27 Januar 2024

Kafka: Reisetagebuch aus Paris

 "[...] Ein Mensch, der kein Tagebuch hat, ist einem Tagebuch gegenüber in einer falschen Position. Wenn dieser zum Beispiel in Goethes Tagebuch liest, daß dieser am 11. Januar 1797 den ganzen Tag zu Hause »mit verschiedenen Anordnungen beschäftigt« war, so scheint es diesem Menschen, daß er selbst noch niemals so wenig gemacht hat. [...]

Ansammlung der Besucher vor dem Öffnen des Louvre. Die Mädchen sitzen zwischen den hohen Säulen, lesen im Baedeker, schreiben Ansichtskarten.

Venus von Milo, deren Anblick bei dem langsamsten Umgehen schnell und überraschend wechselt. Leider eine erzwungene (über Taille und Hülle), aber einige wahre Bemerkungen gemacht, zu deren Erinnerung ich eine plastische Reproduktion nötig hätte, besonders darüber, wie das gebogene linke Knie den Anblick von allen Seiten mitbestimmt, manchmal aber nur sehr schwach. Die erzwungene Bemerkung: Man erwartet, daß über der aufhörenden Hülle der Leib sich gleich verjüngt, er wird aber zunächst noch breiter. Das fallende, vom Knie gehaltene Kleid.

Der Borghesische Fechter, dessen Vorderanblick nicht der Hauptanblick ist, denn er bringt den Beschauer zum Zurückweichen und ist verstreuter. Von hinten aber gesehen, dort, wo der Fuß zuerst auf dem Boden ansetzt, wird der überraschte Blick das festgezogene Bein entlang gelockt und fliegt geschützt über den unaufhaltsamen Rücken zu dem nach vorn gehobenen Arm und Schwert.


Beschreibung eins Unfalls:


Montag, 11. September. Auf dem Asphaltpflaster sind die Automobile leichter zu dirigieren, aber auch schwerer einzuhalten. Besonders wenn ein einzelner Privatmann am Steuer sitzt, der die Größe der Straßen, den schönen Tag, sein leichtes Automobil, seine Chauffeurkenntnisse für eine kleine Geschäftsfahrt ausnützt und dabei an Kreuzungsstellen sich mit dem Wagen so winden soll wie die Fußgänger auf dem Trottoir. Darum fährt ein solches Automobil knapp vor der Einfahrt in eine kleine Gasse, noch auf dem großen Platz in ein Tricycle hinein, hält aber elegant, tut ihm nicht viel, tritt ihm förmlich nur auf den Fuß, aber während ein Fußgänger mit einem solchen Fußtritt desto rascher weitereilt, bleibt das Tricycle stehen und hat das Vorderrad gekrümmt. Der Bäckergehilfe, der auf diesem der Firma gehörigen Wagen bisher vollständig sorglos mit jenem den Dreirädern eigentümlichen schwerfälligen Schwanken dahingefahren ist, steigt ab, trifft den Automobilisten, der ebenfalls absteigt, und macht ihm Vorwürfe, die durch den Respekt vor einem Automobilbesitzer gedämpft und durch die Furcht vor seinem Chef angefeuert werden. Es handelt sich nun zuerst darum, zu erklären, wie es zu dem Unfall gekommen. Der Automobilbesitzer stellt mit seinen erhobenen Handflächen das heranfahrende Automobil dar, da sieht er das Tricycle, das ihm in die Quere kommt, die rechte Hand löst sich ab und warnt durch Hin- und Herfuchteln das Tricycle, das Gesicht ist besorgt, denn welches Automobil kann auf diese Entfernung bremsen. Wird es das Tricycle einsehen und dem Automobil den Vortritt lassen? Nein, es ist zu spät, die Linke läßt vom Warnen ab, beide Hände vereinigen sich zum Unglücksstoß, die Knie knicken ein, um den letzten Augenblick zu beobachten. Es ist geschehen und das still dastehende verkrümmte Tricycle kann schon bei der weiteren Beschreibung mithelfen. Dagegen kann der Bäckergehilfe nicht gut aufkommen. Erstens ist der Automobilist ein gebildeter lebhafter Mann, zweitens ist er bis jetzt im Automobil gesessen, hat sich ausgeruht, kann sich bald wieder hineinsetzen und weiter ausruhn und drittens hat er von der Höhe des Automobils den Vorgang wirklich besser gesehn. Einige Leute haben sich inzwischen angesammelt und stehen, wie es die Darstellung des Automobilisten verdient, nicht eigentlich im Kreise um ihn, sondern mehr vor ihm. Der Verkehr muß sich inzwischen ohne den Platz behelfen, den diese Gesellschaft einnimmt, die überdies nach den Einfällen des Automobilisten hin und her rückt. So ziehen zum Beispiel einmal alle zum Tricycle, um den Schaden, von dem so viel gesprochen worden ist, einmal genauer anzusehen. Der Automobilist hält ihn nicht für arg (einige halten in mäßig lauten Unterredungen zu ihm), trotzdem er sich nicht mit dem bloßen Hinschauen begnügt, sondern rundherum geht, oben hinein und unten durch schaut. Einer, der schreien will, setzt sich, da der Automobilist Schreien nicht braucht, für das Tricycle ein; er bekommt aber sehr gute und sehr laute Antworten von einem neu auftretenden fremden Mann, der, wenn man sich nicht beirren läßt, der Begleiter des Automobilisten gewesen ist. Einige Male müssen einige Zuhörer zusammen lachen, beruhigen sich aber immer mit neuen sachlichen Einfällen. Nun besteht eigentlich keine große Meinungsverschiedenheit zwischen Automobilisten und Bäckerjungen, der Automobilist sieht sich von einer kleinen freundlichen Menschenmenge umgeben, die er überzeugt hat, der Bäckerjunge läßt von seinem einförmigen Armeausstrecken und Vorwürfemachen langsam ab, der Automobilist leugnet ja nicht, daß er einen kleinen Schaden angerichtet hat, gibt auch durchaus dem Bäckerjungen nicht alle Schuld, beide haben Schuld, also keiner, solche Dinge kommen eben vor usw. Kurz, die Angelegenheit würde schließlich in Verlegenheit ablaufen, die Stimmen der Zuschauer, die schon über den Preis der Reparatur beraten, müßten abverlangt werden, wenn man sich nicht daran erinnern würde, daß man einen Polizeimann holen könnte. Der Bäckerjunge, der in einer immer untergeordnetere Stellung zum Automobilisten geraten ist, wird von ihm einfach um einen Polizisten geschickt und vertraut sein Tricycle dem Schutz des Automobilisten an. Nicht mit böser Absicht, denn er hat es nicht nötig, eine Partei für sich zu bilden, hört er auch in Abwesenheit des Gegners mit seinen Beschreibungen nicht auf. Weil man rauchend besser erzählt, dreht er sich eine Zigarette. In seiner Tasche hat er ein Tabaklager. Neu Ankommende, Uniformierte, und wenn es auch nur Geschäftsdiener sind, werden systematisch zuerst zum Automobil, dann zum Tricycle geführt und erst dann über die Details unterrichtet. Hört er aus der Menge von einem weiter hinten Stehenden einen Einwand, beantwortet er ihn auf den Fußspitzen, um dem ins Gesicht sehen zu können. Es zeigt sich, daß es zu umständlich ist, die Leute zwischen Automobil und Tricycle hin- und herzuführen, deshalb wird das Automobil mehr zum Trottoir in die Gasse hineingefahren. Ein ganzes Tricycle hält, und der Fahrer sieht sich die Sache an. Wie zur Belehrung über die Schwierigkeiten des Automobilfahrens ist ein großer Motoromnibus mitten auf dem Platz stehengeblieben. Man arbeitet vorn am Motor. Die ersten, die sich um den Wagen niederbeugen, sind seine ausgestiegenen Passagiere im richtigen Gefühl ihrer näheren Beziehung. Inzwischen hat der Automobilist ein wenig Ordnung gemacht und auch das Tricycle mehr zum Trottoir geschoben. Die Sache verliert ihr öffentliches Interesse. Neu Ankommende müssen schon erraten, was eigentlich geschehen ist. Der Automobilist hat sich mit einigen alten Zuschauern, die als Zeugen Wert haben, förmlich zurückgezogen und spricht mit ihnen leise. Wo wandert aber inzwischen der arme Junge herum? Endlich sieht man ihn in der Ferne, wie er mit dem Polizisten den Platz zu durchqueren anfängt. Man war nicht ungeduldig, aber das Interesse zeigt sich sogleich aufgefrischt. Viele neue Zuschauer treten auf, die auf billige Weise den äußersten Genuß der Protokollaufnahme haben werden. Der Automobilist löst sich von seiner Gruppe und geht dem Polizisten entgegen, der die Angelegenheit sofort mit der gleichen Ruhe aufnimmt, welche die Beteiligten erst durch halbstündiges Warten sich verschafft haben. Die Protokollaufnahme beginnt ohne lange Untersuchung. Der Polizist zieht aus seinem Notizbuch mit der Schnelligkeit eines Bauarbeiters einen alten schmutzigen, aber leeren Bogen Papier, notiert die Namen der Beteiligten, schreibt die Bäckerfirma auf und geht, um dies genau zu machen, schreibend um das Tricycle herum. Die unbewußte unverständige Hoffnung der Anwesenden auf eine sofortige sachliche Beendigung der ganzen Angelegenheit durch den Polizisten geht in eine Freude an den Einzelheiten der Protokollaufnahme über. Diese Protokollaufnahme stockt bisweilen. Der Polizist hat sein Protokoll etwas in Unordnung gebracht, und in der Anstrengung, es wieder herzustellen, hört und sieht er weilchenweise nichts anderes. Er hat nämlich den Bogen an einer Stelle zu beschreiben angefangen, wo er aus irgendeinem Grunde nicht hätte anfangen dürfen. Nun ist es aber doch geschehen, und sein Staunen darüber erneuert sich öfters. Er muß den Bogen immerfort wieder umdrehen, um den schlechten Protokollanfang zu glauben. Da er aber von diesem schlechten Anfang bald abgelassen und auch anderswo zu schreiben angefangen hat, kann er, wenn eine Spalte zu Ende ist, ohne großes Auseinanderfalten und Untersuchen unmöglich wissen, wo er richtigerweise fortzusetzen hat. Die Ruhe, die dadurch die Angelegenheit gewinnt, läßt sich mit jener früheren, durch die Beteiligten allein erreichten, gar nicht vergleichen."

