der Erste, welcher dem Großherrn eine europäisch ausexerzierte Truppe vorstellte, und der Erste unter den Großen, welcher die schöne alttürkische Tracht gegen die geschmacklose und unbequeme Nachbildung europäischer Uniform vertauschte; er gilt daher für einen Hauptbeförderer der Reform. Mir kommt es jedoch manchmal vor, als ob der Seraskier Mehmed Chosref die Reform in seinem geheimsten Innern mit der tiefsten Ironie behandle; aber sie ist ihm das Mittel zur Macht und Macht ist die einzige wahre, ungebändigte Leidenschaft dieses Greises. Wer ihm in dieser Beziehung entgegentritt, sei auf seiner Hut. Jemand, der eine hohe Stellung bekleidet, ohne sie durch ihn erlangt zu haben, gilt ihm schon für einen Feind.

Wikipedia: Nizip
[...] In Nizip fand am 24. Juni 1839 eine Schlacht zwischen dem Osmanischen Reich unter Sultan Mahmud II. und Ägypten, das sich unter Muhammad Ali Pascha, dem Khediven, vom Osmanischen Reich gelöst hatte, statt. Die ägyptischen Truppen, die in den Jahren vorher Palästina und Syrien erobert hatten, standen unter dem Befehl von Ibrahim Pascha, dem Sohn Muhammad Alis, und siegten über die osmanischen Truppen unter Hafiz Pascha. An der Schlacht nahm auch Helmuth von Moltke, der spätere deutsche Generalfeldmarschall, als preußischer Militärberater der osmanischen Armee teil.
Die Eindrücke seiner Jahre im Osmanischen Reich hat Moltke in seinem Werk "Unter dem Halbmond. Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839" aufgezeichnet. Über die Schlacht und ihre Vorgeschichte hat er besonders ausführlich berichtet.[2]"

Moltke: Unter dem Halbmond:
Die Schlacht bei Nisib Asbusu bei Malatia, den 12. Juni 1839

Du bist sehr lange ohne direkte Nachricht von mir geblieben, weil in der letzten Zeit die Ereignisse sich so drängten, dass kein Augenblick zum Schreiben blieb. Jetzt sitze ich wieder in meinem schattigen Quartier auf der Brücke unter dem Corneliuskirschbaum in Asbusu; aber manches hat sich geändert, seit ich diesen Ort verließ. Zu unserem festen Lager zu Biradschik standen wir so unbeweglich den ganzen Monat Juni still, dass die Schwalben anfingen sich Nester an meinen Zeltstangen zu bauen und Zeit und Weile uns lang wurde. Ein furchtbares Ereignis unterbrach jedoch die Einförmigkeit, als am 29. Mai mittags unser Pulvermagazin mit mehr als 1000 Zentner fertiger Munition in die Luft flog; man hatte zur Unterbringung derselben ein Hann oder gewölbtes steinernes Gebäude am Ufer des Murad innerhalb unserer Stellung gewählt. Nur auf wiederholte Vorstellung war es mir gelungen, sechzig Mann Wache aus dem inneren Hof des vierseitigen Gebäudes zu entfernen, die dort kochten und rauchten; es ging aber später noch, wie bei allen türkischen Pulvermagazinen, so arg her, dass ich bei dem ersten Knall keinen Augenblick im Zweifel war, welches Unglück uns betroffen hatte. Mein Zelt stand etwa tausend Schritt weit auf einer Höhe, die Tür gegen das Hann gewendet, entfernt genug, um außer aller Gefahr zu sein, nahe genug, um das Schauspiel deutlich mit anzusehen. Sobald der erste heftige Knall meine Aufmerksamkeit erregte, sah ich eine Feuergarbe aus dem inneren Hof emporsteigen, wo man eben Kisten mit Infanteriemunition öffnete; unmittelbar darauf flog das Hann selbst auf. Eine dichte Rauchsäule erhob sich bis zu einer unglaublichen Höhe in die klare blaue Luft, aus ihr aber zuckten helle Blitze, und ein Regen von Gewölbsteinen und Kugeln rasselte herab; das Platzen mehrerer hunderter gefüllter Granaten in derselben Minute verursachte ein Getöse, das viele Stunden weit in den Bergen widerhallte. Nun musst du wissen, dass in einer Entfernung von 80 Schritt zu beiden Seiten des Hanns 200 geladene Munitions- und Granatwagen standen; eine Protze flog wirklich in die Luft, und doch wurde wunderbarerweise der ganze Rest des Fuhrwerks gerettet. Einer meiner Kameraden, der Hauptmann Laue, war in größter Gefahr gewesen; er arbeitete zur Zeit der Explosion nur einige hundert Schritt weit vom Magazin und wurde an drei Stellen leicht verwundet; dennoch war er der Erste, der mit Hilfe einiger Artilleristen eine bereits brennende Granatprotze wieder löschte. Als wir mit der Infanterie herbeikamen, wurden schnell alle Munitionswagen aus der Nähe des Vulkans fortgezogen; [...]

Angeregt, in diese Briefe Moltkes hineinzusehen, wurde ich durch

Olaf Jessen: Die Moltkes. Biographie einer Familie, 2010
Ich habe verschiedene Zweige des Moltkeschen Adelsgeschlecht und einige wichtige Vertreter seit etwa 1800 kennengelernt, bin mit dem Hauptmann Moltke in der Türkei gewesen und habe erlebt, wie er, der vorher bettelarme Offizier mit ersparten 10 000 Talern Anteile an einer neu zu bauenden Bahnlinie von Hamburg nach Preußen erwarb und später gut daran verdiente. Ich habe erfahren, dass Helmuth von Moltke aus Karrieregründen Dänemark verließ und so nicht in den schwierigen Solidaritätskonflikt zwischen dänischem König (und dem Amtseid) und Schleswig-Holsteinischem deutschen Nationalgefühl hineingezogen wurde. 
Moltkes Karriere vom Dänenkrieg bis zum legendären Sieg von Sedan habe ich eher kursorisch verfolgt und stehe jetzt bei seiner Erfahrung, einer der preußisch-deutschen Nationalhelden geworden zu sein (S.221).
Berührend, wie das "unartige", muntere Mädchen Mary nach der Verlobung mit dem angeheirateten, etwas 25 Jahre älteren Onkel ganz in der bürgerlich-adligen Frauenrolle aufgeht, emotionaler Rückhalt des verehrten Mannes zu sein, dass sie dann lange vor ihm stirbt und dass er ihr bis zu seinem Tode für diese ihre Rolle dankbar bleibt. - Kein Rollenmodell für unsere Zeit, aber offenbar eine Aufgabenteilung, die damals auch von Frauen als emotional stimmig erlebt werden konnte. (?)
 [Zu ihrer Fragwürdigkeit vgl. Stefan Zweig: "›Gut erzogen‹ galt damals bei einem jungen Mädchen für vollkommen identisch mit lebensfremd; und diese Lebensfremdheit ist den Frauen jener Zeit manchmal für ihr ganzes Leben geblieben." (Die Welt von Gestern)]

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