03 Januar 2021

Eva von Redecker: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen

Eva von Redecker: Revolution für das Leben

Klappentext: "[...] In den neuen Protestformen erkennt Eva von Redecker, die als Philosophin zu Fragen der Kritischen Theorie forscht und auf einem Biohof aufgewachsen ist, die Anfänge einer Revolution für das Leben, die die zerstörerische kapitalistische Ordnung stürzen könnte und unseren grundlegenden Tätigkeiten eine neue solidarische Form verspricht: Wir könnten pflegen statt beherrschen, regenerieren statt ausbeuten, teilhaben statt verwerten."

Verlagsseite mit Leseprobe

Rezensionen bei Perlentaucher

Katharina Döbler im Deutschlandfunk: "[...] Entwurf einer neuen Graswurzelrevolution gegen die Sachherrschaft und die menschengemachte Zerstörung des Planeten. [...] Was die Philosophin dem entgegensetzt, einen "rebellischen Universalismus", eine "Gemeinschaft der Teilenden", kann Döbler nachvollziehen, wenn die Lektüre sie mit der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, den Ursachen des Klimawandels, der rassistischen Unterdrückung und der kapitalistischen Herrschaft konfrontiert und durch Redeckers Marx- , Arendt- und Adorno-Lektüren führt."

Meine Stichpunkte und Zitate:

"Eine neue Form der Herrschaft: 'Sachherrschaft' unter Menschen" Seite 27


"Dass es überhaupt möglich wurde, diesen Komplex menschlichen Wirkens als 'Weiblichkeit' einzuzirkeln, verdankt sich auch der modernen Sphärentrennung in häusliche Versorgungsarbeit und außerhäusige Lohnarbeit – ein bürgerliches Ideal, das mühsam gegen die Arbeiter_innenklasse durchgesetzt werden musste. Es war schließlich für Arbeiterinnen viel naheliegender, ihre Kleinkinder mit in die Fabrik zu bringen und dort zu stillen, als sie zu Hause in Obhut der Geschwister zu lassen oder sogar selbst ohne Lohn zu Hause zu bleiben. Räumliche Aufteilung ebenso wie bürgerlicher Moral und Sexualität halfen, die Reproduktionsfähigkeit abzugrenzen und mehr und mehr als Attribut vergeschlechtlichter Körper statt als Aufgabenbereich menschlicher Tätigkeit darzustellen. (S. 31)

Phantombesitz Seite 32 [Die Fiktion, dass man Menschen besitzen und genauso verwerten dürfe wie Materie, Pflanzen und Tiere.]


Verwerten (Güter) Seite 42
Justus Liebig:
"Großbritannien raubt allen Ländern die Bedingungen ihrer Fruchtbarkeit, es hat die Schlachtfelder von Leipzig, Waterloo und der Krim bereits nach Knochen umgewühlt, u. die in den Katakomben Siciliens angehäuften Gebeine viele Generationen verbraucht…, einem Vampyr gleich hängt es an dem Nacken Europas, man kann sagen der Welt, u. saugt ihr das Herzblut aus." (S. 43)

 v. Redecker setzt Marx voraus, kommt aber ohne Mehrwerttheorie und ohne Grenznutzen aus.

Sie stellt fest, dass mit dem Eigentum von Dingen als absolute Herrschaft über Dinge alles zur Ware werden kann. Die Ware bekommt ihren Wert nicht in ihrem Nutzen und nicht aufgrund der aufgewendeten Arbeit, sondern daraus, dass sie in Zukunft Profit schaffen kann. 

Das Ganze funktioniert,  

1. weil über Derivate selbst das Geld zur Ware werden kann (S.51) und 

2. weil die Daten, aus denen auf zukünftige Konsumentscheidungen geschlossen werden kann, zu Waren werden (S.53)

3. weil der Ausstoß an vernichteter Natur (z.B. Müll (inklusive abgenutzter Waren), CO2, verunreinigtes Wasser) nicht in die Profitrechnung eingeht. 

