03 Januar 2021

Kalevala 16. Gesang: Wäinämöinens Fahrt in die Unterwelt Tuonela

Wäinämöinen alt und wahrhaft,
Er, der ew'ge Zaubersprecher, 
Zimmerte an seinem Boote,
Arbeitet' am neuen Fahrzeug

An der nebelreichen Spitze,

Auf dem dunstumwobnen Eiland;

Doch an Holz gebrach's dem Zimmrer,

Bretter fehlten ihm zum Boote.


Wer soll Bauholz ihm nun suchen,

Wer die Eichenstämme schaffen

Zu dem Boote Wäinämöinens,

Zu dem Boden seines Fahrzeugs?


Pellerwoinen, Sohn der Fluren,

Sampsa, er, der Kleingeratne,

Mußte wohl die Bäume suchen,

Mußt' die Eichenstämme schaffen

Zu dem Boote Wäinämöinens,

Zu dem Boden seines Fahrzeugs.


Er wird von allen Bäumen weiter verwiesen, bis die Eiche ihm erklärt, dass sie für den Bootsbau geeignet sei und daher gefällt und dafür verwendet wird. 

Wäinämöinen fährt damit zur Unterwelt und bittet die Wächterin, die Tochter Tuonis,  darum, ihn über den Grenzfluss zu bringen. Da er seine wahre Absicht (das Lernen neuer Zauberwörter für den Bootsbau) nicht zugibt, durchschaut sie ihn. Als er dann die Wahrheit sagt, warnt sie ihn, sein Wunsch sei töricht und ein Fehler, ermöglicht sie ihm die Überfahrt.


Tuonis Tochter zankte weidlich,

Manas Jungfrau schalt und schmähte:

Toller Mensch in deiner Narrheit,

Mann, von Schwachsinn du befallen!

Ohne Grund und ohne Krankheit

Nach Tuonis Reich zu kommen;

Besser wär' es dir gewesen

Nach dem eignen Land zu gehen,

Viele sind's, die hierher kommen,

Viele nicht, die heimwärts kehren.


Sprach der alte Wäinämöinen:

Alte Weiber mögen weichen,

Nicht ein Mann, sei's auch ein schlechter,

Nicht ein Held, sei's auch der schwächste;

Bring' dein Boot, Tuonis Tochter,

Deine Fähre, Kind Manalas.


Tuonis Tochter bringt den Nachen,

Führt den alten Wäinämöinen

Durch die Flut der Wasserenge,

Durch den Fluß zum andern Ufer,

Redet selber diese Worte:[215]

Wehe dir, o Wäinämöinen,

Kamst ins Reich Tuonis lebend,

Ungestorben nach Manala!


Tuonetar, die gute Wirtin,

Sie, die Alte von Manala,

Bringet Bier herbei in Krügen,

In Gefäßen mit zwei Henkeln,

Redet selber diese Worte:

Trink, o alter Wäinämöinen!


Wäinämöinen alt und wahrhaft

Schaute lange auf den Bierkrug,

Frösche laichen in dem Innern,

Würmer ringeln an den Wänden;

Redet Worte solcher Weise:

Nicht bin ich hieher gekommen,

Daß Manalas Krug ich trinken,

Tuonis Becher leeren sollte,

Trunken wird des Bieres Trinker,

Wer die Kanne leert, geht unter.


Sprach die Wirtin von Tuonela:

O du alter Wäinämöinen,

Weshalb kamst du nach Manala,

In die Stuben von Tuonela,

Ehe Tuoni dich verlangte,

Eh' dich Mana abgerufen?


Sprach der alte Wäinämöinen:

Zimmerte an meinem Boote,

Baute an dem neuen Nachen,

Hatte nötig drei der Worte,

Um des Bootes Hintersteven

Und den Vorderstamm zu enden;

Da ich diese nicht gefunden,

Auf der Welt nicht hab' erlanget,[216]

Mußt' ich nach dem Reich Tuonis,

Mußt' ich nach Manala gehen,

Um die Worte zu erlangen,

Um die Sprüche zu erlernen.


Spricht die Wirtin von Tuonela,

Redet Worte solcher Weise:

Tuoni gibt die Worte nimmer,

Nicht gewährt die Sprüche Mana,

Kannst nicht wieder fort von hinnen,

Nie im Laufe deines Lebens

Nach der lieben Heimat wandern,

Nach dem eignen Lande ziehen.