Kafka: Zusammenstellung von Texten von und über Kafka

 Nicht ich habe Kafka für mich entdeckt, sondern mein Bruder hat mir früh die Erzählung/Parabel Vor dem Gesetz (einen Ausschnitt aus dem Roman Der Prozess) vorgestellt, von da an hat er mich fasziniert. Aber wie hätte er Lieblingsdichter eines nachmaligen Fontanefans werden können?

Jetzt sind viele von Kafkas Texten online zugänglich, die ich noch nicht kannte.

Franz Kafka (Wikipediaartikel)

Kafkas Werke in Gutenberg.de

Kleine Fabel

»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.« – »Du mußt nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie.

über Kafkas Werke in der Wikipedia (insbesondere: Das UrteilDie Verwandlung, )

Reiner Stach und Franz Kafka (mit Kommentar) [ZEIT]

"[...] Reiner Stach spricht nicht gern über seine Jugend, das liegt vor allem an seinem Vater. Der Junge hatte vor, Philosophie zu studieren, das passte dem Vater nicht. Reiner Stach kaufte sich von seinem Taschengeld Bücher des Philosophen Jean-Paul Sartre, hörte in seinem Zimmer die Rolling Stones, auch das war dem Vater ein Ärgernis. "Wovon willst du denn mal leben?", habe er den Sohn gefragt. "Es war bei uns wie bei den Kafkas", sagt Stach heute. Auch Franz Kafka litt unter einem herrischen Vater, der den Jungen einschüchterte. [...]  Gerade hat Stach seine kommentierte Ausgabe von Kafkas Roman Der Process fertiggestellt. Er steht mit Kafka auf und geht mit Kafka schlafen. Achtzehn Jahre lang arbeitete er an einer Kafka-Biografie, die 2014 fertig wurde und mehr als 2.000 Seiten hat. 

Greiner: Kafka ganz nah [ZEIT]

"[...] Reiner Stach nähert sich seinem Autor, so paradox das klingt, mit einem liebenden, zudringlichen Respekt. Er will keine Distanz, er will Kafka so gut und genau verstehen, wie man einen anderen Menschen überhaupt zu verstehen vermag, und man kann sogar sagen, dass dieser Biograf Kafka besser versteht, als der sich selber verstehen konnte, denn Stach nutzt den historischen Abstand, studiert zahllose Quellen und Zeugnisse und hat alles gleichzeitig zur Hand, was sich für den Porträtierten auf die ganze Strecke seines Lebens verteilte, die Briefe, die Texte, die Tagebücher und vieles mehr. [...]"