Grotesk werden die Bilder, wenn Menschen als Sklaven und Konsumdaten zu Waren werden, wenn Sklaven und Daten sich also "nach rückwirkender Rechtfertigung dafür," zur Ware gemacht worden zu sein, 'sehnen'. (S.48)

"[...] als Ware begehrt jedes Ding unstillbar dasselbe. Jedes sich nach rückwirkender Rechtfertigung dafür, produziert worden zu sein, also danach, mehr einzubringen, als es kostete." [sie herzustellen]. (S.48]. 

"Die Entscheidung über den Wert der Waren [...] misst sich an allem anderen, was in dieser Gesellschaft aufs Geratewohl der Profithoffnung hin produziert wurde. Auch alle unsere Konsumentscheidungen gehen in das Ergebnis ein"." (S.55) [Natürlich handelt es sich dabei nicht um einen Gebrauchswert, sondern nur einen Wert innerhalb der Logik der Profitmaximierung.]

"Die Herrschaft, die die Verwertung über uns errichtet, in dem sie Wertvolles von Nichtigem trennt, ist anonym und indirekt. Sie ist "kein persönliches Abhängigkeitsverhältnis. Man weiß gar nicht, dass man beherrscht wird. Oder selbst wenn man es vage spürt, weiß man nicht, wovon – jede Verschwörungstheorie [...] zehrt von dieser Undurchschaubarkeit." (S. 55)

"Aus der Sicht des planetaren Lebens besteht die sachliche Herrschaft, also die Tyrannei des Profits, vor allem darin, dass die kapitalistische Verwertung die Natur auf eine vollkommen blinde Weise reorganisiert. Sie behandelt, abgesehen von ihren eigenen Wertzuschreibungen, alles als entbehrlich. [...] So ist der Abbau von Phosphor zugleich der Aufbau von Mondlandschaften und das Ausbringen von Phosphor ist die Vermehrung ausgewaschener Äcker in der Zukunft. Aber diese Seite der Verwertung ereignet sich im Verborgenen, wie etwas, das gar nichts passiert. [...] wer hätte das gedacht, dass das Industriezeitalter die Erde in Treibhausgase hält. Marx auch nicht." (S.56)

"Nicht nur, ob man sich den angesagten Salat leisten kann, sondern ob man überhaupt ein Zuhause hat, hängt vom Marktwert ab, vom eigenen und von dem der Immobilien. Seite 59

Was den größten Scharlatanen die Wählergunst sichert, ist, dass sie offen so handeln, wie man selbst es doch noch eher verschämt und stümperhaft im Verborgenen tut. Alle Mittel einsetzen. Sonst wird man am Ende schließlich am Ende selbst eliminieret. (S. 60)

Wenn es so ist, dass die sachliche Herrschaft uns unerkannt bleibt, weil wir den Wert als dingliche Eigenschaft der Waren betrachten und nicht als Effekt des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs, dann kann sich der Hass auf diese Herrschaft immer nur auf Stellvertreter entladen. [...] Der horror vacui der scheiternden Selbstverwertung wird weitergereicht, so als solle an diesen Menschen persönlich Rache geübt werden für die stete Gefahr der Verwertung: Die Gefahr als nichtig abgespalten zu werden, während anderswo Wert eingesackt wird (S. 63)

"Der aufgewirbelte Wert-Staub verschleiert, wie viel Bruch, Überreste und Nutzlosigkeit da produziert wird. Die Menschen, deren Fähigkeiten und Daten nicht mehr verwertbar sind: Schutt. [...]

Der Biologe Bernd Heinrich fasst seine Forschungen zu natürlichen Nährstoffzyklen folgendermaßen zusammen: "… wir sind nicht aus Staub. Und wir kehren nicht zum Staub zurück. Wir sind aus Leben und wir sind ein Übergang in ein anderes Leben. Wir kommen von den unvergleichlichen Tieren und Pflanzen und kehren zu Ihnen zurück. In diesen Kreislauf hat sich der Kapitalismus als eine Lebensform eingefügt, die alles zu Staub zermahlt und die Erde als Schutthalde hinterlässt." (S.64)

