30 August 2018

Wilhelm Raabe: Die Kinder von Finkenrode - Kinderspiel und Cäcilie

"Der große Kastanienbaum in dem kleinen Garten vor dem Burgtor zu Finkenrode ist mit seinen Blüten geschmückt, wie ein Christbaum mit seinen Weihnachtskerzen. Alles Leben, welches den harten Winter hindurch in den braunen Knospenhülsen der Bäume und Gesträuche geschlummert hat, lugt keck und lustig hervor. Winzige geflügelte Wesen huschen durch die Luft und über den Boden hin; die Frösche hüpfen aus ihren Winterschlupfwinkeln, sonnen sich auf den Wegen und plumpsen bei jedem sich nahenden Schritt zurück in ihre Verstecke. Die Haselnußsträuche haben ihren gelben Blütenstaub liebend den roten Zäpfchen zugesandt – befruchtende Liebesgrüße! Drei Kinder kauern unter der großen Kastanie und haben die Köpfe so dicht als möglich zusammengesteckt. Ein schlafender Maikäfer liegt auf dem Rücken bewegungslos in der Hand des Knaben – belauscht von den sechs glänzenden Kinderaugen. »Er rührt sich!« sagt Käthchen Manegold. »Nun hauche ihn noch einmal an, Max!« ruft Cäcilie Willbrand. »Jetzt regt er sich! Sieh, er bewegt ein Bein!« »Er streckt die Fühlhörner aus – das ist der Anfang – Gebt acht, nun macht er sich auf!« jubelt der Knabe und erwärmt noch einmal das schlummernde Tierchen durch seinen warmen Atem. Cäcilie klatscht in die Hände: »Er ist aufgewacht! Er ist aufgewacht! Sieh, sieh!« [...]
Kindern ist alles Symbol, und alles – Blumen, Kiesel, Blätter, Grashalme, Insekten – wird ihnen zu Abbildern des Lebens, und im Spiel mit Blumen, Kieseln und Grashalmen zupfen sie an dem Schleier der Zukunft. [...]

Heiliger Gott, mit was für einem Satze war ich aus den Federn! Noch einmal schwang sich alles, was seit gestern abend in mir und um mich geschehen war, im tollen Wirbel in meinem Kopf herum: der Besuch in dem Häuslein vor dem Burgtor – die Schneenacht – der Punsch – das Erwachen vor zwei Stunden – der Besuch des Schauspielers – das letzte Traumspiel – Wie eine Katze, die man aus einem Dachfenster geworfen hat, gelangte ich schwindelnd, zerschlagen auf festen Boden, auf die Füße, physisch und psychisch. Beim Zeus, zwei Uhr! Das ist ein Vergnügen! Und so etwas konnte mir in Finkenrode passieren! Ist's nicht ein Seelen-Gaudium, in solchen Augenblicken Psychologie an sich selbst zu studieren, in solchen Augenblicken, wo man Sprünge macht, wie ein Frosch unter einer Luftpumpe? – Mühsam gelangte ich in die Kleider, kroch in den Ofenwinkel und hüllte meinen Mißmut in immer dichtere Tabakswolken. [...]
Es war wieder Abend geworden, als ich müde und matt aufs Geratewohl einen Folianten aus einer der Bücherreihen hervorzog, den Staub abblies und aufs Geratewohl ihn aufschlug. Viel kurioses Zeug wurde auf den vergelbten Blättern erzählt; bis tief in die Dämmerung hinein blätterte ich in dem alten Bande – »Es war aber derselbigen Göttin Venus Bild ein schönes Weib mit klaren lieblichen Augen. Ihr langes, gelbes Haar hing ihr bis an die Knie; auf ihrem Haubt trug sie einen Krantz von Myrthen mit rothen Rosen umbgeflochten und auf ihrem Hertzen eine brennend' Fackel mit hellen Strahlen. In ihrem lachenden Munde hielt sie eine beschlossene Rose und in ihrer rechten Hand die ganze Welt, eingetheilt in Himmel, Erden und Meer. Ihre Töchter aber, die Charites, die hatten einander lieblich in die Arme gefasset und hielten einander mit abgewandtem Gesicht Gaben zu – welches bedeut', daß die Liebe blind ist. Für den gülden Wagen, darauf sie stunden, gingen zween weiße Schwanen und zwo weiße Tauben. –« Um zehn Uhr lag ich wieder im Bett und träumte weiter von der Göttin Venus, und den Töchtern derselben, den Charitinnen, und von Cäcilie Willbrand, der schönen, stillen Jungfrau mit der sanften Stimme, in dem kleinen grünen Häuschen vor dem Burgtore von Finkenrode."
(Wilhelm Raabe: Die Kinder von Finkenrode Kapitel 11)

24 August 2018

Die Woche mit Frau Cresspahl: Über das Schicksal von Mrs. Ferwalter

„In Mauthausen wurde ich befreit“ (11. August 1968)

Kurz vor Gesine Cresspahls Abreise nach Prag wird das bislang nur angedeutete Schicksal ihrer Nachbarin Mrs. Ferwalter konkret. Ausgelöst wird die Erinnerung der Nachbarin, weil sie zu Maries Abschiedsgesellschaft „Passovergebäck“ mitbringen will und dessen Geschmack beschreibt – Marcel Proust lässt grüßen. „Wir haben es zuletzt zuhause gebacken im vierundvierziger Jahr.“ Mrs. Ferwalter stammt aus Transkarpatien, heute der westlichste Teil der Ukraine, mit dem Vertrag von Trianon kam das Gebiet 1920 zur Tschechoslowakei, nach deren Auflösung 1938 zu Ungarn. Zwischen April und Juni 1944 wurde die Bevölkerung aus diesem Gebiet deportiert, auch Mrs. Ferwalter, obwohl sie einen „katholischen Paß“ hat, „mit katholischer Religion“.
„Wir kamen nach Auschwitz. Ich war da acht Monate. Die meisten kamen gleich ins Krematorium. Viele von den Aufsehern laufen noch frei herum, und man staunt wo. So wie wir hier sprechen habe ich mit dem Mengele geredet.
Ich wurden selektiert ins Magazin als Einweiserin.“
Mit diesem „Vernichtungsvokabular“ (wie Alexandra Kleihues die kursiv gesetzten Begriffe nennt) beschreibt Mrs. Ferwalter ihr Leben in Auschwitz, das nur durch die Fürsprache der Geliebten der Leiterin des Frauenlagers „Frau Gräser“ gerettet wird. Denn als Mrs. Ferwalter einer Dreizehnjährigen Suppe bringt und von einer „Kapo“ verraten wird, sagt Gräser: „Sie werden jetzt erschossen. Rief einen Posten herbei.“ Gemeint ist vermutlich Irma Grese, die 1945 von einem britischen Gericht zum Tode verurteilte Aufseherin der Lager Ravensbrück, Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen, die als besonders brutal bekannt war. Mrs. Ferwalters Erinnerungen sind an die Zeugenaussage Magda Szabos vom 24. August 1964 im Frankfurter Auschwitzprozess angelehnt, die wie Mrs. Ferwalter in der Lagerküche arbeitete. [...]"

19 August 2018

Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Kapitel 30 (Schluss)

Emanuel Quint wird unter dem Verdacht, Ruth Heidebrand getötet zu haben verhaftet.
[...] Emanuel wurde in das Untersuchungsgefängnis, das sich in einem Ziegelrohbau, dem sogenannten Inquisitoriat, befand, eingeliefert, wo er gebadet und in eine Zelle allein gesteckt wurde. An mehreren folgenden Tagen ward er dem mit Untersuchung des Falles betrauten Richter vorgeführt, der aber nicht einmal das Unumgängliche über seinen Namen, Geburtsort und -tag aus ihm herausbrachte. »Wenn Sie nicht reden«, sagte der Richter zu ihm, »so kann das, falls Sie unschuldig sein sollten, höchstens zu Ihrem Schaden sein.« Hätte Emanuel auch nur einen Namen aus dem Kreis seiner Jünger genannt, so wäre ein Anhalt gegeben und die Untersuchung beschleunigt worden. Je genauer und je ausführlicher er seine Angaben gemacht haben würde, um so eher hätte man seine Unschuld an den Tag gebracht. Allein es schien beinahe, als ob er wünsche, unschuldig für schuldig erklärt zu sein.
Da Emanuel einen privaten Anwalt für seine Sache, ja überhaupt einen Anwalt nicht heranziehen wollte, hatte man ihm, wie es üblich ist, einen Verteidiger von Amts wegen zur Seite gestellt. Aber auch dieser Mann konnte aus Quinten nichts herausbringen. Zwar sagte er nicht, daß er schuldig wäre, aber ebensowenig irgend etwas, wodurch unzweideutig auf ein Bewußtsein von Unschuld zu schließen war.
Der Staatsanwalt glaubte an seine Schuld. Er hatte viele Zeugen verhört, und es war ihm gelungen, die seltsame Laufbahn Emanuel Quints wenigstens teilweise aufzulichten. Die Scharfs, die Hassenpflugs, der Agitator Kurowski, Bruder Nathanael Schwarz, der Müller Straube, die Pastoren Schimmelmann und Schuch standen bereits in seinen Akten, und er hatte, in einer erheblichen Anzahl von Protokollen, sehr viele wenig günstige Zeugnisse gegen Quint zusammengebracht.
Der Kern seiner Meinung über Quint hatte so ungefähr diese Gestalt gewonnen:
Der Delinquent hatte außerehelich das Licht der Welt erblickt. Der Vater wurde von seiner Mutter nicht genannt und blieb also unbekannt. Man weiß, wie die große Mehrzahl dieser nicht wohlgeborenen Kinder auf verschiedenen Wegen, besonders auf dem Wege des Verbrechens, zugrunde geht. Auch der Staatsanwalt wußte das. Mit Arbeitsscheu, alias Faulheit, war nun im Falle, der vorlag, wie so oft, der erste Schritt auf der Bahn des Verbrechens gemacht worden. Der Stiefvater Quints, der Bruder Quints, ja selbst die rechte Mutter des Menschen, diese unter einem nicht endenwollenden Tränenstrom, erbrachten dafür die Bestätigung.
Der Müßiggänger, der zu Hause nicht gerne sein mochte, weil er dort zur Arbeit angehalten zu werden fürchten mußte, fing zu vagabundieren an. Dies war ihm aber endlich ebenfalls unbequem, und er sagte sich, vielleicht durch schlechte Gesellschaft angeregt, daß er die gläubige Einfalt seiner Mitmenschen durch irgendeinen dreisten Schwindel sich nutzbar machen müsse. Dies gelang ihm über Erwarten, und er nistete sich in zynischer Weise bei den Brüdern Scharf als Schmarotzer ein. Mit systematischen Schwindeleien hatte er nun die leichtgläubigen Webersleute seinen Zwecken dienstbar gemacht, so daß er sie in ihrer Verblendung nach und nach, dem raffiniertesten Hochstapler gleich, um ihr ganzes Vermögen prellen konnte. Er wurde gefaßt und per Schub nach seiner Heimatsgemeinde zurückgebracht. Er hatte sich irgendwie den Beruf eines Heilkünstlers angemaßt, wie denn solche Leute und geborene Scharlatane, einmal entlarvt, um neue Mittel zu neuen Betrügereien niemals verlegen sind. Er ging noch weiter, er gab sich, in seinem Zynismus selbst vor dem Heiligsten nicht zurückweichend, für einen Wundertäter, für einen Apostel, ja für den wiedergekommenen Christus selber aus, womit er sich, obgleich im beschränkten Kreise, den größten Betrügern aller Zeiten anreihte. Da aber empörte sich der gesunde Sinn seines Heimatsorts, so daß er über einen Denkzettel, leider einen, der nicht durchgreifend war, zu quittieren hatte.
Jetzt nahm sich eine allgemein verehrte Dame in christlicher Liebe seiner an, und man suchte den Menschen, unverdienterweise, mittels der Langmut vieler ehrenwerter und geachteter Persönlichkeiten, in ein bescheidenes und geordnetes Dasein zurückzuleiten. Man umgab ihn in Miltzsch und Umgebung mit vieler, zwecklos vergeudeter Liebesmüh'. War doch die Gesinnung des entschlossenen Parvenüs – was er in jenen Tagen war! – inzwischen durch sozialistische, anarchistische und nihilistische Ideen heimlich noch tiefer vergiftet worden. Zum Dank für genossene Wohltat knüpfte dieser Dorftartüff eine unerlaubte Beziehung mit der kaum konfirmierten Tochter seiner Wohltäter an (– der Beamte zögerte nicht, zugunsten seines Kalküls auf die Tote einen Schatten zu werfen –), die er, mit der ihm eigenen Routine, auf Grund ihrer kindlich gläubigen Urteilslosigkeit ganz in seine Gewalt bekam.
Aus dem weiteren Verlauf der Lebensschicksale Quints schloß der öffentliche Ankläger auf seine Gefährlichkeit. Er hatte staatsgefährliche Äußerungen, die der Betrüger laut vieler bestimmter Zeugenaussagen öffentlich immer wieder getan hatte, sorgsam zusammengetragen. Sie waren unter den Spitzmarken: Gegen die Monarchie! Gegen die Religion! Gegen die Kirche! Gegen den Staat! rubriziert. Quint hatte sich für die freie Liebe erklärt und mit Entschiedenheit gegen das Privateigentum, wobei, was die Sache nur noch verschlimmerte, das christliche Mäntelchen herhalten mußte.
Der Staatsanwalt hatte den Schlächtermeister und Wirt vom Grünen Baum sowie den Restaurateur und Geschäftsinhaber des »Musenhains« verhört oder verhören lassen, und besonders das Protokoll des sogenannten schwarzen Karl war von allen für Quint das am meisten belastende. Der Beamte sagte, selbst das Gefühl dieses nicht gerade musterhaften Christen habe sich gegen die Blasphemien dieses Menschen aufgebäumt.
Der untersuchende Richter sowie der Offizialverteidiger waren von der Schuld Emanuels nicht überzeugt, trotzdem man bei der Leiche Ruths, und zwar unter dem Hemd, auf bloßer Brust, einen Brief gefunden hatte, der »Emanuel Quint« unterschrieben war und das Mädchen nach Breslau in Quintens Umgebung, mit einigen schwülstigen, überspannten Phrasen, die von der Nähe des Neuen Zions faselten, lud. Der Staatsanwalt gab zwar zu, der Brief sei von dem Delinquenten selbst vielleicht nicht geschrieben, da er eine unbeholfene Hand zeigte, die den Quintschen Schriftproben unähnlich war, aber er meinte, er wäre diktiert worden. Er behauptete ferner: es sei bezeichnend für die tiefe Verderbnis Quints, wenn er wirklich nur durch Gelegenheit zu dem widernatürlichen, bestialischen Morde gekommen sei, daß er den traurigen Mut besessen habe, das wohlerzogene Kind in jene Lasterhöhlen herbeizulocken, jenen Sumpf, der hier in der Stadt das Element seines Daseins gewesen war.
Nun also: Untersuchungsrichter und Verteidiger teilten diese Ansichten nicht. Man hatte Quinten den Brief gezeigt und auch daraufhin nur ein Schweigen zur Antwort erhalten. Eines Tages boten sich Rittergutsbesitzer Glaser, Geheimrat Mendel und Maler Kurz als Zeugen dafür an, daß sie Emanuel Quint der ihm zur Last gelegten Tat nicht für fähig hielten. Dies tat Herr Glaser, obgleich sein Sohn durch Quint, an jenem Abend im »Musenhain«, arg verwirrt und betört worden war. Er hatte nämlich von Benjamin am nächsten Tage einen ausführlichen Brief erhalten, worin er in aller Form auf seine künftige große Erbschaft verzichten wollte, war daraufhin nach Breslau gereist und hatte gefunden, wie sein Sohn in seinem Entäußerungsdrange bereits den Inhalt seiner hübschen Wohnung zur Hälfte verschenkt hatte. Er lachte, packte ihn auf und schickte den jungen Menschen mit einem seiner Freunde, einem jungen Arzt – und zwar unter dessen Verantwortung –, nach dem Haag und später auf eine Nordlandreise.
Dominik und Elise Schuhbrich waren tot in einem kleinen Wäldchen draußen, unweit der Oder, gefunden worden. Sie hatten, nach Übereinkunft, mit eigenem Willen dort ihrem Leben ein Ziel gesetzt. Eine Kugel aus dem Revolver Dominiks hatte die Geliebte, eine zweite ihn selber hingerafft. Er lag, als beide, erst einige Tage nach der Tat, von polnischen Flößern entdeckt wurden, mit seiner Stirn auf Elisens Brust.
Natürlich belastete dieser Vorfall Quint, besonders als man nach einiger Zeit genügende Anhaltspunkte zu haben meinte, in Quint den Verderber und Verführer auch dieser Jünglingsseele zu sehen. Der Häftling wurde denn eines Tages auch dem Vater Dominiks, einem Postbeamten, vorgestellt, der übrigens ohne sichtbare Zeichen der Trauer, ausgenommen den schwarzen Krepp um den rechten Arm, den Toten und seine Handlungsweise mit trockenen, harten Schlüssen verurteilte.
Wie er den Sohn nun einmal betrachtete, schien er eher durch seinen Tod von einer quälenden Sorge befreit als betrübt zu sein. Solange er lebte, hatte er einen Teil seines schmalen Gehalts für seine Erziehung abtreten müssen, was ihm ein immerwährender Anlaß zur Entsagung sowie des Kummers und Ärgernisses war: eine Tatsache, die er dem Sohne bei jeder Gelegenheit ohne Umschweife deutlich machte.
Quint schüttelte sich, nachdem der rechtliche und korrekte Beamte gegangen war, als ob ihn ein physischer Ekel anwandele. Seine Aufseher gaben an, er habe bei dieser Gelegenheit laut gesagt, daß nichts den Menschen so klein und verrucht mache als die Sorge ums tägliche Brot. [...]

