Emanuel Quint wird unter dem Verdacht, Ruth Heidebrand getötet zu haben verhaftet.
[...] Emanuel wurde in das Untersuchungsgefängnis, das sich in einem Ziegelrohbau, dem sogenannten Inquisitoriat, befand, eingeliefert, wo er gebadet und in eine Zelle allein gesteckt wurde. An mehreren folgenden Tagen ward er dem mit Untersuchung des Falles betrauten Richter vorgeführt, der aber nicht einmal das Unumgängliche über seinen Namen, Geburtsort und -tag aus ihm herausbrachte. »Wenn Sie nicht reden«, sagte der Richter zu ihm, »so kann das, falls Sie unschuldig sein sollten, höchstens zu Ihrem Schaden sein.« Hätte Emanuel auch nur einen Namen aus dem Kreis seiner Jünger genannt, so wäre ein Anhalt gegeben und die Untersuchung beschleunigt worden. Je genauer und je ausführlicher er seine Angaben gemacht haben würde, um so eher hätte man seine Unschuld an den Tag gebracht. Allein es schien beinahe, als ob er wünsche, unschuldig für schuldig erklärt zu sein.
Da Emanuel einen privaten Anwalt für seine Sache, ja überhaupt einen Anwalt nicht heranziehen wollte, hatte man ihm, wie es üblich ist, einen Verteidiger von Amts wegen zur Seite gestellt. Aber auch dieser Mann konnte aus Quinten nichts herausbringen. Zwar sagte er nicht, daß er schuldig wäre, aber ebensowenig irgend etwas, wodurch unzweideutig auf ein Bewußtsein von Unschuld zu schließen war.
Der Staatsanwalt glaubte an seine Schuld. Er hatte viele Zeugen verhört, und es war ihm gelungen, die seltsame Laufbahn Emanuel Quints wenigstens teilweise aufzulichten. Die Scharfs, die Hassenpflugs, der Agitator Kurowski, Bruder Nathanael Schwarz, der Müller Straube, die Pastoren Schimmelmann und Schuch standen bereits in seinen Akten, und er hatte, in einer erheblichen Anzahl von Protokollen, sehr viele wenig günstige Zeugnisse gegen Quint zusammengebracht.
Der Kern seiner Meinung über Quint hatte so ungefähr diese Gestalt gewonnen:
Der Delinquent hatte außerehelich das Licht der Welt erblickt. Der Vater wurde von seiner Mutter nicht genannt und blieb also unbekannt. Man weiß, wie die große Mehrzahl dieser nicht wohlgeborenen Kinder auf verschiedenen Wegen, besonders auf dem Wege des Verbrechens, zugrunde geht. Auch der Staatsanwalt wußte das. Mit Arbeitsscheu, alias Faulheit, war nun im Falle, der vorlag, wie so oft, der erste Schritt auf der Bahn des Verbrechens gemacht worden. Der Stiefvater Quints, der Bruder Quints, ja selbst die rechte Mutter des Menschen, diese unter einem nicht endenwollenden Tränenstrom, erbrachten dafür die Bestätigung.
Der Müßiggänger, der zu Hause nicht gerne sein mochte, weil er dort zur Arbeit angehalten zu werden fürchten mußte, fing zu vagabundieren an. Dies war ihm aber endlich ebenfalls unbequem, und er sagte sich, vielleicht durch schlechte Gesellschaft angeregt, daß er die gläubige Einfalt seiner Mitmenschen durch irgendeinen dreisten Schwindel sich nutzbar machen müsse. Dies gelang ihm über Erwarten, und er nistete sich in zynischer Weise bei den Brüdern Scharf als Schmarotzer ein. Mit systematischen Schwindeleien hatte er nun die leichtgläubigen Webersleute seinen Zwecken dienstbar gemacht, so daß er sie in ihrer Verblendung nach und nach, dem raffiniertesten Hochstapler gleich, um ihr ganzes Vermögen prellen konnte. Er wurde gefaßt und per Schub nach seiner Heimatsgemeinde zurückgebracht. Er hatte sich irgendwie den Beruf eines Heilkünstlers angemaßt, wie denn solche Leute und geborene Scharlatane, einmal entlarvt, um neue Mittel zu neuen Betrügereien niemals verlegen sind. Er ging noch weiter, er gab sich, in seinem Zynismus selbst vor dem Heiligsten nicht zurückweichend, für einen Wundertäter, für einen Apostel, ja für den wiedergekommenen Christus selber aus, womit er sich, obgleich im beschränkten Kreise, den größten Betrügern aller Zeiten anreihte. Da aber empörte sich der gesunde Sinn seines Heimatsorts, so daß er über einen Denkzettel, leider einen, der nicht durchgreifend war, zu quittieren hatte.