Erschöpfen (Arbeit)
"Nicht die Aussicht auf Wert haucht der Ware ihr Leben ein, oder zumindest nicht diese Aussicht allein. Es muss auch etwas gezielt Tätiges dazukommen. Arbeit ist das Zwischenglied, das aus Herrschaft Wirtschaft macht." (S. 65)

"Das fiktive Eigentum an der eigenen Arbeitskraft ist eine besondere Ausprägung der modernen Sachherrschaft. [...] Und wenn auch der Arbeitsvertrag die Fiktion des Selbsteigentums voraussetzt, liegt diese doch bei den Besitzlosen immer nur schemenhaft vor. Volles Selbsteigentum gewährt die moderne Gesellschaft nur dem vermögenden bürgerlichen Individuum. Der Selbstbesitz der Arbeiter_innen bleibt doppelt gebrochen. Den ersten Bruch proletarischen Selbsteigentums bewirken die Besitzverhältnisse. Die materielle Besitzlosigkeit in einer Welt voller Eigentum schließt die Möglichkeit aus, sich selbst – oder in Gemeinschaft – zu versorgen." (S.70/71)

"Der Selbstbesitz des Arbeiters muss defizitär bleiben, ergänzungsbedürftig durch die Disziplin der Fabrik, der Volksschulen und des Militärs. Diese Disziplin besteht vor allen in neuen Regiment der zeitlichen Synchronisierung. Stechuhr und Appelle lehren den Körper, die Spontanität zu überwinden, mit der er lebendige Zeit füllen würde." (S. 74)
"Historisch war die weibliche Reproduktionsfähigkeit fiktives Eigentum der Ehemänner. Das verschleiert ihren Charakter als Arbeit zum Teil bis heute." (S. 77)
"Die Arbeitskraft der unteren Schichten muss Phantombesitz der Gesellschaft bleiben, und die Institutionen und Mitbürger_innen rächen sich an allen, die ihren sozialgesetzliche Solidarität in  Anspruch nehmen. Faulenzer! Sozialschmarotzer! Arbeit muss ich wieder lohnen! (S. 85)

 Burn out und Stehaufmännchen-Monster
Arbeit und Ressourcen erschöpfen sich, weil sie im Rahmen der Sachherrschaft vollends verfügbar gemacht und zum Missbrauch freigegeben werden. (S. 87)

"Eine kürzlich im Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlichte Studie, in der es darum ging, die vorzeitige Ergrauen von Haaren zu erklären, kam zu dem Ergebnis, dass Stress grundlegender als bisher angenommen in den Körper eingreift." (S. 88)

"Viren profitieren von durch Stress geschwächten Immunsystemen, besonders wenn sie durch den Zusammenbruch von Ökosystemen ihre tierischen Wirte verlieren und beginnen, auf Menschen zu mutieren." (S.89)


Zerstören (Leben)
"[...] die Hälfte unseres CO2-Ausstoßes wird von den reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung veranstaltet." (S.91)
"Das Konzept von Extinction Rebellion basiert auf der Diagnose, dass es sich beim drohenden Massenaussterben um etwas handele, dass nicht nur fahrlässig vernachlässigt werde, sondern vom Gehalt her kaum zu fassen sei." S.94
"Die Die-ins versuchen es mit eleganter Eindeutigkeit: Wir werden tot sein. [...] In den massiven Protesten Ende Mai 2020 legten sich die Demonstranten_innen für genau die 8 Minuten und 46 Sekunden auf den Boden, die der weiße Polizist auf dem Nacken von George Floyd kniete und ihn dadurch kaltblütig umbrachte." S.95
"Diese faszinierende Mischung aus ernsthafter Erschütterung und Erste-Welt-wattiertem Budenzauber könnte wohl nirgends einen größeren Kontrast finden als in der nüchternen Klarheit Von Fridays for Future." S.97 

"Gretas Auftritt auf dem Weltklimagipfel 2019 folgte sehr genau dem Skript der ebenfalls 17-jährigen Emma Gonzalez, die im Anschluss an das Schulmassaker in Parkland die Mobilisierung gegen die US-amerikanische Waffenlobby anführte und nicht nur mit ihrer sechsminütigen Schweigeperformance, sondern auch mit einem legendären Fluch auf die von der Rifle Association mitfinanzierten republikanische Politiker in Erinnerung blieb: "Shame on you!" "Schämt euch!" " S. 98