Man weiß, wie Gefangene durch die Wände, von Zelle zu Zelle, sich mittels Klopfens verständigen. Die sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets werden, je nach Bedarf, mit so viel Schlägen bezeichnet, als die Nummer beträgt, die jeder von ihnen in der gesamten Reihe innehat. So wurden die unfreiwilligen Bewohner des Untersuchungsgefängnisses und vieler anderer Zellen auf Flügel B durch die seltsame Nachricht eine Zeitlang belustigt und aufgeregt, die mit Klopfsignalen von unten, von oben, von rechts und von links durch die Wände drang: nämlich, daß Christus selbst in einer der Zellen zugegen wäre. [...]
Mittlerweile wurden durch eine Fabrikarbeiterin namens Katzmarek gewisse Tatsachen zur Kenntnis der Behörde gebracht, die nach und nach den Verdacht des Mordes einigermaßen von Emanuel ablenkten. Eines Tages fragte man ihn, ob er einen gewissen Menschen, der nach der Schilderung mit dem böhmischen Josef identisch war, kenne und ihn des Mordes für fähig halte. Quint sagte zwar, er kenne ihn, daß er aber den Mord nicht verübt habe, sei ihm gewiß. Trotz des Stillschweigens, dessen Quint sich leider befleißigte und das man schlechterdings nur als Ausfluß seines Schuldbewußtseins deuten konnte, waren doch aber nun die Zweifel der Anklagebehörde rege gemacht, und nachdem die Untersuchung eine Zeitlang auch in einer anderen Richtung betrieben worden war, hatten sich die Resultate der Nachforschung endlich zu einem fast lückenlosen Entlastungsbeweise für Quint zusammengeordnet. Man hatte die Spuren des böhmischen Josef genau verfolgt und wußte, wo er an jedem Tage der letzten Wochen vor Begehung der scheußlichen Tat gewesen war. Er war um die Apotheke geschlichen, in der die kleine Ruth bei Freunden der Eltern seinerzeit, um sie auf andere Gedanken zu bringen, untergebracht worden war. Er hatte dann auf dem Miltzscher Dominium Arbeit gefunden. Eine Anzahl Zeugen meldeten sich, denen der häßliche Mensch in Begleitung des lieblichen Mädchens aufgefallen war, als er sie, meistens auf Feldwegen, gen Breslau führte. Den Menschen selber aufzufinden, gelang indessen trotz aller Bemühungen nicht.
Als man Quint, dessen Alibi allmählich durch Zeugen durchaus erwiesen ward, die günstige Wendung der Sache mitteilte und ihm die Aussicht auf seine nahe Freiheit nicht vorenthielt, legte der Narr zum Schrecken des Anwalts und zur nicht geringen Verlegenheit der Behörde das Geständnis des Mordes ab.
Das Geständnis konnte indessen nicht Stich halten. Man stand auf dem Punkt, den Narren dennoch in Freiheit zusetzen, als man eben an der Stelle, wo der Mord an der kleinen bejammernswerten Ruth verübt worden war, die Leiche des böhmischen Josef fand, der sich am Ast einer Weide erhängt hatte. Es hätte kaum der Selbstbezichtigung mehr bedurft, die man in seiner Tasche fand, ebenso unbeholfen als umständlich niedergeschrieben, um seine Schuld über allen Zweifel erwiesen zu sehen.

Die Kunde von der Entdeckung des wahren Täters drang natürlich sogleich zu den Heidebrands und von da zu Lehrer Krause hinüber, wo sie im Befinden Mariens eine Wandlung zum Besseren hervorbrachte. Das Mädchen hatte ihre Tage, seit dem Verschwinden Emanuels, in Absonderung von allem Verkehr zugebracht, und als der allgemein geteilte Verdacht ihn zum Verbrecher stempelte, war ihre Gesundheit buchstäblich zusammengebrochen. Es kamen Ärzte, man rief den Miltzscher Schäfer herbei, man versuchte es wiederum mit dem sogenannten Gesundbeten, ohne daß es gelang, den Zustand des Mädchens zu bessern. Sie erbrach die Speisen, sooft man sie etwas zu essen zwang, sie litt an einer schrecklichen Blutleere, schließlich vermochte sie kaum noch, vor Schwindel und Herzklopfen, die wenigen Schritte von ihrem Bett bis ans Fenster zu gehen, wo sie, in einem Korbstuhl sitzend, einige Stunden täglich Luft atmen mußte.
Man hatte hier die Idee von einem schlimmen Lotterdasein bekommen, das Quint in der Großstadt geführt und das ihn ins Verderben gestürzt haben sollte. Man fing diese Ansicht, als die Unschuld Quints an dem Morde bekannt wurde, zu modifizieren an. Und nun, wie gesagt, geschah es, daß sich die Gesundheit Mariens zusehends besserte. Sie aß, sie sprach, ihre Wangen nahmen ein wenig Farbe an. Bald unternahm sie kleine Spaziergänge. Sie richtete einen Brief an ihre Schwester Hedwig, die noch immer im Krankenhaus Professor Mendels beschäftigt war, worin sie den Tag zu wissen wünschte, an dem Emanuel aus dem Gefängnis vermutlich entlassen werden würde.
Für die Entlassung war der erste Oktober festgesetzt und das Datum Emanuel mitgeteilt worden. Er hatte also den ganzen Sommer in Untersuchungshaft zugebracht. In seiner Antwort auf einen Brief, den er in seiner Zelle erhielt, ein Schreiben, in dem Hedwig Krause Mariens Frage an ihn weitergab und zugleich mitteilte, daß ihre Schwester Maria, sie selbst und ihr Bräutigam, Bernhard Kurz, Quinten am Gefängnistor erwarten und in Empfang nehmen würden, – in seiner Antwort auf diese Nachricht sagte Quint eine Unwahrheit: er gab auf das allerbestimmteste als den Tag seiner Entlassung nicht den ersten Oktober, sondern den zweiten an.
Als am zweiten Oktober der Maler Kurz mit den beiden Mädchen mittags zwölf Uhr am Eingang des Inquisitoriats erschien, fing für sie ein langes vergebliches Warten und Nachfragen an, wodurch sie am Ende zu der Überzeugung gelangen mußten, daß sie Emanuel Quint verfehlt hatten. Sie glaubten zunächst natürlich, ihn, womöglich am gleichen Tage, noch irgendwo in der Stadt zu entdecken, eine Vermutung, die leider nicht zutreffend war. Sie haben ihn nicht nur an diesem und an den folgenden Tagen vergeblich gesucht, sondern ihn überhaupt niemals wiedergesehen.
Quint hatte sich am Tage vorher stillschweigend davongemacht. Da sein Prozeß nicht verhandelt worden war, hatte man seiner in der beschränkten Öffentlichkeit, die sein Fall erlangt hatte, längst vergessen, als er wieder auf freiem Fuße stand.
In der Nähe des Platzes, an dem die kleine Ruth ihr Ende gefunden hatte, erschien am ersten Oktober ein lang aufgeschossener, dürftig gekleideter, rotblonder und bleicher Mensch, der von einigen Leuten gesehen wurde. Er trieb sich lange in der Gegend der Mordtat herum. Er pochte kurz darauf an die Türe eines Küsters leise an, worauf das Weib des Küsters, einen Bettler vermutend, öffnete. »Ich bin Christus! Gib mir ein Nachtlager!« Da schlug sie ihm, selbstverständlich tief erschrocken, sogleich mit ganzer Kraft die Tür vor der Nase zu.
So ging es auch im Hause des Lehrers einige Tage später, wo einst Emanuel Quint, im Schulzimmer, Bruder Nathanaels Bußpredigt gelauscht hatte. Die Lehrersleute saßen bei Tisch, und ein kalter Herbstwind durchbrauste draußen die Dunkelheit. Man hörte einen Schritt auf der Hausschwelle und hernach ein Pochen gegen die Tür. Die Frau wollte nicht öffnen, sie fürchtete sich. Nachdem, aus irgendeinem Grunde ängstlich geworden, der fromme Lehrer seine Seele dem Herrn empfohlen hatte, öffnete er und fragte durch den Türspalt: »Wer ist hier?« – »Christus!« kam es leise zur Antwort. Und sofort schlug mit einer Gewalt, die das Häuschen erbeben machte, von der Hand des Lehrers gerissen, die Tür ins Schloß. Er kam schlotternd herein zu seiner Frau und behauptete, draußen stünde ein Wahnsinniger.
Etwa eine Woche nach diesen Vorfällen brachten Berliner Zeitungen diese kurze Notiz:
»Die Bewohner des Ostens unserer Stadt werden seit einiger Zeit durch die Erscheinung eines Menschen beunruhigt, der nie um Geld, sondern immer nur um Obdach und Brot bittet und auf die stereotype Frage: Wer ist da? sich als Christus bezeichnet. Man kann sich denken, welchen Schreck der im übrigen wahrscheinlich harmlose Irre überall, wo er auftaucht, verursacht. Er dürfte wenig Geschäfte machen. Die Hausfrauen schieben meist, kaum daß die ominöse Bezeichnung gefallen ist, den Riegel vor und bringen die Sicherheitskette in Ordnung.«
Wiederum eine Woche später fing der gleiche Unfug in der ehemaligen freien Reichsstadt Frankfurt am Main die Leute ein Weilchen zu beschäftigen an. Vor dem Narren und Bettler, der sich Christus nannte, waren mittlerweile zwischen Berlin und Frankfurt Hunderte und aber Hunderte von Haustüren zugeflogen. Ein Frankfurter, der die Angelegenheit auf ironische Weise nahm, sagte, der Herrgott in seinem Himmel müsse unzweifelhaft durch den ungewohnten, wilden Lärm des Türenschlagens neuerdings auf die Vorgänge unter dem Menschengeschlecht aufmerksam geworden sein.
Unwillkürlich dankt man dem Himmel, daß nur ein armer Erdennarr und nicht Christus selber der Wanderer gewesen ist: dann hätten nämlich Hunderte von katholischen und protestantischen Geistlichen, Arbeitern, Beamten, Landräten, Kaufleuten aller Art, Generalsuperintendenten, Bischöfen, Adligen und Bürgern, kurz zahllose fromme Christen den Fluch der Verdammnis auf sich geladen.
Aber wie konnte man wissen – obgleich wir: »Führe uns nicht in Versuchung!« beten –, ob es nicht doch am Ende der wahre Heiland war, der in der Verkleidung des armen Narren nachsehen wollte, inwieweit seine Saat, von Gott gesäet, die Saat des Reiches, inzwischen gereift wäre?