Jetzt nahm sich eine allgemein verehrte Dame in christlicher Liebe seiner an, und man suchte den Menschen, unverdienterweise, mittels der Langmut vieler ehrenwerter und geachteter Persönlichkeiten, in ein bescheidenes und geordnetes Dasein zurückzuleiten. Man umgab ihn in Miltzsch und Umgebung mit vieler, zwecklos vergeudeter Liebesmüh'. War doch die Gesinnung des entschlossenen Parvenüs – was er in jenen Tagen war! – inzwischen durch sozialistische, anarchistische und nihilistische Ideen heimlich noch tiefer vergiftet worden. Zum Dank für genossene Wohltat knüpfte dieser Dorftartüff eine unerlaubte Beziehung mit der kaum konfirmierten Tochter seiner Wohltäter an (– der Beamte zögerte nicht, zugunsten seines Kalküls auf die Tote einen Schatten zu werfen –), die er, mit der ihm eigenen Routine, auf Grund ihrer kindlich gläubigen Urteilslosigkeit ganz in seine Gewalt bekam.
Aus dem weiteren Verlauf der Lebensschicksale Quints schloß der öffentliche Ankläger auf seine Gefährlichkeit. Er hatte staatsgefährliche Äußerungen, die der Betrüger laut vieler bestimmter Zeugenaussagen öffentlich immer wieder getan hatte, sorgsam zusammengetragen. Sie waren unter den Spitzmarken: Gegen die Monarchie! Gegen die Religion! Gegen die Kirche! Gegen den Staat! rubriziert. Quint hatte sich für die freie Liebe erklärt und mit Entschiedenheit gegen das Privateigentum, wobei, was die Sache nur noch verschlimmerte, das christliche Mäntelchen herhalten mußte.
Der Staatsanwalt hatte den Schlächtermeister und Wirt vom Grünen Baum sowie den Restaurateur und Geschäftsinhaber des »Musenhains« verhört oder verhören lassen, und besonders das Protokoll des sogenannten schwarzen Karl war von allen für Quint das am meisten belastende. Der Beamte sagte, selbst das Gefühl dieses nicht gerade musterhaften Christen habe sich gegen die Blasphemien dieses Menschen aufgebäumt.
Der untersuchende Richter sowie der Offizialverteidiger waren von der Schuld Emanuels nicht überzeugt, trotzdem man bei der Leiche Ruths, und zwar unter dem Hemd, auf bloßer Brust, einen Brief gefunden hatte, der »Emanuel Quint« unterschrieben war und das Mädchen nach Breslau in Quintens Umgebung, mit einigen schwülstigen, überspannten Phrasen, die von der Nähe des Neuen Zions faselten, lud. Der Staatsanwalt gab zwar zu, der Brief sei von dem Delinquenten selbst vielleicht nicht geschrieben, da er eine unbeholfene Hand zeigte, die den Quintschen Schriftproben unähnlich war, aber er meinte, er wäre diktiert worden. Er behauptete ferner: es sei bezeichnend für die tiefe Verderbnis Quints, wenn er wirklich nur durch Gelegenheit zu dem widernatürlichen, bestialischen Morde gekommen sei, daß er den traurigen Mut besessen habe, das wohlerzogene Kind in jene Lasterhöhlen herbeizulocken, jenen Sumpf, der hier in der Stadt das Element seines Daseins gewesen war.