"Greta Thunberg als Kassandra" S.99

"Kassandrischer Kummer - die Wehrlosigkeit dagegen, alles sehen zu müssen – bildet den Gegenpol zur bewussten Blindheit der Mächtigen und Gemächlichen." Seite 101
"Dabei besteht der Realitätssinn der Katastrophenvergegenwärtigung gerade darin, dass für langsames Heranreifen gar keine Zeit mehr ist." S. 102
"Nun, wo viele christliche Institutionen nur noch als Phantombesitz der Leitkultur fungieren, liefert die Esoterik der Bevölkerung diverse Opiate. Und tatsächlich steigt der Bedarf nach ihr in den Kreisen, die sich der Realität von Artensterben, Erderwärmung und Umweltgiften stellen. Man sucht in der Auflösung nach feststehenden Zusammenhängen. Denn die Esoterik besteht einerseits aus eisernen Gesetzen und Symmetrien und andererseits aus der wunschdenkenden Beseelung aller möglichen natürlichen Dinge, denen wir das Leben zu rauben im Begriffe sind. [...] Denn was hier betrauert wird – ironischerweise übrigens in einer Performance, die dem Strecke-Verblassen nach einer Treibjagd sehr ähnelt –, soll ja nicht das Sterben sein, sondern das Aussterben." S. 103
"Der enttäuschte Mensch muss mehr tun, als sich selbst als Sonne zu setzen. Er muss lernen, besser um die Sonne zu kreisen." S. 104

Weiße Sachenherrenrassisten teilen die Menschheit in lebenswertes und unwertes Leben, fantasieren, welche Gruppen als dienend unterjocht, welche als Eindringlinge und Diebe eliminieret werden sollen – und wem die Erde gehört: Ihnen selbst oder ihren Führern. [...]
Der 'Ökofaschismus' [...] will die Erde für die Weißen reservieren. Das kann mit Aufrufen zu 'Umweltschutz' einhergehen. Die Nazis wollen ja so wie 'ihre Heimat' auch 'ihre' Frauen schützen. Aber nie vor sich selbst.
Der Faschismus operiert mit den Begriffen des Aussterbens und des Lebens, aber andersherum. Er organisiert das Aussterben der anderen im Namen des eigenen Lebens, wobei sich auch dieses eigene Leben zum viehischen Überlebenskampf degradiert [...]" (S.105/06)
Gerade weil die volle Herrschaft über Lebendiges immer unmöglich bleibt, muss sie sich mit der Verfolgung ihrer Widersacher beschäftigt halten.[...] Hannah Arendt hat immer wieder betont, dass die nationalsozialistische Vernichtungspolitik auch gegen die 'eigene' Bevölkerung fortgesetzt worden wäre. Faschistische Politik ist erst 'fertig', wenn wirklich niemand mehr lebt. Denn voll besetzen kann man nur Totes. (S.107)

Der Verlust der Welt
"Wir sind daran gewöhnt, die Welt zu verlieren: das ist unsere Form, in ihr zu leben. Wir werden nicht plötzlich schockiert innehalten und alle Hebel umlegen, wenn der nächste Grenzwert überschritten ist oder eine noch süßere Tierart ausstirbt [...] Wir werden in Quarantäne und Verteilungskämpfen stecken und unsere Gleichgültigkeit gegenüber dem Verlust von Leben weiter an Obdachlosen und Migrantinnen  stärken. [...] Die einzige Perspektive, aus der man hoffen kann, im Angesicht der Katastrophe Orientierung zu gewinnen, ist die, die erkennt, dass die Katastrophe schon da ist." (S. 109)
Es liegt nicht am zukünftigen Ausmaß der Katastrophe, dass wir sie so schwer zu fassen vermögen, sondern an unserer hergebrachten Beziehung zu ihrem Objekt.
Es könnte also ein Weg zur besseren Kriseneinsicht sein, die Struktur dieses Weltverlustes nachzuzeichnen. In ihrem Werk Vita Activa entfaltete Hannah Arendt 1955 ihre Diagnose des Weltverlusts. Sie beschreibt die moderne Entfremdung von der geteilten Welt als Effekt dessen, dass sich in kapitalistischen Gesellschaften die Grenzen verschiedener Tätigkeiten verschieben. Diese Verschiebung besteht darin, dass die Logik eines Bereichs ausufert und auf einen anderen übergreift, der dadurch ruiniert wird. (S. 110) 

