19 Januar 2021

Aus einem unbekannten Theaterstück eines bekannten Autors

 1. Akt

7. Auftritt:

Breme: Das will ich Euch nachher erzählen. Nun hört mich weiter an. Nach diesem geschlossenen Receß überließen die Gemeinden an die Herrschaft ein Paar Fleckchen Holz, einige Wiesen, einige Triften und sonst noch Kleinigkeiten, die Euch von keiner Bedeutung waren und der Herrschaft viel nutzten: denn man sieht, der alte Graf war ein kluger Herr, aber auch ein guter Herr. Leben und leben lassen, war sein Spruch. Er erließ den Gemeinden dagegen einige zu entbehrende Frohnen und – 

Albert: Und das sind, die wir noch immer leisten müssen. Breme. Und machte ihnen einige Convenienzen – 

Martin: Die wir noch nicht genießen. 

Breme: Richtig, weil der Graf starb, die Herrschaft sich in Besitz dessen setzte, was ihr zugestanden war, der Krieg einfiel, und die Unterthanen noch mehr thun mußten, als sie vorher gethan hatten. 

Peter: Es ist accurat so, so hab' ich's mehr als ein Mahl aus der Advocaten Munde gehört. 

Breme: Und ich weiß es besser als der Advocat, denn ich sehe weiter. Der Sohn des Grafen, der verstorbene gnädige Herr, wurde eben um die Zeit volljährig. Das war, bey Gott! ein wilder böser Teufel, der wollte nichts herausgeben, und mißhandelte Euch ganz erbärmlich. Er war im Besitz, der Receß war fort, und nirgends zu finden. 

Albert: Wäre nicht noch die Abschrift da, die unser verstorbener Pfarrer gemacht hat, wir wüßten kaum etwas davon. 

Breme: Diese Abschrift ist euer Glück und euer Unglück. Diese Abschrift gilt Alles vor jedem billigen Menschen, vor Gericht gilt sie nichts. Hättet Ihr diese Abschrift nicht, so wäret Ihr ungewiß in dieser Sache. Hätte man diese Abschrift der Herrschaft nicht vorgelegt, so wüßte man nicht, wie ungerecht sie denkt. 

Martin: Da müßt Ihr auch wieder billig seyn. Die Gräfinn läugnet nicht, daß Vieles für uns spricht; nur weigert sie sich den Vergleich einzugehen, weil sie, in Vormundschaft ihres Sohnes, sich nicht getraut, so etwas abzuschließen. 

Albert: In Vormundschaft ihres Sohnes! hat sie nicht den neuen Schloßflügel bauen lassen, den er vielleicht sein Lebtage nicht bewohnt, denn er ist nicht gern in dieser Gegend. 

Peter: Und besonders da er nun eine Brausche gefallen hat. 

Albert: Hat sie nicht den großen Garten und die Wasserfälle anlegen lassen, worüber ein Paar Mühlen haben müssen weggekauft werden? das getraut sie sich Alles in Vormundschaft zu thun, aber das Rechte, das Billige. das getraut sie sich nicht. 

Breme: Albert, du bist ein wackrer Mann, so hör' ich gern reden, und ich gestehe wohl, wenn ich von unserer gnädigen Gräfinn manches Gute genieße und deßhalb mich für ihren unterthänigen Diener bekenne, so möchte ich doch auch darin meinem König nachahmen, und euer Sachwalter seyn. 

Peter: Das wäre recht schön. Macht nur daß unser Prozeß bald aus wird. 

Breme: Das kann ich nicht, das müßt Ihr. 

Peter: Wie wäre denn das anzugreifen? 

Breme: Ihr guten Leute wißt nicht, daß Alles in der Welt vorwärts geht, daß heute möglich ist, was vor zehen Jahren nicht möglich war. Ihr wißt nicht, was jetzt  alles unternommen, was alles ausgeführt wird.

[...]

Peter: Unter den Meinigen findet sich wohl einer, der sich an die Spitze stellt; ich verbitte mir den Auftrag.

Martin: Seit den paar letzten Predigten, die der Magister hielt, weil der alte Pfarrer so krank liegt, ist das ganze große Dorf hier in Bewegung.

Breme: Gut! so kann was werden. Ich habe ausgerechnet, daß wir über sechshundert Mann stellen können. Wollt ihr, so ist in der nächsten Nacht alles getan.

Martin:  In der nächsten Nacht?