Senkte dann in Schlaf den Helden,

Legt' zur Ruh' den Angekommnen

Auf Tuonis Lagerfellen;

Reglos lag der Mann in Schlummer,

Lag der Held in Schlaf versunken,

Schläft der Mann, die Kleider wachen.


War ein Weib im Reich Tuonis,

Eine wackelkinn'ge Alte,

Spinnerin von Eisenfäden,

Gießerin von Kupferdrähten,

Spann ein Netz von hundert Klaftern,

Strickte eins von tausend Maschen

Während einer Nacht des Sommers

Und auf einem Stein im Wasser.


War ein Greis im Reich Tuonis,

Drei der Finger hatt' der Alte,

Knüpfen konnt' er Eisennetze,

Kupfernetze er bereiten,

Knüpfte eins von hundert Klaftern,

Strickte eins von tausend Maschen[217]

In derselben Nacht des Sommers,

Auf demselben Stein im Wasser.


Tuonis Sohn mit Hakenfingern,

Eisenspitz'gen Hakenfingern

Zog das Netz von hundert Klaftern

Durch den Fluß im Reich Tuonis,

In die Breite, in die Länge,

Zog es hin in schräger Richtung,

Damit Wäinö nicht entkomme,

Nicht der Wogenfreund entschlüpfe,

Nimmer in dem Lauf der Zeiten,

Nie, solang das Mondlicht leuchtet,

Aus den Häusern von Tuoni,

Aus Manalas ew'gen Höfen.


Wäinämöinen alt und wahrhaft

Redet selber solche Worte:

Scheint nicht Unheil schon zu kommen,

Not auf mich hereinzubrechen

In den Stuben von Tuonela,

In Manalas ew'gen Höfen?


Rasch verwandelt er das Aussehn,

Nimmt er andere Gestalt an,

Gehet schwarzgefärbt zum Meere,

Geht als Riedgras in das Röhricht,

Kriechet als ein Wurm von Eisen,

Schlüpft als Schlangenleib behende

Durch den Fluß im Reich Tuonis,

Mitten durch Tuonis Fischgarn.


Tuonis Sohn mit Hakenfingern,

Eisenspitz'gen Hakenfingern,

Ging des Morgens in der Frühe

Seine Netze zu beschauen,[218]

Findet hundert Lachsforellen,

Tausende von kleinen Fischen,

Findet nur nicht Wäinämöinen,

Nicht den alten Freund der Wogen.


Als der alte Wäinämöinen

Aus Tuonis Reich gekommen,

Sprach er Worte solcher Weise,

Ließ auf diese Art sich hören:

Nimmer, Jumala, du Guter,

Magst du einen solchen dulden,

Der von selbst zu Mana gehet,

In Tuonis Reich sich dränget!

Viele sind's, die hingekommen,

Wen'ge die hinweggezogen

Aus den Häusern von Tuoni,

Aus Manalas ew'gen Höfen.


Sprach sodann noch diese Worte,

Ließ sich solcherart vernehmen

Zu der Jugend, die emporsteigt,

Zu dem wachsenden Geschlechte:

Übet nie, o Menschenkinder,

Nie im Laufe dieser Zeiten

Unrecht an den Schuldentblößten,

Schadet nie den Unschuldvollen,

Daß ihr nicht den Lohn empfanget

In den Häusern von Tuoni:

Dorten ist der Schuld'gen Stätte,

Dort der Lasterhaften Lager:

Unter glühend heißen Steinen,

Unter brennend hitz'gen Fliesen,

Eine Decke wird aus Schlangen,

Eklen Nattern dort gebreitet.


(Kalevala 16. Gesang)


Wäinämöinen trifft also - anders als Odysseus, Aeneas und Dante auf keine Verstorbenen, sondern nur auf die Herrscher des Totenreichs. So erfährt er nichts über die Vergangenheit oder die Zukunft seiner Welt, sondern nur, dass es ein großer Fehler ist, sich vor dem Tod in die Unterwelt zu begeben. Die Warnung von Tuonis Tochter war also berechtigt. Nur seine Zauberkunst half ihm, aus der Unterwelt zu fliehen, und er bittet die guten Gott Jumala, zu verhindern, dass  Menschen freiwillig dorthin gehen. 

Anders als bei Dante, der die antiken Vorstellungen der Unterwelt einbezieht, wird hier also nur vor der Unterwelt gewarnt. 


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