Fröhlicher Fatalismus [ZEIT]

"[...] Diese Literatur ist, mit einem Wort ihres Autors gesagt, "stehender Sturmlauf". Das ganze Leben erscheint Kafka zwei Jahre vor seinem Tod als "stehendes Marschieren". Viel Energie, enormer Aufwand, aber man dreht sich, von einer Peitsche angetrieben, immerfort im Kreis wie die Varieté-Reiterin in der Erzählung Auf der Galerie. In Der Bau versucht ein nicht näher bezeichnetes Tier, "durch Kratzen und Beißen, Stampfen und Stoßen" dem "widerspenstigen Boden" ein labyrinthisches Netz von Gängen und Plätzen abzuringen, aber niemals ist der Bau vollendet, nie wird die vollkommene Sicherheit vor Feinden erreicht. [...] Der österreichische Schriftsteller Franz Blei hat in seinem Großen Bestiarium der modernen Literatur von 1922 zeitgenössische Autoren als Tiere zu beschreiben versucht. Es gibt auch einen Eintrag zu Kafka. Er lautet: "Die Kafka. Die Kafka ist eine sehr selten gesehene prachtvolle mondblaue Maus, die kein Fleisch frißt, sondern sich von bittern Kräutern nährt. Ihr Anblick fasziniert, denn sie hat Menschenaugen."

Aus seinen Tagebüchern

1910: "[...] Die Tänzerin Eduardowa ist im Freien nicht so hübsch wie auf der Bühne. Die bleiche Farbe, diese Wangenknochen, welche die Haut so spannen, daß im Gesicht kaum eine stärkere Bewegung ist, die große Nase, die sich wie aus einer Vertiefung erhebt, mit der man keine Späße machen kann – wie die Härte der Spitze prüfen oder sie am Nasenrücken leicht fassen und hin und her ziehen, wobei man sagt: »Jetzt aber kommst du mit.« Die breite Gestalt mit hoher Taille in allzu faltigen Röcken – wem kann das gefallen – sie sieht einer meiner Tanten, einer ältlichen Dame, ähnlich, viele ältere Tanten vieler Leute sehn ähnlich aus. Für diese Nachteile aber findet sich bei der Eduardowa im Freien außer den ganz guten Füßen eigentlich kein Ersatz, da ist wirklich nichts, was zum Schwärmen, Staunen oder auch nur zur Achtung Anlaß gäbe. Und so habe ich auch die Eduardowa sehr oft mit einer Gleichgültigkeit behandelt gesehn, die selbst sonst sehr gewandte, sehr korrekte Herren nicht verbergen konnten, obwohl sie sich natürlich viele Mühe in dieser Richtung gaben, einer solchen bekannten Tänzerin gegenüber, wie es die Eduardowa immerhin war.

Meine Ohrmuschel fühlte sich frisch, rauh, kühl, saftig an wie ein Blatt.

Ich schreibe das ganz bestimmt aus Verzweiflung über meinen Körper und über die Zukunft mit diesem Körper.

Wenn sich die Verzweiflung so bestimmt gibt, so an ihren Gegenstand gebunden ist, so zurückgehalten wie von einem Soldaten, der den Rückzug deckt und sich dafür zerreißen läßt, dann ist es nicht die richtige Verzweiflung. Die richtige Verzweiflung hat ihr Ziel gleich und immer überholt, (bei diesem Beistrich zeigt es sich, daß nur der erste Satz richtig war).

Bist du verzweifelt?
Ja? du bist verzweifelt?
Läufst weg? Willst dich verstecken? 
Im Manuskript folgen hier Federzeichnungen. Auch im weiteren Manuskript finden sie sich des öfteren.[...] (Gutenberg.de)

Tagebücher 1914:

12. Januar. Gestern: die Liebschaften Ottiliens, die jungen Engländer. – Tolstois Verlobung, klarer Eindruck eines zarten, stürmischen, sich bezwingenden, ahnungsvollen, jungen Menschen. Schön gekleidet, dunkel und dunkelblau.

Das Mädchen im Kaffeehaus. Der schmale Rock, die weiße, lose, fellbesetzte Seidenbluse, der freie Hals, der knapp sitzende, graue Hut aus gleichem Stoff. Ihr volles, lachendes, ewig atmendes Gesicht, freundliche Augen, allerdings ein wenig geziert. Das Heißwerden meines Gesichtes in Gedanken an F.

Weg nach Hause, klare Nacht, deutliches Bewußtsein des bloß Dumpfen in mir, das so weit von großer, ohne Hindernisse ganz sich ausbreitender Klarheit ist.

Nicolai, Literaturbriefe.

Es gibt Möglichkeiten für mich, gewiß, aber unter welchem Stein liegen sie?

Vorwärtsgerissen, auf dem Pferd –

Sinnlosigkeit der Jugend. Furcht vor der Jugend, Furcht vor der Sinnlosigkeit, vor dem sinnlosen Heraufkommen des unmenschlichen Lebens.

Tellheim:Zitiert aus Dilthey ›Das Erlebnis und die Dichtung‹.»Er hat jene freie Beweglichkeit des Seelenlebens, welche unter den wechselnden Lebensumständen immer wieder durch ganz neue Seiten überrascht, wie sie nur die Schöpfungen echter Dichter besitzen.«

 

19. Januar. Angst im Bureau abwechselnd mit Selbstbewußtsein. Sonst zuversichtlicher. Großer Widerwillen vor ›Verwandlung‹. Unlesbares Ende. Unvollkommen fast bis in den Grund. Es wäre viel besser geworden, wenn ich damals nicht durch die Geschäftsreise gestört worden wäre.

Tagebücher 1923

12. Juni. Die schrecklichen letzten Zeiten, unaufzählbar, fast ununterbrochen. Spaziergänge, Nächte, Tage, für alles unfähig, außer für Schmerzen.

Und doch. Kein »und doch«, so ängstlich und gespannt du mich ansiehst, Krizanowskaja auf der Ansichtskarte vor mir.

Immer ängstlicher im Niederschreiben. Es ist begreiflich. Jedes Wort, gewendet in der Hand der Geister – dieser Schwung der Hand ist ihre charakteristische Bewegung –, wird zum Spieß, gekehrt gegen den Sprecher. Eine Bemerkung wie diese ganz besonders. Und so ins Unendliche. Der Trost wäre nur: es geschieht, ob du willst oder nicht. Und was du willst, hilft nur unmerklich wenig. Mehr als Trost ist: Auch du hast Waffen.

Reisetagebücher

daraus: Ausschnitt des Tagebuchs aus Paris

Stichwort Kafka in diesem Blog

Erwähnung von Kafka in diesem Blog

Digitalisate von handschriftlichen Texten Kafkas 

26 Januar 2024

Maxim Gorkij: Erzählungen

 Matriona, die Dulderin

Es war einmal eine Frau, sagen wir, Matriona. Sie arbeitete für einen fremden Onkel, sagen wir Nikita, und für seine Verwandten und seine zahlreichen Leute.