Nun also: Untersuchungsrichter und Verteidiger teilten diese Ansichten nicht. Man hatte Quinten den Brief gezeigt und auch daraufhin nur ein Schweigen zur Antwort erhalten. Eines Tages boten sich Rittergutsbesitzer Glaser, Geheimrat Mendel und Maler Kurz als Zeugen dafür an, daß sie Emanuel Quint der ihm zur Last gelegten Tat nicht für fähig hielten. Dies tat Herr Glaser, obgleich sein Sohn durch Quint, an jenem Abend im »Musenhain«, arg verwirrt und betört worden war. Er hatte nämlich von Benjamin am nächsten Tage einen ausführlichen Brief erhalten, worin er in aller Form auf seine künftige große Erbschaft verzichten wollte, war daraufhin nach Breslau gereist und hatte gefunden, wie sein Sohn in seinem Entäußerungsdrange bereits den Inhalt seiner hübschen Wohnung zur Hälfte verschenkt hatte. Er lachte, packte ihn auf und schickte den jungen Menschen mit einem seiner Freunde, einem jungen Arzt – und zwar unter dessen Verantwortung –, nach dem Haag und später auf eine Nordlandreise.
Dominik und Elise Schuhbrich waren tot in einem kleinen Wäldchen draußen, unweit der Oder, gefunden worden. Sie hatten, nach Übereinkunft, mit eigenem Willen dort ihrem Leben ein Ziel gesetzt. Eine Kugel aus dem Revolver Dominiks hatte die Geliebte, eine zweite ihn selber hingerafft. Er lag, als beide, erst einige Tage nach der Tat, von polnischen Flößern entdeckt wurden, mit seiner Stirn auf Elisens Brust.
Natürlich belastete dieser Vorfall Quint, besonders als man nach einiger Zeit genügende Anhaltspunkte zu haben meinte, in Quint den Verderber und Verführer auch dieser Jünglingsseele zu sehen. Der Häftling wurde denn eines Tages auch dem Vater Dominiks, einem Postbeamten, vorgestellt, der übrigens ohne sichtbare Zeichen der Trauer, ausgenommen den schwarzen Krepp um den rechten Arm, den Toten und seine Handlungsweise mit trockenen, harten Schlüssen verurteilte.
Wie er den Sohn nun einmal betrachtete, schien er eher durch seinen Tod von einer quälenden Sorge befreit als betrübt zu sein. Solange er lebte, hatte er einen Teil seines schmalen Gehalts für seine Erziehung abtreten müssen, was ihm ein immerwährender Anlaß zur Entsagung sowie des Kummers und Ärgernisses war: eine Tatsache, die er dem Sohne bei jeder Gelegenheit ohne Umschweife deutlich machte.
Quint schüttelte sich, nachdem der rechtliche und korrekte Beamte gegangen war, als ob ihn ein physischer Ekel anwandele. Seine Aufseher gaben an, er habe bei dieser Gelegenheit laut gesagt, daß nichts den Menschen so klein und verrucht mache als die Sorge ums tägliche Brot. [...]
Man weiß, wie Gefangene durch die Wände, von Zelle zu Zelle, sich mittels Klopfens verständigen. Die sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets werden, je nach Bedarf, mit so viel Schlägen bezeichnet, als die Nummer beträgt, die jeder von ihnen in der gesamten Reihe innehat. So wurden die unfreiwilligen Bewohner des Untersuchungsgefängnisses und vieler anderer Zellen auf Flügel B durch die seltsame Nachricht eine Zeitlang belustigt und aufgeregt, die mit Klopfsignalen von unten, von oben, von rechts und von links durch die Wände drang: nämlich, daß Christus selbst in einer der Zellen zugegen wäre. [...]