Breme: Es soll nicht wieder Mitternacht werden, und ihr sollt wieder haben alles, was euch gebührt, und mehr dazu.

Peter: So geschwind? wie wäre das möglich?

Albert: Geschwind oder gar nicht.

Breme: Die Gräfin kommt heute an, sie darf sich kaum besinnen. Rückt nur bei einbrechender Nacht vor das Schloß und fordert eure Rechte, fordert eine neue Ausfertigung des alten Reverses, macht euch noch einige kleine Bedingungen, die ich euch schon angeben will, laßt sie unterschreiben, laßt sie schwören, und so ist alles getan.

Peter: Vor einer solchen Gewalttätigkeit zittern mir Arm und Beine.

Albert: Narr! Wer Gewalt braucht, darf nicht zittern.

Martin:  Wie leicht können sie uns aber ein Regiment Dragoner über den Hals ziehen. So arg dürfen wir's doch nicht machen. Das Militär, der Fürst, die Regierung würden uns schön zusammenarbeiten.

Breme: Gerade umgekehrt. Das ist's eben, worauf ich fuße. Der Fürst ist unterrichtet, wie sehr das Volk bedrückt sei. Er hat sich über die Unbilligkeit des Adels, über die Langweiligkeit der Prozesse, über die Schikane der Gerichtshalter und Advokaten oft genug deutlich und stark erklärt, so daß man voraussetzen kann: er wird nicht zürnen, wenn man sich Recht verschafft, da er es selbst zu tun gehindert ist.

Peter: Sollte das gewiß sein?

Albert: Es wird im ganzen Lande davon gesprochen.

Peter: Da wäre noch allenfalls was zu wagen.

Breme: Wie ihr zu Werke gehen müßt, wie vor allen Dingen der abscheuliche Gerichtshalter beiseite muß, und auf wen noch mehr genau zu sehen ist, das sollt ihr alles noch vor Abend erfahren. Bereitet eure Sachen vor, regt eure Leute an und seid mir um sechse beim Herrenbrunnen. Daß Jakob nicht kommt, macht ihn verdächtig; ja es ist besser, daß er nicht gekommen ist. Gebt auf ihn acht, daß er uns wenigstens nicht schade; an dem Vorteil, den wir uns erwerben, wird er schon teilnehmen wollen. Es wird Tag; lebt wohl und bedenkt nur, daß, was geschehen soll, schon geschehen ist. Die Gräfin kommt eben erst von Paris zurück, wo sie das alles gesehn und gehört hat, was wir mit so vieler Verwunderung lesen; vielleicht bringt sie schon selbst mildere Gesinnungen mit, wenn sie gelernt hat, was Menschen, die zu sehr gedrückt werden, endlich für ihre Rechte tun können und müssen.

Martin: Wir wissen nicht, wie wir's Euch danken sollen. 

Martin:  Lebt wohl, Gevatter, lebt wohl! Punkt sechse bin ich am Herrenbrunnen.

Albert: Ihr seid ein tüchtiger Mann! Lebt wohl.

Peter: Ich will Euch recht loben, wenn's gut abläuft. 

Martin: Wir wissen nicht, wie wir's Euch danken sollen.

Breme: (mit Würde). Ihr habt Gelegenheit genug mich zu verbinden. Das kleine Capital zum Exempel von zweyhundert Thalern, das ich der Kirche schuldig bin, erlaßt Ihr mir ja wohl. 

Martin: Das soll uns nicht reuen. 

Albert: Unsere Gemeine ist wohlhabend und wird auch gerne was für Euch thun. 

Breme: Das wird sich finden. Das schöne Fleck, das Gemeindegut war, und das der Gerichtshalter zum Garten einzäunen und umarbeiten lassen, das nehmt Ihr wieder in Besitz und überlaßt mir's. 

Albert: Das wollen wir nicht ansehen, das ist schon verschmerzt. Peter. Wir wollen auch nicht zurück bleiben. 

Breme: Ihr habt selbst einen hübschen Sohn und ein schönes Gut, dem könnt' ich meine Tochter geben. Ich bin nicht stolz, glaubt mir, ich bin nicht stolz. Ich will Euch gern meinen Schwäher heißen.

 Peter: Das Mamsellchen ist hübsch genug; nur ist sie schon zu vornehm erzogen. 

Breme:  Nicht vornehm, aber gescheidt. Sie wird sich in jeden Stand zu finden wissen. Doch darüber läßt sich noch vieles reden. Lebt jetzt wohl, meine Freunde. lebt wohl! Alle. So lebt denn wohl! [...]