Dann hätte Christus seine Wanderung, wie ermittelt wurde, über Darmstadt, Heidelberg, Karlsruhe, Basel, Zürich, Luzern bis nach Göschenen und Andermatt fortgesetzt und hätte überall immer nur von dem gleichen Türenschlagen an seinen Vater im Himmel berichten können. Nämlich der Narr, der sich Christus nannte, teilte zuletzt mit zwei armen,barmherzigen Schweizer Berghirten, oberhalb Andermatt, Brot und Nachtquartier. Seitdem ist er nicht mehr gesehen worden.
Dem Chronisten, der auf den Spuren Emanuel Quintens ging, ist es wahrscheinlich, daß jener Mensch, der seinen Christuswahn, verlassen und einsam, durch Deutschland und durch die Schweiz schleppte, der verschwundene arme Tischlergeselle aus Schlesien war. Er war auch derselbe, wie ihm scheint, der oberhalb des Gotthardhospizes nach der Schneeschmelze im Frühjahr darauf erstarrt und zusammengekauert gefunden wurde. Unzweifelhaft hatte sich Quint beim tiefen Schneegestöber verirrt, hatte das Hospiz, auf dem Passe zu milderen Breiten, verfehlt und war in die Wildnis des Pizzo Centrale hinaufgeraten. Dort hatten Nacht, Nebel und Schneegestöber ihn eingesargt.
Dies mußte im Spätherbst oder beginnenden Winter gewesen sein, denn er hatte, als ihn die Sennen heraushoben, sicherlich fünf oder sechs Monate lang in der tiefsten Schnee- und Eisschicht verborgen gesteckt. Auf einem Briefbogen, den man in seiner Tasche fand, waren die Worte noch deutlich zu lesen gewesen: »Das Geheimnis des Reichs?«, die keiner beachtete noch verstand, die aber dem Chronisten, als er das traurige Dokument in Händen hielt, eine gewisse Rührung abnötigten. War er überzeugt oder zweifelnd gestorben? Wer weiß es? Der Zettel enthält eine Frage, sicherlich! Aber was bedeutet es: Das Geheimnis des Reichs?
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Kapitel   30)

Der Briefwechsel zwischen Storm und Fontane

Theodor Storm / Theodor Fontane: Der Briefwechsel von litteratur.ch5.8.18

"[...] Vereinfacht gesagt, gibt es zwei Gründe dafür, dass die beiden nicht zusammen kommen konnten. Da war der Unterschied zwischen dem (Gross-)Stadtmenschen Fontane, der sich zu jener Zeit in Städten wie Berlin oder auch London pudelwohl fühlte, und der Provinzpflanze Storm, der, von den Dänen aus Husum vertrieben, zwangsläufig in Potsdam ansiedeln musste, das ihm zu gross war und dessen Gärten ihm zu gepflegt erschienen. [...]
Auf der andern Seite stand wohl die jeweilige politische Weltanschauung einem tieferen Verhältnis im Weg. Fontane stand in der äusseren rechten Ecke, war Redaktions-Mitglied der konservativ-reaktionären, unter pietistischem Einfluss stehenden Kreuz-Zeitung; Storm, als Deutscher, hatte sich der Schleswig-Holsteinischen Bewegung von 1848 angeschlossen, also dem Aufstand gegen die dänische Herrschaft, die auch Teil der bürgerlichen Revolution von 1848 war. Dänemark obsiegte 1848, und Storm musste, wie sein Freund Theodor Mommsen, Husum verlassen. Er blieb aber in gewissem Sinn ein Freiheitskämpfer und sah wohl die tatsächlichen Interessen Preussens, das im Deutsch-Dänischen Krieg von 1867 [! korrekt wäre: 1864] dann tatsächlich erreichte, dass Schleswig-Holstein preussisch wurde, in allzu rosigem Licht. Immerhin durfte er danach in die geliebte Heimat zurück kehren – was das Band zu Fontane definitiv lockerte.
Last but not least war Storm von den beiden literarisch der Bodenständigere, mehr auf Heimat und Tradition Wert Legende, was sich in seiner Verehrung der letzten noch lebenden Dichter der romantischen Generation zeigte, Mörikes und Eichendorffs. Fontanes Haltung gegenüber den beiden bleibt, bei aller Verehrung, die auch er zum Ausdruck bringt, doch kritischer. [...]"
Fontane schätzte Storms Lyrik sehr, kam aber mit dem Menschen Storm nicht zurecht. 
In Von Zwanzig bis Dreißig schreibt Fontane im Abschnitt Der Tunnel über der Spree im 4. Kapitel über Storm:
"[...] so glaubte Storm ganz ernsthaft, dass eine wirkliche Tasse Tee nur aus seiner Husumer Kanne kommen könne. Die Provinzialsimpelei steigert sich mitunter bis zum Großartigen."
Doch das Kapitel schließt:
"Als er 70 wurde, ward ihm von allen Seiten her gehuldigt, und auch Berlin, als er es im selben Jahre noch besuchte, veranstaltete ihm eine Feier. Die besten nahmen teil, an ihrer Spitze seinen Landsmann und Freund Theodor Mommsen. Man empfing von ihm einen reinen, schönen Poeteneindruck. In allem Guten war eher der alte geblieben, und was von kleinen Schwächen im angehangen, das war abgefallen. Alt und jung hatten eine herzliche Freude an ihm und bezeugten Ihm die Verehrung auf die er so reichen Anspruch hatte. Als Lyriker ist er, das mindeste zu sagen, unter den drei, vier besten, die nach Goethe kommen. Dem Menschen aber, trotz allem, was uns trennte, durch Jahre hin nahe gestanden zu haben, zählt zu den glücklichsten Fügungen meines Lebens."

Fontane war Großstadtmensch, er war Umgang mit Adeligen gewohnt und hatte Verbindungen zum königlichen Hof und achtete die Etikette. Im Alter aber meinte er, dass vom vierten Stand eine Erneuerung kommen müsse und begrüßte begeistert die Naturalisten. Nichts mehr von 'äußerer rechter Ecke'.
Aber der gesellschaftliche Umgang mit Storm und dessen Bürgerstolz vor Fürstenthronen war ihm peinlich. 
Wenn er wie Keller nie persönlich mit Storm zusammengetroffen wäre, mag sein, der Respekt vor dem großen Poeten hätte überwogen, so aber stimmte die Chemie nicht. 
35 Jahre lang die Verbindung aufrechterhalten zu haben und dies Lob für Storm formuliert zu haben, scheint mir aber der Beweis, dass Fontane es gern anders erlebt hätte.

Aus einem Brief von Storm: 
»Sie haben, liebster Fontane, neulich einen Stein zwischen uns geworfen, und ich – mit Ihrer Erlaubnis – habe Sie zu lieb, um meinerseits nicht den Versuch zu machen, ihn aus dem Wege zu bringen. 
Schon mehrfach hatte ich früher erfahren, und ich meine, ich habe es wenigstens halbwegs gegen Sie ausgesprochen, wie Sie über manches meinem Gefühle nach Unantastbare, z. B. über Verhältnisse zu Ihrer Frau, sich gegen Dritte nicht allein äußerten, sondern auch in einer Weise, die ich anfänglich mit Ihrem edlen getragenen Wesen nicht vereinigen konnte. 
Ich habe oft darüber gedacht; ich brachte es unwillkürlich mit einer Äußerung über Sie in Verbindung, wo einer, als gesagt wurde: 'Fontane hat eine vornehme Persönlichkeit', erwiderte: 'Nein, er hat die Persönlichkeit eines feinen Schauspielers'. Mißverstehen Sie das nicht; es war nichts Unlauteres dabei.« (Theodor Storm. Brief an Fontane, Potsdam am 24. Juli 1854)

Besprechung von Der Briefwechsel Theodor Storm - Theodor Fontane, 9.9.2018

18 August 2018

Mutterzunge

Emine Sevgi Özdamar: Mutterzunge

 Zitate: 
Mutterzunge:
"Ich erinnere mich jetzt an Muttersätze, die sie in ihrer Mutterzunge gesagt hat, nur dann, wenn ich ihre Stimme mir vorstelle, die Sätze selbst kamen in meine Ohren wie eine von mir gut gelernte Fremdsprache."

Großvaterzunge:
"Ibni Abdullah sprach: »Selamünaleyküm.« »Aleykümselam.« Es ist eine Gemeinheit, mit einer Orientalin in Deutsch zu reden, aber momentan haben wir ja nur diese Sprache."

"Ibni Abdullah sagte: »Wenn alle Araber ihre Gewehre auf die Erde herablassen und nur barfuß zusammen nach Jerusalem laufen würden. Israelis und Araber müßten unter der Sonne paar Tage Gesicht in Gesicht gucken, ohne Generale. Sieben Brüder, sieben Jahre hat meine Mutter sie in ihrem Körper getragen, Generale haben sie an einem Tag ausgegeben.«"

"Ich hatte Schmerzen in meinem Körper, ein Fieber kam und trennte mich von anderen Lebenden, ich legte mich hin, sah, wie der Schmerz meine Haut aufmachte und sich in meinem Körper überall einnähte, ich wußte, daß in diesem Moment Ibni Abdullah in meinen Körper reingekommen war, dann war Ruhe, Schmerz und Fieber gingen weg, ich stand auf."

 "Die Liebe ist ein leichter Vogel, setzt sich leicht irgendwo hin, und steht schwer auf."

"In der Fremdsprache haben Wörter keine Kindheit."

"»Was machen Sie in Deutschland?« fragte das Mädchen mich. Ich sagte: »Ich bin Wörtersammlerin.« Und Ibni Abdullah, die Seele in meiner Seele, dachte ich und erinnerte mich noch an ein Wort in meiner Mutterzunge: Ruh – »Ruh heißt Seele«, sagte ich zu dem Mädchen. »Seele heißt Ruh«, sagte sie."