Mittlerweile wurden durch eine Fabrikarbeiterin namens Katzmarek gewisse Tatsachen zur Kenntnis der Behörde gebracht, die nach und nach den Verdacht des Mordes einigermaßen von Emanuel ablenkten. Eines Tages fragte man ihn, ob er einen gewissen Menschen, der nach der Schilderung mit dem böhmischen Josef identisch war, kenne und ihn des Mordes für fähig halte. Quint sagte zwar, er kenne ihn, daß er aber den Mord nicht verübt habe, sei ihm gewiß. Trotz des Stillschweigens, dessen Quint sich leider befleißigte und das man schlechterdings nur als Ausfluß seines Schuldbewußtseins deuten konnte, waren doch aber nun die Zweifel der Anklagebehörde rege gemacht, und nachdem die Untersuchung eine Zeitlang auch in einer anderen Richtung betrieben worden war, hatten sich die Resultate der Nachforschung endlich zu einem fast lückenlosen Entlastungsbeweise für Quint zusammengeordnet. Man hatte die Spuren des böhmischen Josef genau verfolgt und wußte, wo er an jedem Tage der letzten Wochen vor Begehung der scheußlichen Tat gewesen war. Er war um die Apotheke geschlichen, in der die kleine Ruth bei Freunden der Eltern seinerzeit, um sie auf andere Gedanken zu bringen, untergebracht worden war. Er hatte dann auf dem Miltzscher Dominium Arbeit gefunden. Eine Anzahl Zeugen meldeten sich, denen der häßliche Mensch in Begleitung des lieblichen Mädchens aufgefallen war, als er sie, meistens auf Feldwegen, gen Breslau führte. Den Menschen selber aufzufinden, gelang indessen trotz aller Bemühungen nicht.
Als man Quint, dessen Alibi allmählich durch Zeugen durchaus erwiesen ward, die günstige Wendung der Sache mitteilte und ihm die Aussicht auf seine nahe Freiheit nicht vorenthielt, legte der Narr zum Schrecken des Anwalts und zur nicht geringen Verlegenheit der Behörde das Geständnis des Mordes ab.
Das Geständnis konnte indessen nicht Stich halten. Man stand auf dem Punkt, den Narren dennoch in Freiheit zusetzen, als man eben an der Stelle, wo der Mord an der kleinen bejammernswerten Ruth verübt worden war, die Leiche des böhmischen Josef fand, der sich am Ast einer Weide erhängt hatte. Es hätte kaum der Selbstbezichtigung mehr bedurft, die man in seiner Tasche fand, ebenso unbeholfen als umständlich niedergeschrieben, um seine Schuld über allen Zweifel erwiesen zu sehen.
Die Kunde von der Entdeckung des wahren Täters drang natürlich sogleich zu den Heidebrands und von da zu Lehrer Krause hinüber, wo sie im Befinden Mariens eine Wandlung zum Besseren hervorbrachte. Das Mädchen hatte ihre Tage, seit dem Verschwinden Emanuels, in Absonderung von allem Verkehr zugebracht, und als der allgemein geteilte Verdacht ihn zum Verbrecher stempelte, war ihre Gesundheit buchstäblich zusammengebrochen. Es kamen Ärzte, man rief den Miltzscher Schäfer herbei, man versuchte es wiederum mit dem sogenannten Gesundbeten, ohne daß es gelang, den Zustand des Mädchens zu bessern. Sie erbrach die Speisen, sooft man sie etwas zu essen zwang, sie litt an einer schrecklichen Blutleere, schließlich vermochte sie kaum noch, vor Schwindel und Herzklopfen, die wenigen Schritte von ihrem Bett bis ans Fenster zu gehen, wo sie, in einem Korbstuhl sitzend, einige Stunden täglich Luft atmen mußte.
Man hatte hier die Idee von einem schlimmen Lotterdasein bekommen, das Quint in der Großstadt geführt und das ihn ins Verderben gestürzt haben sollte. Man fing diese Ansicht, als die Unschuld Quints an dem Morde bekannt wurde, zu modifizieren an. Und nun, wie gesagt, geschah es, daß sich die Gesundheit Mariens zusehends besserte. Sie aß, sie sprach, ihre Wangen nahmen ein wenig Farbe an. Bald unternahm sie kleine Spaziergänge. Sie richtete einen Brief an ihre Schwester Hedwig, die noch immer im Krankenhaus Professor Mendels beschäftigt war, worin sie den Tag zu wissen wünschte, an dem Emanuel aus dem Gefängnis vermutlich entlassen werden würde.