Es ging der Frau schlecht. Onkel Nikita beachtete sie überhaupt nicht, obwohl er vor den Nachbarn prahlte:

»Meine Matriona hat mich sehr lieb. Ich tue mit ihr, was ich will. Ein musterhaftes Arbeitstier ist sie, gehorsam wie ein Gaul.« [...]

Aber der Held quält sie und fragt andauernd:

»Was bin ich für dich?«

Und schlägt sie hinter die Ohren und zaust sie am Zopfe.

Matriona küßt ihn, redet ihm gut zu, spricht freundliche Worte zu ihm:

»Ach, du mein lieber italienischer Garibaldi, o du mein englischer Cromwell, du mein französischer Bonaparte!«

Aber nachts weinte sie leise vor sich hin:

»Herrgott, Herrgott! Ich hatte gedacht, es würde wirklich etwas geschehen. Und das ist nun dabei herausgekommen!«

*

Ich gestatte mir daran zu erinnern, daß das ein Märchen ist.


Das Mädchen

Ein Mädchen singt im schrecklichsten Elendsviertel mit rührend kindlicher Stimme ihrer Puppe, einem Kochlöffel, ein Schlaflied. Der Erzähler ist gerührt.

Da sieht sie ihn - sie ist etwa 11 Jahre - und bietet sich ihm für 15 Kopeken an. "Los, komm schon" Als er nicht darauf eingeht: "Hab dich nicht so! Du glaubst wohl ich würde schreien, weil ich klein bin? Keine Angst, das habe ich früher getan ... während ich jetzt..." [...]

Ich ließ sie stehen und ging; ich trug in meinem Herzen ein böses Entsetzen und den traurigen   Blick der klaren Kinderaugen mit mir davon." (1905)

Bei Storm hieß es noch:

"Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll, der Kinder denkend, die ich ließ zu Haus. Weihnachten war’s, durch alle Gassen scholl der Kinder Jubel und des Markts Gebraus. Und wie der Menschenstrom mich fortgespült, drang mir ein heiser Stimmlein in das Ohr: „Kauft, lieber Herr!“ Ein magres Händchen hielt feilbietend mir ein ärmlich Spielzeug vor. Ich schrak empor, und beim Laternenschein sah ich ein blasses Kinderangesicht; wes Alters und Geschlechts es mochte sein, erkannt ich im Vorübergehen nicht. Nur von dem Treppenstein, darauf es saß, noch immer hört ich, mühsam, wie es schien: „Kauft, lieber Herr!“ den Ruf ohn Unterlaß; doch hat wohl keiner ihm Gehör verliehn. Und ich? War’s Ungeschick, war es die Scham, am Weg zu handeln mit dem Bettelkind? Eh’ meine Hand zu meiner Börse kam, verscholl das Stimmlein hinter mir im Wind. Doch als ich endlich war mit mir allein, erfaßte mich die Angst im Herzen so, als säß’ mein eigen Kind auf jenem Stein und schrie nach Brot, indessen ich entfloh."



07 Januar 2024

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr - Fortsetzung und Neuansatz

Ich habe meinen Artikel zum Thema "Ein Tag im Jahr"  von Christa Wolf aus dem Oktober 2023 noch einmal gelesen und merke, dem Buch werde ich nicht gerecht, wenn ich ihm nicht weit mehr Raum gebe: Christa WolfEin Tag im Jahr.

Daten zu Ch. Wolfs Leben

Christa Wolf im Jahr 2021 Briefausgabe, Archivmöglichkeiten (genderblog)

(Rezension von Evelyn Finger, 2003)

Was das Besondere an dem Buch ist, wurde in dem Artikel dargestellt. Es bietet so viel, dass ich mir weit mehr Zeit nehmen will zum Lesen.

Christa Wolf, geb. Ihlenfeld, ist 1929 in Landsberg an der Warthe, im heutigen Gorzów Wielkopolski, geboren, sie wuchs unter der Naziherrschaft auf. Ihre Erfahrungen aus dieser Zeit hat sie literarisch verfremdet in ihrem Roman Kindheitsmuster (1976) dargestellt und verarbeitet. Ich habe das Buch in der 3. Auflage des Aufbauverlags 1978 erworben, in meinem Lektüretagbuch aus der Zeit kommt es nicht vor. Ein Lesezeichen findet sich bei den Seiten 368/69. Was für eine Bedeutung das frühere Buch Nachdenken über Christa T. (1968) hatte, habe ich gewiss aus Rezensionen erfahren, als ich es in den Jahren 1981/83 in England las. 

Was für Schwierigkeiten Wolf schon 1962 mit ihrer Rolle als Schriftstellerin hat, wo sie erfahren hat, dass sie nicht mehr schreiben kann, was sie schreiben will. (Freundschaft mit dem alten Kommunisten und Widerstandskämpfer Friedrich Schlotterbeck, der aus Westdeutschland in die SBZ kam, dann aber 1953 wegen Verdachts von Kontakten zu 6 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde "Von den eigenen Leuten eingesperrt zu werden, sagt Frieder, fast entschuldigend, das schlaucht dich natürlich ungeheuer." Ein Tag im Jahr, S.52

Das habe ich erst in ihrem Eintrag 1962 gelesen. Das war ein Jahr, bevor ihr Roman Der geteilte Himmel (1963) herauskam, den ich geschätzt habe, aber auch als zu angepasst angesehen habe. Als sie 1964 den Nationalpreis für Literatur (3. Klasse) erhält, leidet sie bereits unter der ständigen Aufmerksamkeit und wacht erstmals nachts schreiend auf. - Ihre Wahrheit schreiben zu wollen, aber nur verfremdet schreiben zu dürfen, aber bis 1989 aus Solidarität mit ihren Lesern die DDR noch reformieren zu wollen 'schlaucht [sie] natürlich ungeheuer'. ("und ich frage mich, inwieweit die Schwierigkeiten dieses Jahres nicht einfach meine ganz persönlichen Schwierigkeiten sind, eines zu kleinen Talents, eines zu großen Ehrgeizes, eines zu schwächlichen, halbherzigen Lebens, aus dem eben nicht mehr heraus zu holen ist." (1966) Tag im Jahr, S. 83) Am Tag dieses Eintrags geht sie wegen ihrer psychisch-somatischen Probleme zum Arzt, legt aber mehr Make-up auf, um weniger krank auszusehen und nicht zu sehr von ihm durchschaut zu werden. (Auf dem Weg "versuche ich dann hochmütig auszusehen", S.88.)

