28 Januar 2021

Homer: Odyssee - Bei den Phäaken: Odysseus weint über Demodokos' Gesang und beginnt zu erzählen

Jetzo kam auch der Herold und führte den lieblichen Sänger,
Denn sie nahm ihm die Augen und gab ihm süße Gesänge.
Und Pontonoos setzt' ihm den silberbeschlagenen Sessel

Mitten unter den Gästen an eine ragende Säule,

Hängte darauf an den Nagel die lieblichklingende Harfe

Über des Sängers Haupt und führt' ihm die Hand, sie zu finden.

Vor ihn stellte der Herold den schönen Tisch und den Eßkorb

Und den Becher voll Weins, zu trinken, wann ihm beliebte.

Und sie erhoben die Hände zum leckerbereiteten Mahle.

Aber als die Begierde des Tranks und der Speise gestillt war,

Trieb die Muse den Sänger, das Lob der Helden zu singen.

Aus dem Liede, des Ruhm damals den Himmel erreichte,

Wählt' er Odysseus' Zank und des Peleiden Achilleus:

Wie sie einst miteinander am festlichen Mahle der Götter

Heftig stritten und sich der Führer des Heers Agamemnon

Herzlich freute beim Zwiste der tapfersten Helden Achaias.

Denn dies Zeichen war ihm von Phöbos Apollon geweissagt,

In der heiligen Pytho, da er die steinerne Schwelle

Forschend betrat; denn damals entsprang die Quelle der Trübsal

Für die Achaier und Troer, durch Zeus' des Unendlichen Ratschluß.

Dieses sang der berühmte Demodokos. Aber Odysseus

Faßte mit nervichten Händen den großen purpurnen Mantel,

Zog ihn über das Haupt und verhüllte sein herrliches Antlitz,

Daß die Phaiaken nicht die tränenden Wimpern erblickten.

Als den Trauergesang der göttliche Sänger geendigt,

Trocknet' er schnell der Tränen und nahm vom Haupte den Mantel,

Faßte den doppelten Becher und goß den Göttern des Weines.

Aber da jener von neuem begann und die edlen Phaiaken

Ihn zum Gesang ermahnten, vergnügt durch die reizenden Lieder,

Hüllt' Odysseus wieder sein Haupt in den Mantel und traurte.

Allen übrigen Gästen verbarg er die stürzende Träne,

Nur Alkinoos sah aufmerksam die Trauer des Fremdlings,

Welcher neben ihm saß, und hörte die tiefen Seufzer. 

[...] (8. Gesang)

Jetzo gefällt es dir, nach meinen kläglichen Leiden

Mich zu fragen, damit ich noch mehr mein Elend beseufze.

Aber was soll ich zuerst, was soll ich zuletzt dir erzählen?

Denn viel Elend häuften auf mich die himmlischen Götter!

Sagen will ich zuerst, wie ich heiße, damit ihr mich kennet,

Und ich hinfort, solange der grausame Tag mich verschonet,

Euer Gastfreund sei, so fern ich von hinnen auch wohne.

Ich bin Odysseus, Laertes' Sohn, durch mancherlei Klugheit

Unter den Menschen bekannt, und mein Ruhm erreichet den Himmel.

Ithakas sonnige Höhn sind meine Heimat; in dieser

Türmet sich Neritons Haupt mit rauschenden Wipfeln, und ringsum,

Dicht aneinander gesät, sind viele bevölkerte Inseln,

Same, Dulichion und die waldbewachsne Zakynthos.

Ithaka liegt in der See am höchsten hinauf an die Feste,

Gegen den Nord; die andern sind östlich und südlich entfernet.

Rauh ist diese, doch nähret sie rüstige Männer, und wahrlich,

Süßer als Vaterland ist nichts auf Erden zu finden!

Siehe, mich hielt bei sich die hehre Göttin Kalypso

In der gewölbeten Grotte und wünschte mich zum Gemahle;

Ebenso hielt mich auch die aiaiische Zauberin Kirke

Trüglich in ihrem Palast und wünschte mich zum Gemahle:

Aber keiner gelang es, mein standhaftes Herz zu bewegen.

Denn nichts ist doch süßer als unsere Heimat und Eltern,

Wenn man auch in der Fern ein Haus voll köstlicher Güter,

Unter fremden Leuten, getrennt von den Seinen, bewohnet!

Aber wohlan! vernimm itzt meine traurige Heimfahrt,

Die mir der Donnerer Zeus vom troischen Ufer beschieden.

Gleich von Ilion trieb mich der Wind zur Stadt der Kikonen,

Ismaros, hin. Da verheert ich die Stadt und würgte die Männer.