"Die Türken sprachen in ihrer Sprache, die mit deutschen Wörtern gemischt war, wofür sie in Türkisch keine Worte hatten, wie: Arbeitsamt, Finanzamt, Lohnsteuerkarte, Berufsschule. Ein gestandener Gastarbeiter sprach: »Sonra Dolmetscher geldi. Meisterle konustu. Bu Lohn steuer kaybetmis dedi. Finanzamt cok fena dedi. Lohnsteuer yok. Bombok. Kindergeld falan alamazsin. Yok. Aufenthalt da yok. Fremdpolizei vermiyor. Wohnungsamt da yok diyor. Arbeitsamt da Erlaubnis vermedi. Ben oglani Berufsschule ye gönderiyorum. Cok Scheiße bu. Sen krankami ciktin.« Ein zweiter gestandener Gastarbeiter sprach: »Krankenhaus da doktorla gavga ettim. Nirde Krankenscheinin dedi. Yahu, doktor, ben krankim. Yahu krank görmüyorum. Yok Krankenschein yok – para yok. Yahu, doktor, dedim. Fabrik yollar Urlauba gidiyorum, Heimweh falan dedim. Doktor: Nikis krank. Gesundschreiben yapti. Ver Gutpapier, ulan, nikis schlecht Papier dedim. Ben Urlauba gidiyorum dedim.«" [...]

"»Nicht traurig sein, Schwesterherz, mein Mann ist auch verrückt geworden.« »Auch Opel-Caravan?« »Nein, Geld schlafen lassen. Weißt du, ich putze Eishalle, Boxhalle, Schrebergarten, Neonlampen, Spinnhäuser, Friedhöfe, Botanischer Garten, Opernbühne. Dann rauche ich eine. Er aber zurückgegangen. Er sagte: ›Ich nicht aushalten können Deutschland.‹ Ich schicke acht Jahre Geld. Im Dorf alles gibt, Tomaten, Auberginen. Ich sagte: ›Ali, kauf einen Lastwagen und bringe unsere Nachbarstomaten ohne Zwischenhändler direkt in die Stadt.‹ ›Nein‹, er sagt. ›Ich will Geld in Bank schlafen lassen. Ein Jahr schlafen, Geld aufwachen, viel mehr Geld‹, sagt er. Er will auf sein Arsch sitzen und mich schlaflos machen hier.« Die Frauen wärmten sich an dem Feuer.
Der Esel schrieb auf seiner kaputten Schreibmaschine einen Brief an seinen deutschen Freund Mathias: »Lieber Mathias, mir geht es nicht aus dem Kopf, als du erzähltest, daß du deine junge Tochter besucht hast. Sie saß da im Kreuzberger Zimmer und bewegte sich zwischen Spiegel und Tisch sowie einer alten Frau, wie vor dem Krieg. An dem Abend habe ich geträumt, ich war in Köln. Die Straßen waren ganz leer. Der Dom und die Häuser lagen auf einem Haufen da, braunrot gestrichen, alle wie von van Goghs Pinsel aus gesehen. Es war keine Stadt mehr. Eine Selbstmordstadtmalerei war das. Ich lief ganz allein, drehte mich um: Dom und Häuser schauten auf mich, ihre Fenster waren beleuchtet. Kein Mensch da. Ich fand mich auf einem Grundstück. Oooh, atmete ich, der Dom kann mir nicht mehr folgen. In dieser Sekunde trat ich mit meinem Fuß auf etwas Weiches, Sumpf. Ich warf meine Jacke über einen Busch und versuchte, mich daran herauszuziehen. Ich sank immer tiefer. Dann saß ich plötzlich in einem Zug: Hamburg-Altona, Intercity … wie in einem Flugzeug. Am Ende des Korridors steht ein Spiegel. – Das Signal für den sofortigen Aufbruch –: Diese Worte las ich in dem Buch, das von einer Frau, die vor mir saß, gelesen wurde. Die Frau von meinem Bauern kam, sagte: »Sie werden meine Haare und meinen Schmuck dem Münchener Kunstmuseum schenken.« Ich sagte darauf: »Ich muß lesen.« Die ganze Vergangenheit wartet auf mich. Da war eine Toastmaschine und es kamen zwei Bücher brennend heraus.« [...]

Karriere einer Putzfrau
Erinnerungen an Deutschland Ich bin die Putzfrau, wenn ich hier nicht putze, was soll ich denn sonst tun? In meinem Land war ich Ophelia. »Wir machen gute Liebe, aber das ist nicht alles, zwischen uns ist Klassenunterschied, und als Frau hast du mich nicht geschützt«, sagte der Mann, mit dem ich im Ehebett stand. Er war ein reicher Sohn mit einem Einzel-Kind-Drama. »Geh in ein Kloster! Geh! Leb wohl. Oder wenn du durchaus heiraten willst, heirate einen Narren, denn kluge Männer wissen ganz gut, was für Monster ihr aus ihnen macht! In ein Kloster geh, und schnell, lebwohl!« sagte er zu mir.

Ich habe ihn gefragt: »Die Klassenunterschiede waren von Anfang an da, warum hast du mich geheiratet?« »Damals waren die Zeiten anders, ich hätte auch eine Putzfrau heiraten können damals«, hat er gesagt. Ein Mund ist nicht ein Sack, man kann ihn nicht oben in Falten legen und zubinden. Was der Kopf denkt, sagt der Mund. Sein Freund, Sohn eines Arztes, selbst ein Medizinstudent, sagte dazu: »Wer schweigt, lebt länger. Als ich meine Frau bei der Polizei sterben sah, wurde ich geheilt. Natürlich stimmt es nicht, daß Frauen mehr reden, aber zu zweit spricht man zuviel, allein kann man auch schweigen, Mylord, es muß kein Geist vom Grabe aufstehen, uns das zu sagen. Trennt euch!« »Ja, richtig, das ist richtig. Und darum, ohne weiteren Umstand, denk ich, wir schütteln uns die Hände und gehen ab.
Sieh doch, es ist die Zeit zum Schweigen und die Demokratie wiederaufzubauen«, sagte mein Mann. »Oh welch ein edler Geist ist hier zerstört.« Als er mit seinem Einzel-Kind-Drama und seinem Medizinstudenten-Freund zum Wiederaufbau der Demokratie ins Restaurant ging, da ging seine Mutter in unsere Wohnung, um zu sehen, ob die Bücher noch auf den Regalen standen oder im Ofen starben, guckte auch ins Bett und die Bettwäsche an! Später sagte sie vor Gericht: »Diese Frau hat meinen Sohn zugrunde gerichtet, die Bettwäsche war schwarz, sie ist eine Zigeunerin, aber leider haben wir es nicht gemerkt.« [...]
Wenn Hamlet bei Ophelia ist, werden Medeas Kinder geschlagen von den Plastikschlangen mit den Boxerhandschuhen, da wird auch Licht ausgemacht, da kommt der Van Gogh, trägt einen Hut, auf dem 12 Kerzen befestigt sind, und malt das Pissoir nur mit schwarzen Farben! Artaud kommt, steht als Profil da, dichtet: »Es gibt keine Gespenster in den Bildern von Van Gogh, keine Visionen, keine Halluzinationen. Dies ist die brennendheiße Wahrheit der Sonne um zwei Uhr nachmittags. Ein träger Zeugungsalptraum, der sich nach und nach aufklärt, ohne Alptraum und ohne Wirkung. Doch das Leiden des Vorgeburtlichen liegt darin.« Der Hund von Eva Braun beißt die Kinder von Medea und die Statisten, Nathan der Weise tritt auf und sagt, er sei der Friedenspfarrer mit Nobelpreis, man solle Medeas Kinder und Männerpissoirbesetzerstatisten in Ruhe lassen. Die Plastikschlangen sagen Schalke, Schalke und telephonieren mit einem hohen Beamten, der in seinem Hotelzimmer den Arsch einer Schwester Ophelias in der Sonne betrachtet und dabei am Telephon sagt: »Beißt, damit eure durch die täglichen Beißübungen geweckte Sehnsucht erfüllt wird.« Er sagt zu der Schwester Ophelias: »Jetzt ziehen Sie sich an, gehen Sie ins Badezimmer, denken Sie, ich bin der Polonius, ihr Vater.«"


Marion Dufresne über Emine Sevgi Özdamar:

"Wenn Özdamar den deutschen Lesern erklärt, dass in ihrer Sprache „Zunge“ „Sprache“ heiße, und sie den Verlust der Mutterzunge beklagt, so liefert sie damit mehr als nur ein Wortspiel oder eine Metapher. Emine Sevgi Özdamar hatte in der Tat lange Zeit ein schwieriges und konfliktreiches Verhältnis zu ihrer Mutter, der sie den Band Mutterzunge widmet. Ich erwähnte bereits die herausragende Bedeutung prägender Frauengestalten in ihrer Kindheit und habe den Einfluss unterstrichen, den die Großmutter auf die Erziehung der Autorin besaß. Nicht zu Unrecht könnte der Eindruck entstehen, dass Özdamar im Grunde der Großmutter Ayse näher steht als der Mutter. Ayses beherztes Handeln rettet den Säugling vor dem Tod und niemand verbringt soviel Zeit mit dem kleinen Mädchen wie diese leidgeprüfte Frau. Ihren Erzählungen lauscht Emine stundenlang, und die Großmutter findet immer eine Antwort auf ihre Fragen, hat stets Verständnis für ihre Sorgen und Probleme. Sie erscheint auffällig oft als eine Art Gegenpol zur Mutter ihrer Enkelin, wobei sich die Opposition beider Frauen in doppelter Hinsicht vor allem in ihrer Sprache zeigt. Während die Großmutter noch ihren Dorfdialekt spricht, bemüht sich Özdamars Mutter um ein „korrektes“ Istanbuler Türkisch, Zeichen ihrer Modernität und Beweis des gelungenen sozialen Aufstiegs. Fatma hat den festen Willen, ihre einfache Herkunft so weit wie möglich vergessen zu machen und strebt die Integration in eine gebildetere, auch finanziell besser gestellte Gesellschaftsschicht an. Sie kämpft tagtäglich gegen das Stigma der Armut und dafür, dass es die Kinder einmal leichter haben als sie. Ein Ereignis, von dem Özdamar in Das Leben ist eine Karawanserei berichtet, ist dabei für unser Anliegen von besonderem Interesse. Als kleines Mädchen verbringt sie die Ferien bei ihrem Großvater in Anatolien. Nach mehr als zweimonatiger Abwesenheit nach Hause kommend, stürzt sie mit ausgebreiteten Armen auf die Mutter zu. Diese aber weicht zurück und wirft dem Kind vor, den anatolischen Dialekt mit nach Hause gebracht zu haben."