Sie geht ins Regierungskrankenhaus. "Wie immer der höfliche Ton der Schwester, die meinen Namen nennt. Die Schwestern werden hier besser bezahlt als in anderen Krankenhäusern. [... Der Arzt] Er sagte plötzlich, dass weder die Patienten des Regierungskrankenhauses noch seine Kollegen, die nur dort arbeiteten, überhaupt wüssten, wie es in unserem Gesundheitswesen wirklich aussieht. Dass man in Krankenhäusern ganze Stationen wegen Personalmangel schließen müsse. Bei ihm lägen manchmal Leute mit Gehirntumor drei Wochen lang und könnten nicht operiert werden, daran sterben natürlich auch einige. Aber dafür gäbe es die famose Lösung: Jeder Beruf helfe sich mit seinen eigenen Kräften. In der Landwirtschaft aber kommen sie seit fünfzehn Jahren nicht mit ihrem Käse zurecht, jedes Jahr krauchten die Studenten vier Wochen lang auf Kartoffelecken herum, anstatt wenigstens als Pfleger in die Krankenhäuser zu gehen. Dann würde sich der Beruf mit seinen eigenen Kräften helfen. Aber für die Landwirtschaft scheint diese Lösung nicht zu gelten. Wenn man aber etwas sagt, heißt es von der Fakultätsparteileitung: Genossen, darüber gibt es keine Diskussion, das müsst ihr einsehen! – Ich: ich habe voriges Jahr eine Woche hier im Krankenhaus gelegen. Da ist mir klar geworden, was es heißt, nie mit der Realität in Berührung zu kommen. – Selbstverständlich. Diese Leute fahren nur in ihren Wagen, sie wissen nicht mehr, was in der S-Bahn vor sich geht, noch weniger, was die normalen Leute denken mögen. Die kommen sich doch verhöhnt vor, wenn in der Gemüseverkaufsstelle ein Plakat hängt: Einwecken - Vorsorge für den Winter! Und in ganz Berlin gibt es kein Einweck-glas zu kaufen. Dann soll sowas doch wenigstens die Stasi berichten, die sich auf den Straßen herumtreibt…" (S.91)

Natürlich ist eine so genaue auf die Biographie Wolfs bezugnehmende Darstellung auf die Dauer nicht durchzuhalten, aber - wegen Erkältung mich nicht zu entfremdeter Arbeit verpflichtet glaubend - leiste ich sie mir mal, weil sie mir im Rückblick besser erlaubt, mich zu erinnern, was das Buch mir gegeben hat.

27. September 1975:

"[...] Das Bedürfnis nach Sicherheit, das wir früher – wann war 'früher'? – nicht kannten. Hängt wohl auch damit zusammen, daß es mit dem neuen Buch so schleppend vorangeht und ich insgeheim immer damit rechne, nicht mehr schreiben zu können. Und daß ich mich für die Kinder, die keine Kinder* mehr sind, auch materiell weiter verantwortlich fühle. Zum Beispiel kaufe ich immer für sie mit ein, denke unaufhörlich an sie, denke für sie mit. Verschaffe mir Erleichterung, in dem ich mich an die schwierigen Zeiten in meinem Leben erinnere und daran, dass ich es ja auch 'geschafft' habe. Unaufhörlich das schlechte Gewissen, das ein Mann nicht kennt." (S. 197)
*Annette Wolf *1952, ihre Tochter Jana Simon, Kathrin (Tinka) *1956

"Dienstag 27.September 1977

Wolf schreibt - möglichst aktuell, aber doch immer wieder auch erst nachträglich oder auf mehrere Tage verteilt. Am 27.9.77 beginnt sie am Tag selbst, Nach 4,5 Druckseiten schreibt sie "Es ist jetzt 9 Uhr 45." - Da hat sie inzwischen [ab S.217] berichtet, dass sie morgens "vielleicht gegen drei" raus musste. 

Buchtext:

"Ich schlief bald wieder ein. erwachte endgültig um sechs. Obwohl ich mir abends – getreu eines Ratschlages in einer Fernsehsendung über Träume – den Befehl gegeben hatte, bei einem wichtigen Traum aufzuwachen und ihn zu behalten, verflüchtigte sich der Morgentraum unaufhaltsam. In meinem noch halbdämmrigen Bewusstsein setzte ein Suchen und Tasten nach festen Gegenständen ein, an denen die Gedanken sich halten könnten. Ich versuchte mir diese Gegenstände zu merken, da mir nach einiger Zeit einfiel, dass heute "Tag des Jahres" ist. Jetzt schon fällt es mir schwer, sie im Gedächtnis zu reproduzieren.

Immer noch geht es, wenn ich unwillkürlich mich denken lasse, um die Bewältigung des Schocks dieses Jahres – Biermann-Ausbürgerung und die Folgen. Immer noch bin ich verstrickt in einen inneren Monolog über dieses Thema, bemüht um Rechtfertigung und Selbstrechtfertigung. Ich probte im Innern einen Dialog mit Übersetzern in Buckow, zu denen ich morgen fahren werde, minutenlang verfiel ich in dem Wunschtraum, Sarah käme zurück und wir richten ihr eine Wohnung ein. Beobachte auch seit Tagen an mir eine Verfestigung meines Willens zum Hiersein, was immer das nun für die Zukunft bedeuten mag. Überlegte eine Atmosphäre, eine Stimmung für den Mittelteil meiner Kleist-Günderode-Geschichte, der mir zu schwerfällig, noch ohne Inspiration zu sein scheint. Diese Art Inspirationen, die kleineren, handwerklichen, muss ich mir langwierig und mühsam [S.217/218] erarbeiten. Andere, "größere" Einfälle kommen öfter, scheinbar mühelos. (Eben, als Gerd sagt, in seinem Fürnberg-Nachwort habe der Verlag den Namen "Ernst Fischer" gestrichen, denke ich, man müsste einmal etwas schreiben unter dem Titel und Person. So in diesem Sommer eine Fülle von Plänen: vorgestern Nacht fiel mir ein Dialog zu dem Thema "Demontage" ein, den ich gestern Vormittag aufschrieb, der von Gerd sofort als zu platt erkannt und gar nicht erst zu Ende gelesen wurde.) Froh bin ich über den Einfall, der "Fiction" zu einem vielschichtigen Stoff gemacht hat, zu dem ich auch an diesem Morgen, nach sechs, neue Einfälle hatte, den ich nun "nur" noch ausarbeiten muss. Wie so oft denke ich über die Grenzen nach, an die unser an Tabus geschultes Denken ständig stößt. Ich sehe, da es immer hell dafür, die Rose bei der Schreibmaschine vom Bett aus, finde sie schön, freue mich. Gerd fragt, wie spät es sei. – Halb sieben.. (Er hat nie eine Uhr in Reichweite.) Gar nicht so warm hier drin, sagt er. – Ich gestehe, mein Hals ist etwas dick. Immer die erste raue Luft im Herbst legt sich mehr auf den Rachen. Er will dagegen sofort etwas unternehmen, weiß bloß nicht, was, trauert den guten Tabletten nach, die wir voriges Jahr in Tübingen hatten, als ich eine Angina niederkämpfen musste. Oder war es vor zwei Jahren in der Schweiz (mir ist es unglaublich, dass Tübingen erst ein Jahr hier sein soll. Aufregung und Trauer und Verzweiflung scheint die Zeit zu dehnen.
Gegen dreiviertelsieben stehe ich auf, lasse Badewasser ein, höre die Nachrichten vom Deutschlandfunk: Norwegen ist bereit, an einem Wirtschaftsembargo gegen Südafrika teilzunehmen. Israel will Vertreter der Palästinenser in der Genfer Verhandlungsdelegation dulden. [...] [S. 218] 