Für die Entlassung war der erste Oktober festgesetzt und das Datum Emanuel mitgeteilt worden. Er hatte also den ganzen Sommer in Untersuchungshaft zugebracht. In seiner Antwort auf einen Brief, den er in seiner Zelle erhielt, ein Schreiben, in dem Hedwig Krause Mariens Frage an ihn weitergab und zugleich mitteilte, daß ihre Schwester Maria, sie selbst und ihr Bräutigam, Bernhard Kurz, Quinten am Gefängnistor erwarten und in Empfang nehmen würden, – in seiner Antwort auf diese Nachricht sagte Quint eine Unwahrheit: er gab auf das allerbestimmteste als den Tag seiner Entlassung nicht den ersten Oktober, sondern den zweiten an.
Als am zweiten Oktober der Maler Kurz mit den beiden Mädchen mittags zwölf Uhr am Eingang des Inquisitoriats erschien, fing für sie ein langes vergebliches Warten und Nachfragen an, wodurch sie am Ende zu der Überzeugung gelangen mußten, daß sie Emanuel Quint verfehlt hatten. Sie glaubten zunächst natürlich, ihn, womöglich am gleichen Tage, noch irgendwo in der Stadt zu entdecken, eine Vermutung, die leider nicht zutreffend war. Sie haben ihn nicht nur an diesem und an den folgenden Tagen vergeblich gesucht, sondern ihn überhaupt niemals wiedergesehen.
Quint hatte sich am Tage vorher stillschweigend davongemacht. Da sein Prozeß nicht verhandelt worden war, hatte man seiner in der beschränkten Öffentlichkeit, die sein Fall erlangt hatte, längst vergessen, als er wieder auf freiem Fuße stand.
In der Nähe des Platzes, an dem die kleine Ruth ihr Ende gefunden hatte, erschien am ersten Oktober ein lang aufgeschossener, dürftig gekleideter, rotblonder und bleicher Mensch, der von einigen Leuten gesehen wurde. Er trieb sich lange in der Gegend der Mordtat herum. Er pochte kurz darauf an die Türe eines Küsters leise an, worauf das Weib des Küsters, einen Bettler vermutend, öffnete. »Ich bin Christus! Gib mir ein Nachtlager!« Da schlug sie ihm, selbstverständlich tief erschrocken, sogleich mit ganzer Kraft die Tür vor der Nase zu.
So ging es auch im Hause des Lehrers einige Tage später, wo einst Emanuel Quint, im Schulzimmer, Bruder Nathanaels Bußpredigt gelauscht hatte. Die Lehrersleute saßen bei Tisch, und ein kalter Herbstwind durchbrauste draußen die Dunkelheit. Man hörte einen Schritt auf der Hausschwelle und hernach ein Pochen gegen die Tür. Die Frau wollte nicht öffnen, sie fürchtete sich. Nachdem, aus irgendeinem Grunde ängstlich geworden, der fromme Lehrer seine Seele dem Herrn empfohlen hatte, öffnete er und fragte durch den Türspalt: »Wer ist hier?« – »Christus!« kam es leise zur Antwort. Und sofort schlug mit einer Gewalt, die das Häuschen erbeben machte, von der Hand des Lehrers gerissen, die Tür ins Schloß. Er kam schlotternd herein zu seiner Frau und behauptete, draußen stünde ein Wahnsinniger.