17 August 2018

Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Kapitel 26, 27 und 28

Sechsundzwanzigstes Kapitel

"Nach einiger Zeit fand im »Musenhain« jener vielbesprochene Abend statt, der den Kreis der dort Vereinigten sprengte und die Besuche in dem schlimmen Lokal zum Abschluß brachte.
Hedwig Krause war erschienen, aber nicht in Schwesterntracht, und hatte, gleichsam zum Schutz, den in persönlich moralischen Dingen äußerst braven und gediegenen Doktor Hülsebusch mitgebracht. [...]
»Gut!« sagte Hülsebusch, ohne merken zu lassen, daß er es seiner Meinung nach mit einem Irren zu tun hatte, zu Emanuel Quint. »Gut! Aber das können wir doch nicht den Kranken sagen, die zu uns kommen und fordern, daß man sie gesund machen soll. Ich sage Ihnen übrigens offen: ich bin ein Gegner des Christentums. Ich bin mit Goethe, Schiller und unseren größten Philosophen der Ansicht, es ist durch die christliche Lehre ein lebensfeindliches Element in die europäische Menschheit gekommen. Das Christentum hat zum Beispiel mit der Verdammung, Entheiligung und Entwürdigung des Geschlechtslebens allein schon maßloses Unheil angerichtet. Es hat den Vorgang der Liebe der Geschlechter, aus dem die neuen Menschen hervorgehen, auf eine Stufe mit den Vorgängen in einer Latrine oder Kloake gebracht. Ja sogar auf eine noch tiefere Stufe. Ich betrachte das Christentum noch immer überhaupt als den wahren Krebsschaden unserer gesamten menschlichen Zustände.« 
Ein Murmeln ging durch den Jüngerkreis, aber Anton Scharf, der mit stotternden Worten dreinfahren wollte, ward durch einen Wink seines Meisters zum Schweigen gebracht. Dann sagte Quint: »Es ging ein Sämann aus zu säen seinen Samen, und indem er säete, fiel etliches an den Weg und ward zertreten, und die Vögel unter dem Himmel fraßen es auf. Und etliches fiel auf den Fels, und da es aufging, verdorrete es, darum, daß es nicht Saft hatte. Und etliches fiel mitten unter die Dornen, und die Dornen gingen mit auf und erstickten es. Und etliches fiel auf ein gutes Land. Da es aber aufgehen wollte, kam der Feind des Nachts und säete Unkraut darunter aus. Und es war am Tage der Ernte kein gutes Jahr, und nach Frost und Hitze, nach Meltau und Hagelschlag waren wenige Körnchen Weizens übriggeblieben.« »Er könnte sich gut etwas deutlicher ausdrücken«, bemerkte Weißländer zynisch, »ohne seiner Stimme Zwang anzutun.« – Josefa Schweglin aber, die mit Bewußtsein die gleiche Anrede wie die Jünger brauchte, sagte: »Sie meinen also, Meister, daß unser heutiges Christentum Fels, Weg, Dornen, Hagel, Brand, Meltau, kurz alles andere, nur nicht der ursprüngliche Weizen des Sämanns ist. Nun gut! Aber ist überhaupt auch nur ein Körnchen des alten Weizens übriggeblieben?« »Was müßte geschehen, wenn ein Körnchen des alten Weizens übriggeblieben wäre?« fragte, statt zu antworten, Quint. 
»Es müßte in gute Erde gelegt werden.« »Es sei denn, daß ein Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, anders bleibt es allein und trägt keine Frucht«, fuhr Quint fort. »Du hast recht geredet!« »Demnach, wenn wir Sie richtig verstanden haben, sind Sie im Sinne des heute herrschenden römisch-katholischen, griechisch-katholischen oder protestantischen Christentums«, bemerkte Kurowski, »durchaus kein Christ?« »Ich bin die Auferstehung und das Leben!« sagte Quint. [...]
Plötzlich trat eine Stille ein. Der schwarze Karl [der Wirt der Gaststätte] war mit einer unheilverkündenden Blässe im Gesicht bis zu Dominik durchgedrungen und hatte sich vor dem schönen Jüngling, der vom Sitze emporgesprungen war, aufgepflanzt. »Ich möchte bloß wissen«, fragte er, »ob Sie gesagt haben, daß ich ein Ausbeuter bin.« – »Ich habe nicht speziell Sie gemeint«, erwiderte Dominik, der nicht wenig erschrocken war und den die heisere und gemeine Stimme des Kerls und überhaupt der ganze Mensch anekelte. Da hatte ihn aber die Faust des Wirtes bereits mit brutalem Griffe vorn an der Gurgel und hinten im Nacken gepackt, und er lag, eins, zwei, drei, auf der Gasse draußen.
Der Professor und die meisten Teilnehmer dieser nächtlichen Sitzung, Weißländer und einige andere ausgenommen, erhoben sich. Ihre Rufe der Entrüstung und der Mißbilligung riefen indessen an einigen anderen Tischen und in den Nebenlokalen für den Wirt eine wahre Salve des Beifalls wach. Dazwischen wurden Worte wie »Sozialistenbagage!« und »Anarchistengesindel!« ausgesprochen. Durch solche Worte und seinen Beifall ward aber der schwarze Karl auf dem Wege seiner Ehrenrettung noch weitergeführt, wobei auch seine Wut durch den Aufbruch der Tafelrunde gesteigert wurde. Er schrie, dieses Jüngelchen habe er schon längst auf dem Striche gehabt. Es sei ein Schüler, der, statt zu lernen, sich herumtreibe und ein Verhältnis zu einer Kellnerin angefangen habe, einem Mensch, das er ihm am liebsten gleich auf die Straße nachschmeißen möchte.
»Und Sie!« – mit diesen Worten trat jetzt der Wirt dicht vor Quint, dessen Miene sich nicht verändert hatte –, »wagen Sie sich noch einmal mit Ihrem Gesindel in mein Lokal herein, unterstehen Sie sich noch ein einziges Mal ...« 
Er schwieg. In dem ganzen Lokal aber war die Stille so tief geworden, daß man plötzlich die Stimme eines Harzer Kanarienvogels vernahm, der irgendwo in einem Wirtschaftsraume der Kneipe herrlich trillerte.
Nach einigen bangen Augenblicken hörte man Quintens Stimme sagen: »Womit habe ich Ihnen Böses getan?« Diejenigen aber, die, in der nun wiederum folgenden Stille, die entstellten Züge des Wirtes betrachteten, hatten eine Empfindung, als ob dieser Mensch den anderen, den armen Narren in Christo, der immer noch, nicht ohne Ruhe und Hoheit, vor ihm stand, mit einem tödlichen Hasse gehaßt haben müßte, bis zu diesem ersehnten Augenblicke, jahrtausendelang.

Leider sagte der Maler Kurz jetzt ein Wort, das seiner Tapferkeit und seiner Empfindung zwar Ehre machte, aber das böse Verhängnis des Auftrittes ward:
»Rühren Sie diesen Menschen nicht an, sonst werden Sie es zu bereuen haben!« Diesen drohend und schneidig gesprochenen Worten folgte als einzige, schreckliche Antwort des Wirtes ein Faustschlag mitten in Quintens Gesicht. Emanuel schwankte. Das linke getroffene Auge schloß sich zu, und es rann daraus Blut und Wasser über die im Augenblick unförmlich aufgeschwollene Wange herunter. Während aber der Wirt, wahrscheinlich rot vor den Augen sehend, hochatmend und aufgerissenen Mundes noch die Besinnung nicht wiedererlangt hatte, beugte Quint sein furchtbar verschwollenes Antlitz, schon wieder vollkommen seiner Herr, vor ihm hinab und küßte dem schlechten Halunken die ruchlose Hand. [...]"

Siebenundzwanzigstes Kapitel 

In dieser Nacht, als Quint mit nassen Kompressen um den Kopf im Grünen Baum zur Ruhe gegangen war, hielten die Jünger im hinteren Zimmer des Wirtshauses bis zum Morgen Rat miteinander. [...]
Als die Jünger nun, anfänglich furchtsam und flüsternd, im Hinterzimmer des Grünen Baums beim Schein einer Kerze Rat hielten, hatten sie sich in kurzer Zeit, nachdem erst das Eis gebrochen war, nicht minder im Zweifel als früher im Glauben gestärkt, wobei Emanuel nicht zum einfachen Menschen, sondern weit mehr zum Feind, zum Dämon, zum bösen Geiste sich umbildete. Emanuel wollte nichts wissen von einem sogenannten Kirchenlied. Er meinte: die schlichte, fruchtbare Einfalt der Lehre leide unter einem weichlich aufgeschwemmten Gefühl, das in einer sumpfigen Trübsal dahinsickere. Dies bekannte er eines Tages, in Gegenwart vieler, Dominik. Diese Ansicht deutete man ihm nun als Verbrechen aus. Quint hatte gesagt: »Buße? Was Buße? Tut meine Worte!« Er hatte es zu dem zerknirschten Weber Schubert gesagt, der sich vieler heimlicher Sünden anklagte. [...]
Am allermeisten bildete aber der Verkehr Emanuels mit einer wachsenden Anzahl gebildeter Menschen für die Seinen ein Ärgernis. Sie sahen erstens, nach Art ihrer Sektengenossen, Teufelswerk in aller Bildung und Wissenschaft und besaßen außerdem jenen Haß gegen bessere Kleider, edleres Aussehen und überlegene Lebensform, der dem Paria der Gesellschaft eigen ist. [...]
Quint sprach: »Habe ich euch nicht immer wieder gesagt: ohne daß ihr von neuem geboren werdet, könnt ihr das Himmelreich nicht sehen? Und seid ihr von neuem geboren worden? Seid ihr, geheiligt durch den Geist, zu heiligen Menschen Gottes geworden? Ich habe mich für euch geheiligt durch den Geist und die Wahrheit, damit auch ihr durch den Geist und die Wahrheit geheiligt werdet. Aber ihr seid nicht geheiliget worden und habt euch selbst nicht geheiliget. Deshalb seid ihr Knechte der Welt. Aber ich bin kein Knecht der Welt. Und ich bin nicht mehr in der Welt, während ich mit euch rede, die ihr nichts anderes seid als Kinder der Welt. Wahrlich, ihr habt dem Menschensohne gedient, aber ihr habt ihm gedient um des Feindes willen, habt ihm gedient um des Fürsten willen dieser Welt. Des Menschen Sohn aber hat euch gedient um Gottes willen. Denn auch ich bin gekommen, nicht daß ich herrsche, sondern diene! Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich die Wahrheit zeugen soll. [...]

Achtundzwanzigstes Kapitel
[...] »Glaubt ihr vielleicht«, rief mit Entrüstung Dominik, »daß dieser Mann Gottes ausschließlich dazu in die Welt gekommen ist, euren acht blöden Köpfen den Star zu stechen?« Auf diese Worte hin brach unter den Talbrüdern ein allgemeines Toben los. Es war, als habe sich ein lange gestauter Strom von Wut, Angst, Enttäuschung und Verzweiflung Luft gemacht und rase über ein Wehr hinunter. Als wenn eine Meute, die mit der ganzen Gier des Blutinstinktes stundenlang ruhelos auf der Fährte gewesen ist, sich plötzlich durch das Wild gefoppt und um seine Beute betrogen sieht, kläfften, bellten, schrien und heulten sie durcheinander. Besonders Krezig, der Handelsmann, kannte sich vor Entrüstung nicht. Es war, als seien sie alle gleichzeitig nüchtern und auf eine neue Weise verrückt geworden. Es hatte den Anschein, als hielten sie über ihren Meister von ehedem, als über einen gemeinen Betrüger, das furchtbarste Strafgericht, wobei Worte wie: »Er hat Gott gelästert! Er hat die Heilige Schrift entehrt! Er hat Kirchen geschändet, Abendmahlskelche zerstört!« und viele ähnliche Reden laut wurden. Wer weiß, ob sich die Empörung der Seinen nicht bis zur Mißhandlung Quintens, Dominiks und seiner Geliebten gesteigert hätte, wenn nicht die erste beschwichtigende und zugleich gebieterische Bewegung des falschen Propheten zufälligerweise durch einen gewaltig prasselnden Donnerschlag, bei kaum sichtbarem Blitz, unterstützt worden wäre. Allein nun wurde es lautlos still, während draußen ein leiser Regen rieselte.
»Gott vergibt euch, denn ihr wisset nicht, was ihr tut«, sagte Quint – und während die lautlose Stille andauerte, begann er mittels eines Waschbeckens ruhig jene Zeremonie auszuüben, die an vielen Orten unter der römisch-katholischen sowie der griechisch-katholischen Kirche üblich ist: nämlich das sogenannte Fußwaschen. Die Jünger waren durch den Donnerschlag in ihren abergläubischen Herzen eingeschüchtert und diesmal im Unglauben wiederum schwankend geworden. Eine Art Grauen hielt sie gebannt, was durch die Handlung des Meisters in Hilflosigkeit und Beschämung verwandelt wurde. Es war offenbar, daß die eigentümliche Macht seiner Person noch einmal in alter Weise zu wirken begann.
Als Emanuel nach der Reihe bis zu den Füßen des böhmischen Josef gekommen war, starrte ihn dieser zuerst mit furchtbaren Augen an, rannte aber, schon von den ersten Wassertropfen wie von Weißglut berührt, gleich darauf mit Entsetzen davon.
Dies waren Emanuels letzte Worte, als die durch Schrift und Gebrauch überlieferte Zeremonie ihr Ende erreicht hatte: »Ihr nanntet mich Meister und Herr. So nun ich, den ihr Herr und Meister nanntet, mich erniedrige, so sollen sich die Herren, Meister und Gewalttäter dieser Welt voreinander erniedrigen! So sollt ihr euch voreinander erniedrigen: denn ich sage euch, wie der Knecht nicht niedriger ist als sein Herr, so ist auch der Herr nicht größer als sein Knecht. Und wer der Geringste ist in der Welt, der wird den ewigen Tag des Reiches Gottes in ihm heraufkommen sehen! Wer aber der Gewaltigste ist in der Welt, dessen Sonne geht unter.«"
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Kapitel 26,  27 und 28)

13 August 2018

Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Emanuels Bruder Gustav

Vierundzwanzigstes Kapitel

Erst am zehnten Tage nach seiner Abfertigung hatte sich Martin Scharf, mit dem zwölf Jahre alten Gustav Quint, in der Wirtschaft zum Grünen Baum eingefunden. [...]