[S.222] Freitag 30.9. 77, wieder in Meteln. Inzwischen ist das Wetter umgeschlagen, gestern kam ich bei Regen wieder in Schwerin an, um die Erkenntnis reicher, dass ich so stabil nicht bin, wie ich vor drei Tagen noch dachte, dass Meldungen über bestimmte Versammlungen mich immer noch deprimieren können. Aber ich muss den Dienstag rekonstruieren, ohne auf Notizen zurückgreifen zu können. [...] mache Spiegeleier, wasche das Frühstücksgeschirr ab… Was ich dabei dachte, weiß ich nun nicht mehr, so wird jetzt ein veräußerlichtes Bild dieses Tages hier entstehen müssen. Es zeigt sich – was auch am Erzählen nachprüfbar –: die äußeren Geschehnisse, Handlungen bleiben schärfer in der Erinnerung als das, was an inneren Leben – oft nicht synchron damit - abläuft. Ebenso, man sagt es mir auch von "Kindheitsmuster" immer wieder: die fast konventionell erzählten Partien, die dort entwickelten Figuren prägen das Erinnerungsbild des Buches bei vielen Lesern, viel stärker jedenfalls als die Reflektionen. Die Frage einer jungen Polin vorgestern auf dem Übersetzerseminar: Man lebe so mit der Familie [S.223] Jordan mit, man identifiziere sich so mit ihr – könne man da nicht die sechs Millionen Toten in Polen darüber vergessen? Zielte auf dieses Phänomen, auf die Kraft des Erzählten, auf sein Durchsetzungsvermögen gegenüber dem nur Gedachten. Muß überlegt werden für künftige Arbeiten.

Ich wusch noch das Mittagsgeschirr – jetzt weiß ich es wieder: Ich war unwillig geworden, nahm das ewige Geschirrwaschen zum Vorwand für den Widerwillen, der sich in Wirklichkeit um eine unterdrückte Angst zusammenzog:; dieses Selbstbehauptungsprogramm, das ich mir fest vorgenommen habe, zeigt seine Kehrseite: ich gebe mir weniger gern die Rückfälle zu, die Angst, die durch einen lächerlichen kleinen Artikel ausgelöst wird, die Fantasien – selbstquälerische –, die sich sofort daran knüpfen und mich mutlos machen, gleich wieder den Wunsch nach Selbstzerstörung hervor treten lassen, den ich doch ernsthaft und systematisch niederkämpfen will. Mir ist klar, daß ich damit werde ich leben müssen – aber eben leben: Er darf mich nicht einschränken. Vielleicht sind manche meiner Mutproben diesem unbewußten Vorsatz zu danken, das ich mich von meiner Angst nicht einschränken lassen will. Dabei ungeheuer und unabweisbar nach diesem Jahr (das eigentlich 'zuviel' war, aber Gerd hat natürlich recht: man muss es anders nehmen: so ist diese Zeit, und so bin ich in ihr, und auch das muss ich nicht aushalten, sondern zur Kenntnis nehmen und durchleben…) Eine alles andere zurückdrängende Sehnsucht nach Ruhe. Nach einem Winkel, in dem man mich einfach leben ließe, ohne Verdächtigung, ohne Beschimpfungen, ohne den Zwang, mich andauernd vor anderen und vor mir verteidigen zu müssen dafür, dass ich so bin oder: so werde. Dies niederzuschreiben, kostet Überwindung wegen der bodenlose Naivität und Unerfüllbarkeit eines solchen Wunsches. Es gibt diesen Winkel nicht. Es gibt nur dieses Spannungsfeld (hier oder dort), in dem Leute wie ich immer zwischen den Fronten stehen, immer von beiden Seiten angegriffen sein müssen; da dann damit zu rechnen haben, dass sie sich, unter dieser Belastung, verändern: [S.223/ 224] zu empfindlich, auch ungerecht werden, also Angriffsfläche bieten, was dann die Munterkeit der Kampagne steigert. Es ist fast eine Materialfrage: wir müssen Nerven beschaffen sein, die das auf die Dauer aushalten. Manchmal wünsche ich mir einen Zusammenbruch, der mir vielleicht eine Pause von ein paar Wochen beschaffen könnte. Aber ich bin inzwischen so gefestigt, daß ich sehr lange am Rande meiner Kraft leben kann. Nicht mehr als ein bißchen Blutdruckanstieg manchmal, ein bisschen Herz- und Magenschmerzen, gehäufte Migräne: das war früher schlimmer, aus minderen Anlässen.
Neulich schrieb mir jemand, die Zahl meiner potentiellen Leser in diesem Land müsse immer mehr abnehmen, das sei gesetzmäßig. Das glaube ich auch.
Die Wunden sind noch schmerzempfindlich, und ich habe Angst auch vor diesem Schmerz, der an Grausamkeit alles überstieg, was ich vorher kannte. So, unter diesen Empfindungen, sitze ich dann stumm neben Gerd im Auto, er streicht mir manchmal übers Knie, dringt nicht in mich wie sonst oft, wenn er Charakter und Herkunft einer Stimmung sofort erfahren will, um dagegen zu polemisieren.
Die Luft ist kalt und klar. Als wir in Lübstorf abbiegen sagt Gerd: Hier ist es einem direkt schon heimatlich, findest du nicht. – Ich denke, wie kostbar ein Heimatgefühl ist und wie schwer man es aufgeben würde. Diesen doppelten Boden haben seit ein paar Monaten alle meine Gedanken. Ich denke, nie mehr würde ich mich woanders heimisch fühlen können, wenn ich hier wegginge. Und ich frage mich, wie hoch der Preis unter Umständen wäre, den ich für dieses Heimatgefühl zu zahlen bereit wäre. Ich frage mich, welchen Preis ich täglich unbewußt zahle, einen Preis in der Münze: Wegsehen, weghören, oder zumindest schweigen. Ich denke oft, ob die Rechnung dafür uns noch zu unseren Lebzeiten präsentiert wird. Wenn nicht, muss ich sie mir selber präsentieren. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal die Kraft aufbringe zu der Schonungslosigkeit, die da gebraucht würde. Das ist vielleicht, [S.225] die Kernfrage für die Weiterarbeit, die ich manchmal einfach aufgeben möchte. [...]"