Aber die jungen Weiber und Schätze teilten wir alle

Unter uns gleich, daß keiner leer von der Beute mir ausging.

Jetzo warnet ich zwar die Freunde, mit eilendem Fuße

Weiter zu fliehn; allein die Unbesonnenen blieben.

Und nun ward in dem Weine geschwelgt, viel Ziegen und Schafe

An dem Ufer geschlachtet und viel schwerwandelndes Hornvieh.

Aber es riefen indes die zerstreuten Kikonen die andern

Nahen Kikonen zu Hilfe, die tapferer waren und stärker,

Aus der Mitte des Landes. Sie waren geübt, von den Wagen,

Und wenn es nötig war, zu Fuß mit dem Feinde zu kämpfen.

Zahllos schwärmten sie jetzt, wie die Blätter und Blumen des Frühlings,

Mit dem Morgen daher. Da suchte Gottes Verderben

Uns Unglückliche heim und überhäuft' uns mit Jammer.

Bei den rüstigen Schiffen begann die wütende Feldschlacht,

Und von Treffen zu Treffen entschwirrten die ehernen Lanzen.

Weil der heilige Tag noch mit dem Morgen emporstieg,

Wehrten wir uns und trotzten der Übermacht der Kikonen.

Aber da nun die Sonne zur Stunde des Stierabspannens

Sank, da siegte der Feind und zwang die Achaier zum Weichen.

Jedes der Schiffe verlor sechs wohlgeharnischte Männer,

Und wir andern entflohn dem schrecklichen Todesverhängnis.

Also steuerten wir mit trauriger Seele von dannen,

Froh der bestandnen Gefahr, doch ohne die lieben Gefährten.

Doch nicht eher enteilten die gleichgeruderten Schiffe,

Ehe wir dreimal jedem der armen Freunde gerufen,

Welche der siegende Feind auf dem Schlachtgefilde getötet.

Aber nun sandt auf die Schiffe der Wolkenversammler des Nordwinds

Fürchterlich heulenden Sturm, verhüllt' in dicke Gewölke

Meer und Erde zugleich, und dem düstern Himmel entsank Nacht.

Schnell mit gesunkenen Masten entflogen die Schiff', und mit einmal

Rasselte rauschend der Sturm und zerriß die flatternden Segel.

Eilend zogen wir sie, aus Furcht zu scheitern, herunter

Und arbeiteten uns mit dem Ruder ans nahe Gestade.

Zwo grauenvolle Nächte und zween langwierige Tage

Lagen wir mutlos dort, von Arbeit und Kummer entkräftet.

Aber da nun die dritte der Morgenröten emporstieg,

Richteten wir die Masten und spannten die schimmernden Segel,

Setzten uns hin und ließen vom Wind und Steuer uns lenken.

Jetzo hofften wir sicher den Tag der fröhlichen Heimkehr.

Aber als wir die Schiff' um Maleia lenkten, da warf uns

Plötzlich die Flut und der Strom und der Nordwind fern von Kythera.

Und neun Tage trieb ich, von wütenden Stürmen geschleudert,

Über das fischdurchwimmelte Meer; am zehnten gelangt' ich

Hin zu den Lotophagen, die blühende Speise genießen.

Allda stiegen wir an das Gestad und schöpften uns Wasser.

Eilend nahmen die Freunde das Mahl bei den rüstigen Schiffen,

Und nachdem wir uns alle mit Trank und Speise gesättigt,

Sandt ich einige Männer voran, das Land zu erkunden,

Was für Sterbliche dort die Frucht des Halmes genössen,

Zween erlesene Freund'; ein Herold war ihr Begleiter.

Und sie erreichten bald der Lotophagen Versammlung.

Aber die Lotophagen beleidigten nicht im geringsten

Unsere Freunde, sie gaben den Fremdlingen Lotos zu kosten.

Wer nun die Honigsüße der Lotosfrüchte gekostet,

Dieser dachte nicht mehr an Kundschaft oder an Heimkehr,

Sondern sie wollten stets in der Lotophagen Gesellschaft

Bleiben und Lotos pflücken und ihrer Heimat entsagen.

Aber ich zog mit Gewalt die Weinenden wieder ans Ufer,

Warf sie unter die Bänke der Schiff' und band sie mit Seilen.

Drauf befahl ich und trieb die übrigen lieben Gefährten,

Eilend von dannen zu fliehn und sich in die Schiffe zu retten,

Daß man nicht, vom Lotos gereizt, die Heimat vergäße.

Und sie traten ins Schiff und setzten sich hin auf die Bänke,

Saßen in Reihn und schlugen die graue Woge mit Rudern.

(Homer: Odyssee 9. Gesang)

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