 Arendt beschreibt hier die Beziehungen zwischen menschlichen Tätigkeitsbereichen wie ein ökologisches Gleichgewicht. Sie definiert die drei grundlegenden Bereiche unseres aktiven Lebens auf zum Teil ungewöhnliche Weise. Das Arbeiten umfasst nur die Versorgungstätigkeiten, die ihre Ergebnisse immer wieder verbrauchen. Die Produktion von beständigen Gütern fasst sie als Herstellen [wo wir langlebige Güter gebrauchen] und Handeln ist eine besondere Form des öffentlichen Sprechens und Tuns. [...] Arendt versteht die Arbeit als einen zyklischen Austausch mit der Natur, einen Stoffwechsel im Zuge dessen wir Material aufgreifen und vorübergehend zu uns nehmen. Diese Sphäre [...] wird nun durch den Einbruch der Logik des Handelns ruiniert [...] Die Logik der von Menschen angestoßenen und absehbaren Kettenreaktionen ist aber nun in die Sphäre des Arbeitens in unseren Stoffwechsel mit der Natur eingebrochen und dort stiftet sie Unheil. [...]
Wir können Arendts Deutung des Weltverlust also eine dritte Dimension beisteuern: die Logik des Arbeitens zerstört die Güter des Herstellens; die Logik des Herstellens zerstört die Freiheit im Handeln; die Logik des Handelns zerstört die lebendige Grundlage der Arbeit. (S.111/12) (Hervorhebung von mir)

Es kommt mir unvermittelbar vor, dass ich in einer Zeit groß geworden bin, in der alles wimmelte vor Vögeln und Insekten. Eine Zeit, in der nicht ständig neue Schädlinge auftauchten. Ich kannte kein Jakobskreuzkraut und keine Eichenprozessionsspinner – weil es sie tatsächlich noch nicht gab. (S.113)


Bezug auf die kleine Eiszeit:
"Im neuzeitlichen Europa hat die so genannte kleine Eiszeit, eine Verringerung der Temperaturen um 1,5° zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, zu Missernten, Hungersnöten und Seuchen geführt. Die frühneuzeitliche Abkühlung war tatsächlich 'nur' eine Abkühlung und löste keine Kettenreaktion aus, die das ganze Wettersystem aus dem Gleichgewicht brachten, wie ist derzeit zu  geschehen beginnt." (S.117)

 "William Shakespeare hat diese Erfahrung offenbar inspiriert, sich ein umfassendes Aussetzen der Jahreszeitenzyklen vorzustellen. So präsentiert die Elfenkönigin Titania in einer Rede im Sommernachtstraum, die in späteren Inszenierungen oft gekürzt wurde, ein Bild der gebrochenen Zeit der Natur:
Drum sorgt der Wind, der uns vergeblich pfiff,/ Als wie zur Rache böse Nebel auf/Vom Grund des Meeres, die fielen auf das Land,/Und machten jeden winz'gen Bach so stolz,/Dass er des Bettes Dämme niederriss. [...] (S.118) *Original: 
Therefore the winds piping to us in vain  [...] 
That they have overborne their continents.

Unsere so genannte Zivilisation beruht darauf, mit der  Abzirkelung von Eigentum natürliche Kreisläufe zu kappen und sie in der spiralförmigen, die Zukunft anpumpenden Verwertung vollzumüllen. (S. 120)

Revolution (S. 127ff.)