Fünfundzwanzigstes Kapitel 
Als Emanuel eines Tages von einem gewesenen Stukkateur namens Weißländer, der sich auf der Breslauer Kunstschule für das Zeichenlehrerexamen vorbereitete, laut wegen der Gegenwart des Knaben am Trinktisch getadelt wurde, sagte Quint: »Uns ist eine kurze Frist gegeben. Die Stunden, ja die Minuten, die uns gehören, sind gezählt. Der Abschied steht vor der Tür, und ihr könnt nicht wissen, unter welchen Zeichen wir leben und um welche geheime Stunde des Tages und Jahres und zu welchem Ziel wir beide einander geschenkt worden sind. Denn wir wandern von weit her und wandern weit hin, und obgleich wir hier sind, sind wir nicht hier, noch wir bei euch noch ihr bei uns. Was ihr hier suchet, das suchen wir nicht, und was ihr hier findet, dafür sind unsere Augen blind. Die Augen der Engel heiligen, was sie betrachten. Glaubt ihr, daß er weniger als ein Engel ist?« »Das ist furchtbarer Schwulst!« sagte Weißländer, worauf man ihn aber allgemein – der Professor voran – zur Ruhe verwies. [...]
Emanuels Wesen und Betragen machten in diesen Tagen durchaus den Eindruck strahlender Selbstsicherheit und Furchtlosigkeit. In seinen Gang, in seine Haltung, in seinen Blick war eine stolze Freiheit gekommen. Den Augen der Jünger erschien er beinahe gebieterisch. Zu Kurt Simon und Benjamin Glaser aber äußerte Dominik, voll überschwenglich jünglingshafter Paradoxie und Bewunderung, wie in seinen Augen dieser Tischlerssohn das geborene Genie, der geborene Fürst des Geistes, ein König und Herrscher des inneren Himmelreichs und, wie er romantisch-mystisch sich ausdrückte, mit dem Zeichen allwissenden Schmerzes an der gewölbten Stirn auf Erden der wahre Cruzifixus sei. Nicht ohne tiefe Bewegung konnten die Jünger und Freunde Quints in jener Stunde des Abschieds bleiben, als er sich endlich entschlossen hatte, den kleinen Gustav nach Haus zu entlassen. Meister, Jünger und einige Freunde gaben dem Jungen, der seine Heimreise diesmal unter der Obhut Dibiezens zurücklegen sollte, zu Fuß bis Schmolz das Geleit. [...]
Ehe der kleine Gustav, auf dem Bahnhof von Schmolz, mit Dibiez in den Wagen vierter Klasse stieg, warf er sich schluchzend an Quintens Brust. Dieser sagte zu ihm: »Wenn du lebst, wirst du mir nachfolgen! wenn du lebst, wirst du die Taten des Menschensohnes tun! Du wirst niederfahren zur Hölle, sage ich dir, und wirst am dritten Tage wieder auferstehen! Ist es aber anders bestimmt im Rat, so wirst du noch früher mit mir im Paradiese sein.« Diese Worte waren nur halblaut gesprochen, aber doch so, daß Dominik, Hedwig Krause und Martin Scharf sie vernommen hatten. [...] 

So wie hier gegenüber Gustav sprach Quint auch auf dem Rückweg so, als spräche Christus selbst:
»Ich bin der Wissende und der Sehende«, antwortete Quint. »Ihr aber seid die, die unwissend sind und nicht sehen. Deshalb sage ich euch: glaubet, dieweil ihr nicht wisset! Und wer an mich glaubet, der glaubet nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat. Deshalb, wenn ihr mich lästert, so lästert ihr des Menschen Sohn, und wahrlich, wie ich gesagt habe: liebet eure Feinde! segnet, die euch fluchen!, so will ich euch dennoch lieben und segnen! – Lästert ihr aber den Geist, so lästert ihr Gottes Sohn und macht den Satan zum Herrn über euch.«
Sie näherten sich wiederum der Stadt Breslau an. Quint wies mit der Hand in die dunkle Rauchwolke, die darüber hing. Er sagte:
»Der Satan ist der Lügner, ist der Verbrecher von Anbeginn. Er ist die Lüge und ein Vater der Lüge. Er ist das Verbrechen wider den Geist und ist der Vater des Verbrechens wider den Geist. Satanas ist der Herr der Satzungen. Satanas hat Gott und die Menschen in Kerker gesperrt. Satanas sitzt auf Petri Stuhl. Satanas hat den Schlüssel des Abgrundes als Szepter in seiner Hand und verspricht, mit ihm das Himmelreich aufzuschließen. Satanas hat die Menschen zu Teufeln und Götzen aus Holz, Stein, Erz und bemalter Leinwand zu Heiligen gemacht. Ich aber sage euch: Holz, Erz, Stein, Leinwand können den Menschen nicht heiligen, sondern es ist der Mensch allein, der sie heiligen kann. Deshalb sollt ihr zu heiligen Menschen Gottes werden.

Ihr aber seid die Tempel Gottes, Tempel, die da wandeln und erfüllt sind von Gottes Geist. Andere Tempel, Tempel aus Stein und Erz, Tempel mit Türmen, in denen erzene Glocken hängen, gibt es nicht. Gottes Mund ist nicht von Eisen, undseine Zunge ist nicht ein Glockenklöppel aus Erz. [...]
Tretet doch in die Kirchen, wo sie mit schwieligen und verkrüppelten Seelen Totenknöchel und den Leichnam dessen anbeten, den Satan getötet hat, statt daß sie Engel und Gefäße des Geistes selber sind. Womit wollen sie Gott dienen, außer mit Gott? Was können sie Gott aus der Armut ihrer Knechtschaft darbieten? Meinen sie, daß er ein Vater von geprügelten Hunden, winselnden und gefesselten Knechten zu sein begehrt, dessen Füße mit Wollust auf ihren Nacken herumstampfen? Wahrlich, ich sehe die Zeit, wo eure Kirchen, eure Kanzeln und Richterstühle, eure Altäre, wo sie den Menschen Greuel zu essen gaben, werden unter den Boden gesunken sein, der ewig grünen wird von dem freien Wandel und unter den Füßen der Kinder Gottes.« Man sieht, wie diesem neuen Messias die schriftliche Überlieferung der Worte des ersten, echten Messias mit eigenen Zusätzen kaleidoskopisch durcheinanderging und wie er immer die gleichen Gedanken zu neuen Gruppierungen in sich umwälzte. Freilich schien es, so, wie alle diese Worte laut wurden, daß ein Zwang, eine innere Gewalt hier wirksam war, die alles von innen, wie mit dem Hauche der ersten Schöpfung, hervorbrachte, und jedenfalls lag für die Zuhörer ein kühner und erneuernder, wenn auch weit mehr berauschender und entzückender als klärender Sinn darin. »Was sagen Sie zu der Äußerung Quints von den Aposteln, die nach ihm gekommen sind?« fragte, als die jungen Leute später allein waren, Benjamin Glaser mit einer gewissen eigentümlichen Spannung Dominik. Dieser antwortete: »Wenn Sie eine rationalistische Antwort suchen, so bin ich dafür nicht der rechte Mann. Dazu hat mich diese Erscheinung zu sehr verzaubert. Novalis sagt: ›Alle Bezauberung geschieht durch partielle Identifikation mit dem Bezauberten‹, und ich, der Bezauberte, bin mit diesem Zauberer identifiziert. Ich verstehe, ich kenne, ich fühle ihn allenthalben. Er hat mich gezwungen, jede Sache so zu sehen, zu glauben, zu fühlen, wie er will. Und hat er nicht über alle seine Begleiter, Sie und Herrn Simon ausgenommen, eine ähnliche Macht wie über mich?" [...]
Inzwischen war die Polizei auf das Treiben im Grünen Baum aufmerksam geworden und hatte mehrere Schutzleute abgeordnet, die bei den Nachbarn und auch geradezu bei dem Wirt Informationen, wie man es nennt, einziehen sollten. Der Wirt und Schlächtermeister begünstigte Quint, weil in seinem Laden, seit er im Hause war, mehr rohe Beefsteaks und Würste aus Pferdefleisch und in seiner Gaststube mehr Bier und andere Getränke verkauft wurden. Er traktierte den Schutzmann, der in einem guten Verhältnis zu ihm stand, und gab die Versicherung, man habe es in Quint und seinen Anhängern mit harmlosen Muckern zu tun, Betbrüdern, von denen gewiß nichts zu fürchten war.
Therese Katzmarek und Martha Schubert hatten Emanuels Spur entdeckt, waren ihm nachgefolgt und hatten in nahegelegenen Fabriken Arbeit gefunden. Natürlich benutzten sie jede Gelegenheit, um in der Nähe ihres Abgotts zu sein. Der Wirt erklärte, die Weibsvölker kämen nur meist gegen Abend zur Betstunde, und wirklich hielten die Jünger Quints täglich mehrmals, auch hier, in einem hinteren Zimmer des Gasthauses Betstunde ab. In diesen Versammlungen, denen Emanuel selbst nicht beiwohnte, ging es nach dem Zeugnis des Wirtes überaus ordentlich und gesittet zu. Er machte zum Lobe dieser Zusammenkünfte geltend, daß eines Abends ein großer Stein von Sozialdemokraten, die aus einer Versammlung gekommen wären, durch die Scheiben in das Zimmer geworfen worden sei, weil der Gesang eines Kirchenliedes sie empört habe. Der Freund und Schutzmann bewies indessen, bei allem Hunger und Durst, den er entwickelte, im Ausfragen eine gewisse Zähigkeit und wollte nicht nur über Dominik, sondern auch über Hedwig Krause, Benjamin Glaser und Kurt Simon sowie über alle andren Besucher Bescheid wissen. So wagte der Wirt ihm nicht zu verschweigen, wie auch der Agitator Kurowski eines Tages unter diesen Besuchern gewesen war.
Was die Leute, die Quint noch immer täglich heimsuchten, eigentlich von ihm wollten, wußten der Wirt und die Frau des Wirtes nicht. Sie hatte gelauscht, natürlich nur zufällig, weil ihre Plättkammer neben dem Zimmerchen Quints gelegen war, und konnte versichern, irgend etwas Ungehöriges wäre jedenfalls niemals vorgekommen, auch dann nicht, wenn schlechte Weibsbilder von der Straße ihn besucht hätten. Es seien auch solche Mädchen gekommen, denen man wohl hätte anmerken können, daß sie Freuden entgegensahen und in der Verzweiflung Hilfe von ihm zu erlangen gehofft hätten. Aber er habe auch hier weder jemals ein Medikament verabreicht noch etwas Verdächtiges getan. So sei denn auch die eine etwa durch seine Worte getröstet, die andere enttäuscht davongegangen. 
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint Kapitel 24 und 25

Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Nach Breslau

Einundzwanzigstes Kapitel
"[...] Quint selber, nachdem er das Forsthaus verlassen hatte, trat an jenem Abend mit seinen Jüngern jene lange Wanderung an, die, wenn irgend etwas in seinem Leben, eine gewisse Denkwürdigkeit auszeichnet. Er sagte den ungeduldigen Bürgern des kommenden Tausendjährigen Reichs, die ihn eigentlich in die Bahn seines Schicksal hineingedrängt hatten, er sagte ihnen zum Anbeginn, wie es nun seine Hoffnung wäre, daß sie sich bis zu dem Tage, wo alles geschehen würde, was er voraussehe, nicht mehr trennen würden. Er fuhr fort, sie zu streicheln, abwechselnd jedem im Gehen die Hände zu reichen und sie zu liebkosen. Nach einiger Zeit begann eine milde, unerhört reine und ruhighelle Vollmondnacht. Da ersuchte er seine Anhänger, sie möchten ihm immer von jetzt ab, sofern er nichts anderes bestimme, im Gehen eines Steinwurfs Weite den Vorsprung lassen. Und so geschah es. Er blieb ihnen, einsam, meist in dieser Entfernung voran. Sooft er stillstand, blieben auch seine Jünger stehen, wie denn überhaupt von nun an ein Gehorsam bis zur Unmündigkeit ihr Glück und ihre Genugtuung ward. In ihrer Ordnung waren sie bis in die Nähe des Miltzscher Schlosses gelangt, dessen erleuchtete Bibliothek samt dem Speisesaal – da die Gurauer Dame gekommen war – mit vielen hohen Fenstern durch die Bäume des Parkes schimmerte. Ungesehen und unbemerkt zog der ehemalige Günstling und Narr in Christo, Emanuel Quint, durch die verlassenen Wege des Parkes längs des stillen Sees, in dem er zu baden pflegte, dahin. Schweigend folgten ihm seine Begleiter. Da sahen sie, wie er stillestand und wie ein Schwan und nachher ein zweiter, glänzend weiß, aus dem dunklen Teile der Spiegelfläche in jenen hellen, darin sich der Mond und der Himmel spiegelte, zu ihrem Meister herübergerudert kam. Sie sahen, wie er die Tiere fütterte. Quint winkte den Brüdern und sagte halblaut: »Sie wissen noch nicht, daß ich geächtet bin. Aber des Menschen Sohn«, fuhr er fort, »war von jeher von seinen Brüdern und Schwestern verachtet und von seinen Nächsten verfolgt. Er muß auch jetzt noch verachtet, geknechtet und geächtet sein.« Furchtlos ging er mit seinen Jüngern an dem von Stimmengewirr erfüllten Schlosse vorbei, durch ein Mauerpförtchen in das Bereich des Nutzgartens hinein, wo ein unendlich langer, schnurgerader Weg durch verpackte Rosenstöcke, Johannisbeersträucher und gedüngte Beete führte, der im Mondschein gleißend vor ihm und den ängstlich flüsternden, leise tretenden Jüngern lag. Diese sahen nach einiger Zeit, wie Emanuel wiederum stehenblieb und lange nach einem von Efeu dicht übersponnenen Giebel blickte, aber es war nicht die Seite des Hauses, darin sein eigenes Zimmer, sondern die andere, in der Ruth Heidebrands kleines, reinlich gehaltenes Gemach gelegen war. Die Jünger hörten den Meister aufseufzen.  [...]
Der Pfarrer sprach: »Was meinst du damit? Ich verstehe dich nicht.« Quint dagegen: »Ehe man nicht in eure Folterkammern Gottes die Brandfackeln werfen wird, so daß sie vertilgt werden von der Erde, bis man die Stätte nicht mehr erkennt, wo sie gestanden haben, werdet ihr Gott täglich hinrichten.« »Mein Sohn«, sprach der Pfarrer mit halber Stimme, »solche Gedanken sind nicht bloß närrisch: sie sind verbrecherisch.« »Aber es muß die Zeit kommen«, fuhr der Tor in Christo mit Härte fort, »wo man Gott weder auf diesem noch auf jenem Hügel, weder auf diesem noch auf jenem Berge, noch in diesem oder in jenem Hause, noch in dieser oder in jener Kirche, weder in dieser Kathedrale noch in jenem Dom anbeten wird, sondern allein im Geist und in der Wahrheit.« [...]
Mit diesen Worten fiel im Dunkel des Raumes ein Geräusch vieler harter Schläge zusammen, deren Ursache, wie sie bald von einem stürzenden Gefäß, dem Geklirr eines auf die Steinfliesen fallenden Metalleuchters und dem Klingklang von Porzellan und Glasscherben begleitet wurden, dem Pfarrer so wenig wie den Begleitern Quints sogleich deutlich ward. Dann freilich war nicht mehr zu verkennen, daß der persönliche Wahn des Narren einen tobsuchtartigen Ausbruch genommen hatte und er mit seinem derben Schäfer- oder Gartenstock wie rasend unter die heiligen Gegenstände auf den Altären schlug. »Mensch, hebe dich weg«, schrie der Pfarrer, sprang hinzu und suchte die Arme des Tobenden festzuhalten. »Fluch über dich! der du ein entsetzlicher, gottverworfener Kirchenschänder bist!« »Ich bin Christus!« schrie dagegen Emanuel laut, ja gewaltig, so daß es von allen Gewölben widerklang. »Ich sage dir« – und er schlug mit einem mächtigen Schlage das Standkreuz des Hauptaltars herunter –, »dies ist kein Bethaus, sondern es ist eine Mördergrube!« Jetzt hatte der Pfarrer, hatten die Jünger den wütenden Schwärmer und Bilderstürmer angepackt, und nachdem im Dunkel der hallenden Kirche ein längeres, stummes Ringen sein Ende erreicht hatte, schien auch der Kirchenschänder gesättigt zu sein. »Geh! Laß dich nie wieder blicken! Geh! Du bist vom höllischen Dämon besessen! Geh! Gott straft mich durch dich! Geh! Ich befehle es dir!« Diese Worte des Pfarrers, mit starker, befehlender Stimme gesprochen, duldeten keinen Widerspruch. Quint sagte: »Kommt!« und ging, hochatmend, starken Schritts, mit den Seinen davon. [...]"

Dreiundzwanzigstes Kapitel
"[...] Dominik war ein Mensch von bewunderungswürdigen, vielfältigen Anlagen und von einer für sein Alter staunenswerten Gelehrsamkeit und Belesenheit. Er besaß einen Reichtum an Kenntnissen aus der Naturwissenschaft. [...]
Als ob er im Innersten zu ihr gehöre, schloß er sich der einstigen Romantischen Schule an. Er liebte Novalis, der das Wort gesagt hatte: »Deutschheit ist echte Popularität.« Er liebte die ganze Gruppe, weil ihr freies und kühnes Denken nicht in Rationalismus versandete, sondern das Mysterium des Daseins fortgesetzt als solches erkannte und bestehen ließ. Dieser Jüngling vereinigte den Geist und Stolz freier Forschung mit der mystischen Inbrunst eines mehr katholischen Christentums, das ihn mit einem weichen, sehnsuchtsvollen Lyrismus erfüllte. Sein Lieblingsdichter außer Novalis war Hölderlin. Nicht nur sprach er in stillen Stunden gern dieses und jenes seiner Gedichte aus dem Kopfe vor, sondern er führte auch den »Hyperion« in einem zerlesenen Exemplar fast stets in der Tasche. [...]
Was Dominik an Emanuel fesselte, wird vielleicht nach alledem einigermaßen begreiflich sein. Entscheidend für die neuentstandene Abhängigkeit des jungen Genies war natürlich vor allem der Eindruck, den Quintens ganze Erscheinung hervorbrachte. War ihm schon der platteste und gewöhnlichste Mensch ein Mysterium, wieviel mehr dieser Quint, dessen geheimen Anspruch er kannte. So stürzte er sich mit einer vielleicht mehr künstlerischen als blindgläubigen Sucht in die verwirrende Atmosphäre um Quint hinein. Aber es war dabei ein bewußtes, entschlossenes Wollen in ihm, weil er spürte, daß der Weg des Meisters, den er gefunden hatte, dorthin ging, von wo auch ihm die größte Lockung der Ruhe oder des Paradieses ausstrahlte. Dieser, wie er ihn bereitwillig und aus Überzeugung nannte, heilige Mensch war, wie er selber, gleichsam nur verirrt in die Welt. Seht – der Fremdling ist hier – der aus demselben Land sich verbannt fühlt wie ihr; traurige Stunden sind ihm geworden – es neigte früh der fröhliche Tag sich ihm ... Bleibt dem Fremdlinge hold – spärliche Freuden sind ihm hienieden gezählt – doch bei so freundlichen Menschen sieht er geduldig nach dem großen Geburtstag hin. Im Umgang mit Dominik zeigte Quint seltsamerweise eine wie ein Ausruhen wirkende, ungeschraubte Schlichtheit und menschliche Einfachheit. Zwischen beiden, schien es, war, ohne jede Verhandlung, stillschweigend ein fester Pakt geschlossen. Es herrschte eine fast magische Einigkeit. Dominik, der, über einem verrufenen Lokal, bei Bahnschaffnersleuten in Schlafstelle war – wo er ein Kruzifix über dem Bett angebracht und ein anderes auf sein Nachttischchen gestellt hatte –, beschäftigte sich trotzdem nicht viel mit der Heiligen Schrift, und es wurde auch zwischen ihm und Quint kaum je eine Bibelstelle besprochen, ja überhaupt nur ein religiöses Gespräch geführt. Durch ein Wort, das Quint eines Tages geprägt hatte, als der Name des Heilands gefallen war, ward Dominik betört oder, nach seiner Ansicht, aufgeklärt: »Christus? Ich kenne ihn nicht oder bin es selbst!« hatte es gelautet. [...]"
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint Kapitel 21 und 23)