Etwa eine Woche nach diesen Vorfällen brachten Berliner Zeitungen diese kurze Notiz:
»Die Bewohner des Ostens unserer Stadt werden seit einiger Zeit durch die Erscheinung eines Menschen beunruhigt, der nie um Geld, sondern immer nur um Obdach und Brot bittet und auf die stereotype Frage: Wer ist da? sich als Christus bezeichnet. Man kann sich denken, welchen Schreck der im übrigen wahrscheinlich harmlose Irre überall, wo er auftaucht, verursacht. Er dürfte wenig Geschäfte machen. Die Hausfrauen schieben meist, kaum daß die ominöse Bezeichnung gefallen ist, den Riegel vor und bringen die Sicherheitskette in Ordnung.«
Wiederum eine Woche später fing der gleiche Unfug in der ehemaligen freien Reichsstadt Frankfurt am Main die Leute ein Weilchen zu beschäftigen an. Vor dem Narren und Bettler, der sich Christus nannte, waren mittlerweile zwischen Berlin und Frankfurt Hunderte und aber Hunderte von Haustüren zugeflogen. Ein Frankfurter, der die Angelegenheit auf ironische Weise nahm, sagte, der Herrgott in seinem Himmel müsse unzweifelhaft durch den ungewohnten, wilden Lärm des Türenschlagens neuerdings auf die Vorgänge unter dem Menschengeschlecht aufmerksam geworden sein.
Unwillkürlich dankt man dem Himmel, daß nur ein armer Erdennarr und nicht Christus selber der Wanderer gewesen ist: dann hätten nämlich Hunderte von katholischen und protestantischen Geistlichen, Arbeitern, Beamten, Landräten, Kaufleuten aller Art, Generalsuperintendenten, Bischöfen, Adligen und Bürgern, kurz zahllose fromme Christen den Fluch der Verdammnis auf sich geladen.
Aber wie konnte man wissen – obgleich wir: »Führe uns nicht in Versuchung!« beten –, ob es nicht doch am Ende der wahre Heiland war, der in der Verkleidung des armen Narren nachsehen wollte, inwieweit seine Saat, von Gott gesäet, die Saat des Reiches, inzwischen gereift wäre?
Dann hätte Christus seine Wanderung, wie ermittelt wurde, über Darmstadt, Heidelberg, Karlsruhe, Basel, Zürich, Luzern bis nach Göschenen und Andermatt fortgesetzt und hätte überall immer nur von dem gleichen Türenschlagen an seinen Vater im Himmel berichten können. Nämlich der Narr, der sich Christus nannte, teilte zuletzt mit zwei armen,barmherzigen Schweizer Berghirten, oberhalb Andermatt, Brot und Nachtquartier. Seitdem ist er nicht mehr gesehen worden.
Dem Chronisten, der auf den Spuren Emanuel Quintens ging, ist es wahrscheinlich, daß jener Mensch, der seinen Christuswahn, verlassen und einsam, durch Deutschland und durch die Schweiz schleppte, der verschwundene arme Tischlergeselle aus Schlesien war. Er war auch derselbe, wie ihm scheint, der oberhalb des Gotthardhospizes nach der Schneeschmelze im Frühjahr darauf erstarrt und zusammengekauert gefunden wurde. Unzweifelhaft hatte sich Quint beim tiefen Schneegestöber verirrt, hatte das Hospiz, auf dem Passe zu milderen Breiten, verfehlt und war in die Wildnis des Pizzo Centrale hinaufgeraten. Dort hatten Nacht, Nebel und Schneegestöber ihn eingesargt.
Dies mußte im Spätherbst oder beginnenden Winter gewesen sein, denn er hatte, als ihn die Sennen heraushoben, sicherlich fünf oder sechs Monate lang in der tiefsten Schnee- und Eisschicht verborgen gesteckt. Auf einem Briefbogen, den man in seiner Tasche fand, waren die Worte noch deutlich zu lesen gewesen: »Das Geheimnis des Reichs?«, die keiner beachtete noch verstand, die aber dem Chronisten, als er das traurige Dokument in Händen hielt, eine gewisse Rührung abnötigten. War er überzeugt oder zweifelnd gestorben? Wer weiß es? Der Zettel enthält eine Frage, sicherlich! Aber was bedeutet es: Das Geheimnis des Reichs?
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Kapitel 30)