"Der Kapitalismus hat uns ein Leben in der Hollywoodschaukel versprochen. Stattdessen sitzen wir in einer hochtourigen Achterbahn, deren Gerüst bröckelt. Unsere Aneignungszirkel und Verwertungsstrudel erschöpfen innere wie äußere Natur. Sie fressen sich blind in das Zusammenspiel der planetarischen Ökosysteme und der zärtlicheren sozialen Bezüge. Der Kapitalismus zerstört Leben, er zerstört das Leben selbst. [...] Kann man das Ding anhalten oder zum Entgleisen bringen? Was, wenn wir zu fest angeschnallt sind? Wie soll das aussehen, eine Revolution für das Leben? Es ist zum Allgemeinplatz geworden, dass das 1989 triumphal verändert verkündete 'Ende der Geschichte' eine Fehldiagnose darstellt [...] Aber es ist auch wichtig, festzuhalten dass die historisch einschneidenden Geschehnisse seither vom Westen kaum im Modus der Geschichte verarbeitet, sondern als unvermittelt einbrechendes Geschick erfahren werden. 9/11, Finanzkrise, Erstarken der Autoritarismus, Klimawandel, Migration, Covid-19 – wir starren gebannt und ungläubig auf die Ereignisse wie auf ein hypnotisches Glücksrad. Wir erkennen darin weder Sinn noch unser eigenes Wirken. Wenn die Turbulenzen fühlbar werden, dann können sich immer noch einige, verschanzt hinter Airbags, die Schleudertraumata der anderen vom Leib halten. [...] Der Zerstörungszusammenhang kommt zu uns zurück wie ein gauklerisches Mysterienspiel." (S.127/28)

"Derzeit sind in den USA mehr schwarze Männer im Gefängnis als bei Ausbruch des Bürgerkriegs versklavt waren, und sie verrichten in den häufig privat betriebenen Haftanstalten Zwangsarbeit für bekannte Unternehmen. [...]  Eine konsequente antirassistische Perspektive muss deshalb [...] auf die Abschaffung aller Einrichtungen zielen, die es ermöglichen, schwarzen Menschen Gewalt, Willkür und verfrühtem Sterben auszusetzen. Mit der Abolition der Sklaverei wurde diese Aufgabe begonnen, aber sie ist nicht beendet, solange Menschen aufgrund von Problemen, die zum allergrößten Teil sozialer Natur sind, individuell eingesperrt werden." (S. 163)

"Die Verwirklichung des nationalstaatlichen Prinzips in ganz Europa hatte nur eine weitere Diskreditierung des Nationalstaates zur Folge; es konnte nur einem Bruchteil der betroffenen Völker nationale Souveränität geben und zwang diese, da ihre Souveränität überall gegen die enttäuschten Aspirationen anderer nationaler Gruppen durchgesetzt war, von vornherein in die Rolle des Unterdrückers. Die unterdrückten Gruppen wiederum wurden gerade durch diese Regelung in ihrer Überzeugung bestärkt, dass Freiheit ohne nationales Selbstbestimmungsrecht und volle Souveränität nicht möglich sein und fühlten sich daher [...] um das, was sie für Menschenrechte hielten, betrogen. Und für dieses Gefühl konnten sie sich auf nichts Geringeres als die französische Revolution berufen, welche die Tradition des Nationalstaates eigentlich begründet hat. [...]

Hannah Arendt leitet vom Problem der nationalen Minderheiten über zu dem der Staatenlosen [...]. Sie hält die Staatenlosigkeit für ein fatales Produkt der Nationalstaatlichkeit und demonstriert daran ihre berühmt gewordene These eines 'Paradox der Menschenrechte'. 
Dieses Paradox besteht darin, dass uns Menschenrechte qua Menschsein zustehen, faktisch aber nur von Staaten sichergestellt werden können. Das führt dazu, dass ausgerechnet diejenigen, die Menschenrechte am nötigsten bräuchten – Staatenlose – am schlechtesten geschützt sind. Arendt ist der Meinung, dass nur ein 'Recht auf Rechte' diesem Missstand abhelfen könnte" (S. 170/171)

Sieh auch:

Eva von Redecker: Bleibefreiheit Fischer Verlage 2023 (mit Leseprobe)

(Perlentaucher)

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