2. Akt

2. Auftritt

Die Gräfin beschwert sich beim Amtmann, dass sie die Straßen in ihrer Grafschaft nahezu unbefahrbar vorgefunden habe. Der entschuldigt sich damit, dass die Bauern wegen eines Rechtsstreits mit der Gräfin sich unwillig zur Fronarbeit gezeigt hätten; aber man dürfe ihnen doch nicht nachgeben:

Amtmann: Und freylich, da nun eben wegen dieses Streites, welcher vor dem kaiserlichen Reichskammergericht auf das Eifrigste betrieben wird, seit einem Jahre an keine Wegebesserung zu denken gewesen und überdieß die Holzfuhren stark gehen, in diesen letztern Tagen auch anhaltendes Regenwetter eingefallen; so möchte denn freylich Jemanden, der gute Chausseen gewohnt ist, unsere Straße gewisser Maßen impraktikabel vorkommen. [...]

Gräfin: Ich muß sagen, darin bin ich anderer Meinung, und gehörten diese Besitztümer mir eigen, müßte ich mich nicht bloß als Verwalterin ansehen, so würde ich über manche Bedenklichkeit hinausgehen, ich würde mein Herz hören, das mir Billigkeit gebietet, und meinen Verstand, der mich einen wahren Vorteil von einem scheinbaren unterscheiden lehrt. Ich würde großmütig sein, wie es dem gar wohl ansteht, der Macht hat. Ich würde mich hüten, unter dem Scheine des Rechts auf Forderungen zu beharren, die ich durchzusetzen kaum wünschen müßte und die, indem ich Widerstand finde, mir auf lebenslang den völligen Genuß eines Besitzes rauben, den ich auf billige Weise verbessern könnte. Ein leidlicher Vergleich und der unmittelbare Gebrauch sind besser als eine wohl gegründete Rechtssache die mir Verdruß macht und von der ich nicht einmal den Vorteil für meine Nachkommen einsehe.

Handlungsführung:

Das Original eines Dokuments, in dem der Graf den Bauern mehr Freiheiten zugestanden hat, ist verschwunden. Vom Chirurg Breme aufgestachelt, wollen die Bauern die Tochter des Grafen zwingen, ein neues Dokument aufzusetzen, in dem sie ihnen diese Rechte von sich aus bestätigt. - Das Dokument ist aber nicht von der Herrschaft unterdrückt worden, sondern von dem konservativen Amtmann, der verhindern will, dass die junge Gräfin den Bauern solche Zugeständnisse macht. 

Während die Bauern den Sturm auf das Schloss vorbereiten, gelingt es der gräflichen Familie, den Amtmann zur Herausgabe des Originals zu bringen, so dass die Bauern einsehen müssen, ihnen gar keine Rechte vorenthalten werden sollen.

Goethe hat nur einen Teil der Handlung szenisch gestaltet. So blieb das Drama Fragment.

(Goethe: Die Aufgeregten

Wikipediaartikel:

"Die Aufgeregten ist ein Fragment gebliebenes politisches Drama in fünf Aufzügen von Johann Wolfgang von Goethe. Es entstand 1793 unter dem Eindruck des ersten Koalitionskrieges gegen das revolutionäre Frankreich.[1][...] Gegenüber Johann Peter Eckermann hat Goethe Die Aufgeregten als sein „politisches Glaubensbekenntnis jener Zeit“ bezeichnet.[6] Er sah es als Zeugnis dafür, dass er zwar kein Freund der Französischen Revolution gewesen war, aber – anders als oft behauptet – eben auch kein Freund herrischer Willkür.

Tatsächlich führt Goethe in diesem Stück die negativen Folgen fürstlicher Unterdrückung vor Augen und zeigt dabei Verständnis für die Empörung der Bauern. Die Gräfin ist ihrerseits durch die Erfahrung der Revolution in Frankreich geläutert: Sie will, wie sie selbst betont, künftig in der Gesellschaft, bei Hofe und in der Stadt zu keiner Ungerechtigkeit mehr schweigen und zugleich den Bauern zu ihrem Recht verhelfen.[7]

Gleichzeitig rüttelt Goethe aber mit diesem Revolutionsstück nicht an den Standesgrenzen: Jeder soll auf seinem Platz das Richtige und Gerechte tun. Die Lösung kommt am Ende nicht durch Rebellion, sondern durch die Einsicht guter Fürsten."

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