06 August 2018

Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Kapitel 17 und 18

Siebzehntes Kapitel
[...] Emanuel mußte erschüttert sein durch alle Beweise fast hündischer Liebe und Anhänglichkeit, die ihm von diesen bis zu Tränen durch seine Gegenwart beglückten Menschen entgegengebracht wurden. Und wenn er nun auch entschlossen war, soweit an ihm lag, das Nest zu säubern, in das er ja zu keinem anderen Zwecke gekommen war, so hatte er doch den heißen Wunsch, soweit immer möglich, diesen irren, hilflosen Lämmern ein Hirte zu sein. Hatten doch alle diese Menschen, solange sie lebten, einen leiblichen Hunger nach des Müllers Brot: und war es nicht sonderbar, wie sie trotz leiblichen Mangels und sorgenbelasteter Lebensnot dennoch nach geistigem Brote hungerten? Konnten da ihre unberatenen Einbrüche in die Vorratskammern der Schrift und die Wahl ihrer Nahrung von einem besseren Instinkte geleitet und anders als unbeholfen sein? [...]
»Das Himmelreich gleicht einem Senfkorn«, antwortete Quint, »es gleicht einer Perle, für die ich alles hingebe, es gleicht einem Schatz im Acker, den ich gekauft habe, es ist inwendig in mir, das Eigentum eines Kindes ist das Himmelreich. Aber dein Zion, das aus den Wolken herniederfällt mit Häusern von Gold, mit Tälern aus Jaspis, Saphir und Smaragd, ist es nicht! Warum denn wollt ihr, daß Vater, Sohn und Geist unter Gewitter und Posaunenschall furchtbar aus Wolken niedersteigen, wo doch Vater, Sohn und Geist unerkannt unter euch ist?« Und nun verrichtete Emanuel Quint, der arme Narr in Christo, jene hoffentlich unbedachte Tat der Lästerung, die später, als er eines schweren Verbrechens beschuldigt unter Anklage stand, die Herzen der Richter so sehr verhärtete. Nämlich: er packte ein Bibelbuch, das einer der Brüder Scharf, wie früher gebräuchlich, neben das Licht auf den Tisch gelegt hatte, und warf es, so daß es in Fetzen ging, wider die Wand. Die armen Tagelöhner, trotzdem sie erschraken und eigentlich im ersten Augenblick dachten, es müsse Feuer vom Himmel herabfahren, regten sich nicht. Und: »Ich verbiete euch dieses Buch! hört ihr! ich verbiete euch dieses Buch!« rief nun, gar nicht im Sinne Luthers, Emanuel. »Ich verbiete es euch, weil es eine Scheuer voll Unkraut, eine Scheuer voll Tollkraut, eine Scheuer voll Taumellolch mit nur wenigen Ähren guten Weizens ist. Das Reich Gottes ist wiederum auch hier nur ein Senfkorn darin. Was leset ihr euch aus diesem Buch? Was erntet ihr euch von diesem Acker des guten Hausvaters, in den der böse Feind im Finstern Scheffel und Malter Unkraut gesäet hat? Ihr füllt euch das Blut mit quälenden Ängsten, quälenden Wünschen und Fieberbildern, die lügnerische Hoffnungen sind, bis zum Bersten an! Ihr meinet, wenn ihr vom Gifte des Taumelmohns trunken seid und in läppischer Eitelkeit zu Affen der Allmacht aufgeschwollen, mit Handauflegen und Wundertun, ihr hättet den Heiligen Geist empfangen! Was ihr empfangen habt, ist die Pest der Gier! der Durst der Tollheit! Meint ihr, daß die Liebe zu Jesu eine unbezwingliche Wut der Habsucht ist? Was wollet ihr denn von Gott erbitten? Wälzet ihr euch, und zerrüttet ihr euch und macht eure armen Kehlen heiser, damit der himmlische Vater das Szepter mit euch teile? Und meint ihr, daß es in euren blinden Händen besser aufgehoben als in den seinigen ist? Was reißet ihr doch an Gottes Stuhl? Was zerrt ihr doch an Gottes Gewandzipfel? Was heult ihr? Was kreischt ihr? Warum schlagt ihr mit euren Fäusten, euren groben Absätzen gegen die Himmelstür? Wahrlich ich sage euch, ihr werdet nicht mit der Türe ins Haus brechen, und es liegt auch dahinter weder Brot, Speck noch das kleinste Fäßchen Branntwein für euch! Was leset ihr euch aus diesem Buch? Lügen, Lügen und wieder Lügen! Wie denn die Lüge noch immer auf allen Gärten und allen Äckern am geilsten wuchert! Wie denn die Lüge noch immer Säulen, Tore, Türme und Tempel – die höchsten Säulen, die höchsten Tore, die höchsten Türme, die gewaltigsten Tempel von Gold, Jaspis und Edelsteinen – auf unserer Erde besitzt!«
Es war wohl nicht allzuviel, was die mit hochgezogenen Brauen lauschenden Brüder von diesen heftig gesprochenen Worten begriffen. Es folgte ihnen auch eine große Menge anderer warnend, ja drohend nach, die Quinten doch wohl von dem Wunsche eingegeben wurden, diesen Unfug der Talbrüder abzuschütteln. Jene Monate, die er in der Gärtnerei, in der Bibliothek des Gurauer Fräuleins, beim Miltzscher Schäfer als Samariter, in der Familie Krause und in anderen christlichen Bürgerhäusern zugebracht hatte, konnten nicht spurlos an ihm vorübergehn. Dennoch sah er die Brüder nicht von einem neuen Kastenstandpunkt an, und nicht ein solcher war es, der den Abstand zwischen ihm und ihnen vergrößerte. Dagegen konnte man aus der Art und mutigen Kraft seiner Reden schließen, daß sich die Kraft seines eigensinnigen Wahnes in der Stille vervielfacht hatte. [...]
In Wahrheit sah Emanuel Quint den Heiland kaum mehr im Bibelbuch, das er ja auch mißhandelt hatte, sondern, schrecklich zu sagen, nur noch in sich selbst und als sich selbst. Der heilige Wahn ward zurückgedrängt und hatte dort, seit jenem Kerkertraume, wo Christus in Quinten buchstäblich hineingegangen war, Zeit gefunden, sich festzunisten. Damit hatte sich etwas im Betragen des Narren in Christo eingestellt, was keineswegs von dem Schlage seiner früheren Bescheidenheit und Demut war. Gegner, die es später bemerkten, nannten es einen lächerlichen Hochmutsgeist von Unfehlbarkeit, er selbst die Freiheit der Kinder Gottes. »Machet euch frei von dem Dienste des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes«, sagte er oft, wenn seine Freunde ihm eine gewisse heitere Sicherheit und Sorglosigkeit, trotz des ihm eigenen Ernstes, zum Vorwurf machten. [...]
Jedermann in der Mühle war schlafen gegangen. Es war eine abgelegene, nur durch viele Gänge und Treppchen zu erreichende Kammer, in der sich Quint mit Ruth befand. Er senkte den Kopf, entrang die Hände und begann im Raum auf und ab zu schreiten. In dieser Minute – man hörte den Gang seiner bloßen Füße nicht –, wo er bald die Gardine, bald den gelben, mit allerlei Tand und bäurischen Raritäten gefüllten Glasschrank streifte, fand er sich nicht nur mit der Flucht der kleinen Ruth aus dem Elternhause, sondern auch mit dem Umstand ab, dessen er völlig sicher war, daß man keinem andern als ihm die Schuld dieses Streiches zumessen würde. Dann sagte er nur: »Du hast uns in eine schlimme Lage gebracht.« Ruth wandte sich um und sagte dagegen: »Wie kann ich anders, wenn ich nicht meinen Bräutigam versäumen soll?« Er sagte: »Ihr alle seid unverständig!« »Lehre mich«, sagte sie, »daß ich verständig bin!« Er dagegen: »Ehre Vater und Mutter und betrübe sie nicht! Gedenke der Ängste, die sie jetzt ausstehen! Im besten Falle wird man uns finden und bringt dich und mich durch Gendarmen nach Hause zurück.« Ruth sagte, das werde der Vater nicht zulassen. Als Emanuel sie befremdet musterte, fügte sie noch die Worte an: »Ich meine den Vater, der in dir ist.« Emanuel wurde ungeduldig. Er begann: »Was suchst du? Was willst du von mir? Von den Legionen Engeln eures himmlischen Vaters weiß ich nichts. Ihre Schwerter stehen mir nicht zu Diensten. Ich bin keines irdischen Königs noch eines schwertgewaltigen Gottes Sohn. Ich bin nur ein armer Menschensohn. Wer mir nachfolgt, dessen nackte Füße werden über scharfe Steine gehen. Der Regen wird ihn durchnässen, der Hagel auf seinen Scheitel schlagen. Er wird Almosen nehmen, wo man sie gibt. Er wird, wie ich, verachtet, verdorben und am Ende einem schmachvollen Tode überliefert sein.« In diesem Augenblick hatte Ruth in Hast ihre durchlaufenen Schuhe von den Füßen gelöst, den Mantel und ihr kleines dunkles Mieder heruntergerissen und warf sich wildschluchzend mit den Worten: »Kreuzige mich, ich will vor dir sterben!« an Quintens Brust. Quint begann ihren Scheitel zu streicheln, aber er hielt seine Lippen fern von der schmalen weißen Rinne, die ihm so nahe war und von der aus das Haar zu beiden Seiten in einem dunklen und duftigen Glänze das Haupt umfloß. Seine Hände mieden die kindlichen Schultern, die sich zuckend an ihn anschmiegten, so daß er an bebende Flügelrücken eines jugendlichen, verstoßenen Engels denken mußte oder eines verflognen vielleicht: eine Vorstellung, die ihm durch die liebliche und berauschende Fremdartigkeit dieses ganzen neuen Erlebens aufgedrängt wurde. Emanuel biß die Zähne zusammen und wehrte sich mit der ganzen ihm eigenen, bewußten Kraft gegen die Welle, die in ihm aufbrandete. Er rang mit ihr und besiegte sie. Die Arme der lieblichen Gärtnerstochter mit Zartheit lösend und an den heiß umklammernden Händen herunterziehend, hatte er bald durch den gütigsten Zuspruch das Mädchen einigermaßen zur Ruhe zur Ruhe gebracht.
Mit eigenen Händen zog er ihr dann die Stiefelchen an, half ihren nackten Armen in die Ärmel ihres Mieders hinein, verdeckte darin die schönen Schultern und legte auch noch den Mantel, den er vom Tische nahm, sorgsam darum.
Endlich sagte er: »Ruth, nun komm, jetzt wollen wir ohne Verzug zurück zu den armen Eltern gehen.«
Da stand das Kind und regte sich nicht und sprach geraume Weile kein Wort. Aber wie Quint, überwältigt von Mitleid, die Hand um sie legte und ihr Haupt herauf an den kummervollen Strahl seines ernsten Antlitzes bog, war ihr Gesicht von Tränen gedunsen.

Achtzehntes Kapitel
In diesem Augenblick quietschte die Zimmertür, und der Kopf des böhmischen Josef streckte sich durch den geöffneten Spalt mit einem pfiffig grinsenden Ausdruck herein. Dann schien es, als wollte er sich zurückziehen, aber nun fragte ihn Quint, in einem erstaunlichen Ton von Gelassenheit, was er wünsche und was sein Begehren wäre. [...]
In der Backstube, als der böhmische Josef gegangen war, mußte sich Ruth auf Quintens Drängen mit Brot, Butter und Kaffee stärken, dessen man eine reichliche Menge, in einem Bunzlauer Topf, noch heiß, in der Röhre fand. Dann traten beide, leisen Tritts aus der Haustür gehend, von niemand in der Mühle bemerkt, den Rückweg an.   Im Beginne der Reise waren sie einsilbig. Noch immer mit gedunsener und wie erstarrter Miene schritt die kleine Ruth neben Quint, während der Narr, grüblerisch und betreten, das Schweigen nicht brechen mochte. Die kleine Heilige, die triebhaft und opfermutig ihren irdisch-himmlischen Hochzeitsflug unternommen hatte, ward wie gelähmt, weil sie annahm, Liebe und Opfer sei nun durch den süßen Freund und himmlischen Bräutigam verworfen worden. Nach und nach aber, während des Wanderns, das Quinten die eigentlich angemessene Form des Daseins war, stieg in ihm jene volle und große Empfindung auf, die zweifellos religiösen Charakter hatte, wenn auch sie es vornehmlich war, die ihn immer wieder über die berechtigten Forderungen der ihn umgebenden Welt erhob. Soweit man diese Empfindung – und man bedenke, wie das bewußte Leben selber nichts anderes als eine Empfindung ist! –, soweit man sie zu schildern vermöchte, würde man das eigentliche Urphänomen im religiösen Leben dieses wunderlichen Separatisten zu begreifen imstande sein. Das Leben in der gesamten Natur, die wir kennen, insonderheit alles organische Leben, vollzieht sich für uns in Form von Bewegung, insonderheit durch Geburt, Tod und Wiedergeburt. So war denn auch in Quintens Seele die tiefste Erfahrung immer wieder das göttliche Sterben und das göttliche Auferstehen. [...]
Quint vergaß aber nicht, daß Ruth neben ihm ging. Sie hat bekannt, daß der Sonderling, den sie den Heiland nannte, ihre Hand ergriffen, noch bevor sie das Dorf und den Wagen erreichten, und bis dahin, etwa eine Stunde Wegs, nicht mehr freigegeben hat. Sie hat ferner versichert, wie es denn auch der Wahrheit entsprach, sie sei dadurch wie durch einen himmlischen Zauber gestärkt, getröstet, ja mit der Gewißheit eines ewigen himmlischen Glückes erfüllt worden. Sie hat schließlich behauptet, daß der arme Narr verzückt und in einer heiligen Glorie mit Jesus, Moses und Elias geredet habe: trotzdem doch, nach ihrer Meinung, Emanuel selber der Heiland war. Die Ursache ihres Irrtums war diese: Emanuel fing nach einiger Zeit, während er ihre Hand in der seinen hielt, in beinahe hymnischer Weise zu reden an, wobei sie der tiefen, immer heller werdenden Röte des Sonnenaufgangs entgegenpilgerten. [...]
Da sagte zu seinem Schaden der Narr: »Habe ich denn eine Sünde begangen?« »Das wirst du wissen!« schrie Herr von Kellwinkel. »Du wirst wissen, was du an der Familie deines Wohltäters, was du an diesem betörten Mädchen begangen hast! Welche Mittel, welche Schliche, welche niederträchtigen Lügen, welche Lumpereien und Betrügereien mußt du angewandt haben, nichtsnutziger, fauler, arbeitsscheuer Rumtreiber du, bis dieses wohlerzogene Bürgerkind so weit gebracht war, Anstand und Sitte so weit außer acht zu lassen, daß sie mit dir, bei Nacht und Nebel, das Haus ihrer schwergeprüften Eltern verließ und so vollkommen in die Gewalt deiner schmutzigen Pfoten geriet.« Bei diesen Worten nahmen die Bauernweiber und Landarbeiter gegen Quint eine drohende Haltung an. Ein gewisser Tagelöhner, mit dem Quint zuweilen bei Gelegenheit seiner Feldgänge einige Augenblicke philosophiert hatte, benutzte jetzt die Gelegenheit, um sich bei Kellwinkel einzuschmeicheln. Indem er hervortrat, behauptete er: Quint halte die Leute vom Arbeiten ab. Er mache sie unlustig, mache sie aufsässig, indem er Weiber und Kinder gewöhnlich frage, ob denn das Zuckerrübenhacken oder das Heil ihrer Seele wichtiger sei. [...]
In der Familie des Lehrers Krause gab es Emanuels wegen Tränen und Kämpfe, denn auch Krause wollte nun, im Widerspruch zu Marien, nichts mehr mit dem Narren zu tun haben. Maria dagegen verteidigte ihn. Bei ihrer Verteidigung blieb sie nicht gerade gerecht in ihrem Urteil über Ruth Heidebrand, die sie ein überspanntes Mädchen nannte. Sie fügte hinzu: die krankhafte Überspanntheit der kleinen Ruth wäre ja doch viel mehr etwas Altbekanntes als eine Neuigkeit.
Alle ihre Einwände halfen Marien indessen nichts. Ihr Vater hatte im Schrecken der Nachricht von Ruths Verschwinden den festen Entschluß gefaßt, nun ebenfalls von dem gefährlichen Narren abzurücken. Ob er trotzdem noch etwas für ihn fühlte, wußte man nicht.
Übrigens hatte der arme und außergewöhnliche Dorfschulmeister, dessen friedliche und behagliche Existenz in dem Wohlwollen vieler Freunde wurzelte, nach dem, was vorgefallen war, keine Wahl mehr in seinem Verhalten zu Quint. Es war nicht ratsam, ja überhaupt nicht tunlich, sich dem allgemeinen Urteil, das ihn richtete, entgegenzustellen. Man lief Gefahr, mit dem Narren als eine Person genommen, gebrandmarkt und aus der Gesellschaft verstoßen zu werden.
Emanuel wurde nicht empfangen, als er am Gründonnerstag – wo die Kinder in allen Dörfern in Scharen mit ihrem Bittgesang und ihrem Gründonnerstag-Bettelsäckchen von Tür zu Tür herumliefen – an die Tür der Krauseschen Schule kam. Dagegen sah er, als er sich annäherte, Nathanael Schwarz aus der Türe gehn, von dem es bekannt war, daß er vor einigen Jahren um die Hand Mariens geworben hatte.
Schwarz machte einen großen Bogen um Quint und verschwand in Eile durch ein Quergäßchen. Emanuelen wurde nun von der Magd der kurze, ihn von der Schwelle weisende Bescheid überbracht; sie hatte eben die Tür vor seiner Nase zugeschlossen, da fiel aus einem Mansardenfenster, von unsichtbarer Hand geworfen, ein Umschlag mit einem Kärtchen herab, das Quint erst draußen im Feld entzifferte; es trug die Worte: »Ich glaube an dich!«
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint Kapitel 17 und 18)