Mittwoch, 27. September 1978 Meteln

"[...] Bei Büchner und Wilde: Unterschied von moralisch sein, als Autor, und moralisieren. Dem muss nachgegangen werden. [...] Beim Aufwachen sah ich einen viereckigen Sonnenfleck an dem Podest, auf dem ich arbeite. Also hatte der Himmel, der nachts sternenklar gewesen war, 'gehalten', erfreulich nach der / unaufhörlichem Regenfinsternis dieses Herbstes." (S.233/34)  

"Während ich Wasser in die Wanne laufen lasse, ertappe ich mich bei der Melodie des Liedes: Hörst du mein heimliches Rufen Hörst du mein heimliches Rufen – wahrscheinlich jahrelang nicht mehr gehört, geschweige gesungen: Lass dich nur einmal noch küssen, zeige mir dein liebes Gesicht… Woher kommt das nun? Ich bade,/ dusche kalt. Abrubbeln mit dem neuen Handtuch: gehört auch zu den Lebensgenüssen. [...] Schon wieder summe ich ein Lied von früher, es kommt aus dem gleichen sentimentalen Vorrat wie das erste: Rosemarie, Rosemarie, sieben Jahre mein Herz nach dir schrie… Also was ist los heute morgen? Wohin steuert mein Unbewusstes, oder: wovon lässt es sich treiben? In einer Assoziationskette komme ich auf die anderen, auf 'unsere' Lieder, die mich jahrelang begleiteten – die ganze Kindheit unserer Kinder lang – und die ich jetzt kaum noch singe, es sei denn auch unbewußt. Einige Zwischenglieder, die ich vergessen, kaum wahrgenommen habe – und schon bin ich wieder beim Herbst '76, beim Januar '77, bei jener Versammlung, bei meinem Verteidigungsversuch. Ich muss die Bilderreihe gewaltsam abbrechen. [...] Das Motiv des Sich-selber-fremd-Werdens beschäftigt mich, vielleicht kann es das Übermotiv werden zu jener 'Fiction' genannten fantastischen Geschichte, die in mir arbeitet, aber noch nicht fertig ist.. [...]

Immer neue Pickel von gestörten Hormonhaushalt, bei dem das Weiblichkeitshormon allmählich auszufallen beginnt. Neulich las ich in einem der beschwichtigenden Artikel, daß der Körper ja jahrelang Zeit habe, sich daran anzupassen. Neue geplatzte Äderchen auf der Wange, der Abdeckstift muss immer mehr abdecken. Mich stört es nicht, obwohl ich mich manchmal frage, ob eigentlich auch mein Körper, so wie mein Geist, sein volles reiches Leben gehabt hat, ob 'ich' / ihm nicht etwas schuldig blieb in meiner Einseitigkeit. Jetzt auf dem Lande kommt er ja mehr zu seinem Recht als in der Stadt. Die Sinne tun sich hier auf, und sie verkümmern schnell und schmerzhaft in zwei, drei Stadttagen: das ist eine der Anstrengungen von Berlin.

Was bedeutet es, dass ich, obwohl niemals 'schön' gewesen, obwohl der Mängel meiner Figur immer bewusst, obwohl selten von anderen Männern begehrt, als Frau keinen Minderwertigkeitskomplex habe? Als junges Mädchen war ich eigentlich darauf angelegt. Wahrscheinlich hat das Zusammenleben mit Gerd und die Intensität und vielleicht auch der Erfolg beim Schreiben ausgereicht, meiner Gier nach einem vollen Leben Genüge zu tun." (S. 234-236)

"Ingeborg A. fragte mich, was ich jetzt arbeitete. Ich sagte, da ich den 'Günderode-Scheiß' [1979 veröffentlicht] nun hinter mir habe, würde ich jetzt etwas 'für mich' schreiben und dann noch was nur für mich – um auszuprobieren, ob ich noch ehrlich sein könnte: Wenn man zum Veröffentlichen schreibe, sei man zwar nicht unehrlich, aber es schiebe sich doch immer etwas zwischen den Kopf und die Hand, und es sei ganz gut, hin und wieder auszuprobieren, ob man diese Zwischenschicht noch weg kriege (es ist ja nur einer der Gründe für das 'Für–mich–Schreiben', aber auch einer)." (S.242)

Christa Wolf 1990 im Gespräch mit ihrer Tochter Annette am 27.9. wenige Tage vor der offiziellen deutschen Einigung:

"Es gibt wohl ein physikalisches Grundgesetz, nach dem Energie nicht verloren gehen kann. Ob dies auch auf seelische Energie zutrifft?

Das frage ich Annette, sie muss es doch wissen. Sie sagt, hier in diesem Land war sehr viel Energie angestaut, die jetzt explosionsartig ausgebrochen ist. Vieles davon wird verpuffen, meint sie. Wir haben uns doch alle in einem seelischen Ausnahmezustand befunden und kehren jetzt zur Normalität zurück. – Normalität? sage ich. Du meinst: In die Krise. – Mutter, sagt sie, du weißt es doch selbst: Das ist jetzt die Normalität. Muss es auch sein. Wäre schlimm, wenn wir die Krise verdrängen würden. – Krise als Chance, sage ich, Kluge Tochter." (S.469).

Zum 27.9.1995, S.543 ff.

Eindrucksvoll, wie Wolf an dem Plan festhält, weiterhin jährlich aus ihrer jeweiligen Gegenwart heraus zu schreiben und ungeschützt Tagesgedanken festzuhalten, obwohl sie sich dessen bewusst ist, dass sie so nicht ihre reflektierte Wahrheit festhalten kann, sondern nur 'Augenblicks'gedanken.  Und dann nach über 30 Jahren dieser Arbeit die Formulierung: "Und ich muss darüber nachdenken, was für einen Unterschied es macht, wenn man eine Geschichte oder auch nur einen Tag von ihrem/seinem Ende hier erzählen kann, oder wenn man einfach mitstenografiert, ohne zu wissen was / kommt – dann kann man auch keine Zentren schaffen, keine Schwerpunkte setzen, selbst die Reflektionen geraten dann dünner." (S. 552/553)

Andererseits hat sie vorher zum selben Tag festgehalten:

"Am Nachmittag habe ich in den Text für den Luchterhand Verlag, der den Inhalt des Medea- Manuskripts beschreibt, den Satz geschrieben: 'Die Erzählerin lässt durchscheinen, dass sich die Verhaltensweisen der gesellschaftlich lebenden Menschen nicht geändert haben, seit Geschichte überliefert wurde.' Und dass diese Verhaltensweisen sich auch nicht ändern werden, könnte ich hinzufügen. Und ich frage mich, ob diese anscheinend tief in mich eingedrungene Überzeugung mit dafür verantwortlich ist, dass der Schreibantrieb schwächer geworden ist (was mir Lew Kopelew, wie ich es ihm neulich im Krankenhaus andeutete, verübelte und heftig bestritt). Oder woher sonst rührt das von Trifonov beobachtete 'Nachlassen der Schreiblibido'? Aus dem Nachlassen der Gefühllsintensität? Aus dem häufig aufkommenden Reflex: Aber das habe ich doch alles schon erlebt? So dass auch die Befriedigung, ein Manuskript beendet zu haben – wie vorgestern endlich das der Medea, das jetzt beim Schreibbüro ist – sich in Grenzen hält. Und doch ist da etwas, vielleicht nur eine Gewohnheit, vielleicht eine lange eintrainierte Disziplin –, dass mich anhält, eben doch jeden Tag ein Stück zu schreiben, auch meine Tagesabläufe zu notieren."  (S.544)

Vielleicht ist aber auch gerade dieses Notieren von Tagesläufen, das nicht in Anspruch nimmt, dass das Schreiben etwas Sinnhaftes ist, was ihr ermöglicht, die Schreibkrise zu überwinden, obwohl aus den oben genannten Gründen ihre Schreiblibido so stark abgenommen hat.

 Bei einer Besichtigung des KZ Groß-Rosen: "wir bogen hinauf und sahen das Tor, ein körperlicher Schlag. Ich weiß, dieses Tor ist es, dass mich nicht schlafen lässt, 'Arbeit macht frei', ich überwand mich,  im Näherkommen zu fotografieren, für Honza, dachte ich, auch für Franci [Franci ­Faktorová (1926–1997), Mutter von Jan Faktor]. [...Dann berichtet Wolf, dass"Eva Erban, die polnische Vorsitzende der Kreisau-Stiftung, die aus Wroclaw herüber gekommen war, sich plötzlich veranlasst sah, von ihren sieben Jahren Sibirien zu sprechen, davon, dass die Russen anderthalb oder zwei Millionen Polen nach Sibirien verschleppt haben, Intellektuelle, Richter, Militärs sowieso, Flüchtlinge aus den Westgebieten… Erinnere mich an die dunklen Augen von Eva Urban, an ihrer Verhaltenheit, wie sie sagt, die Nazis hätten nur zwölf Jahre gehabt, die Sowjets aber siebzig ... . Aber nun wollen wir das Thema wechseln, sagte sie, erinnere ich mich, sie ist dreiundsiebzig und geht schwerfällig, auf einen Stock gestützt. Sie habe 'Kindheitsmuster' vor zwanzig Jahren 'mit brennenden / Ohren' gelesen. – Ich aber sehe hinter allen, vor allen anderen Bildern das Tor." (S.603)

Gerhard Wolf  "Er wiederholt, dass er kaum begreifen kann, wie viel wir noch unterwegs sind, [...] und wenn ich ihn so reden höre, kann ich es selber nicht begreifen und nehme mir vor, für das nächste Jahr noch einige Termine abzusagen. [...]

Ich fange an, darüber nachzudenken, was ich im Februar bei den Poetik-Vorlesungen an der Uni in Göttingen machen könnte. Vielleicht sollte ich über das Tagebuch als literarische Gattung und als Rohstoff für Literatur reden, mir die Frage stellen, wie eigentlich aus den Stück für Stück durchlebten Alltagen 'Schicksal' wird, 'ein Leben', wann und wodurch sich / das banale Alltägliche verwandelt in etwas Tieferes, in Zeitgenossenschaft; überhaupt der Zeitbegriff, unantastbar in seiner schlichten Ausdehnung Minute für Minute, in denen meist gar nichts 'passiert', ich stelle mir die endlosen Minuten der KZ-Häftlinge vor, diese Eintönigkeit, die sicherlich diese Zeit in ihrer Erinnerung unförmig macht und unsere Sucht nach Erleben, nach 'events', die ihrerseits auch die Zeit totschlägt. (Jana sagt, zu ihrem Kummer habe sie kaum Erinnerungen an die Wendezeit, sie ärgert sich, dass sie nichts aufgeschrieben hat.)
Mein Verlangen, möglichst alles festzuhalten, durch diese Aufzeichnungen die Zeit aufzufressen, die ich für das eigentliche Schreiben benötigen würde, und später, wenn ich die tagebuchartigen Manuskripte wieder lese, festzustellen, dass ich beinah alles vergessen hätte, wenn ich es nicht aufgeschrieben hätte. Wohin entschwindet das Erlebte? Und inwiefern prägt es uns doch? Was ja Literatur behauptet, wenn sie aus dem Alltagsstrom verfälschend bestimmten Vorgängen, bestimmten Gedanken und Gefühlserscheinungen Bedeutsamkeit verleiht. Nicht zufällig liegt 'Kindheitsmuster' ein Reisetagebuch zugrunde, nicht zufällig beruht die Struktur von 'Stadt der Engel' auch auf einem Tagebuch, 'Was bleibt' ist die Beschreibung eines Tages, ebenso 'Störfall'. Anscheinend glaube ich, nur so authentisch sein zu können, den Verfälschungen, die Literatur ja auch bedeutet, zu entgehen. [...]
auf einmal höre ich: In den Ostwind hebt die Fahnen – ein Lied, an das ich viele Jahre nicht mehr gedacht habe, Gerd kennt es, er ist erschrocken wie ich über die Zeilen: Und ein Land gibt uns die Antwort / und es trägt ein deutsch Gesicht / dafür haben / viel geblutet / und nun schweigt der Boden nicht.* – Woher jetzt dieses Lied aus einer früheren Geschichtsepoche?" (Seite  604-606)

*  Vollständiger Text:

In den Ostwind hebt die Fahnen,
Denn im Ostwind stehn sie gut,
Dann befehlen sie zum Aufbruch,
Und den Ruf hört unser Blut.
Denn ein Land gibt uns die Antwort,
Und das trägt ein deutsch Gesicht,
Dafür haben wir geblutet,
Und drum schweigt der Boden nicht.


In den Ostwind hebt die Fahnen,
Laßt sie neue Straßen gehn,
Laßt sie neue Straßen ziehen,
Daß sie alte Heimat sehn.
Denn ein Land gibt uns die Antwort,
Und das trägt ein deutsch Gesicht,
Dafür haben wir geblutet,
Und drum schweigt der Boden nicht.

In den Ostwind hebt die Fahnen,
Daß sie wehn zu neuer Fahrt.
Macht euch stark, wer baut im Osten,
Dem wird keine Not erspart.
Doch ein Land gibt uns die Antwort
Und das trägt ein deutsch Gesicht,
Dafür haben wir geblutet,
Und drum schweigt der Boden nicht.

Melodie und Text Hans Baumann


"Auf dem Anrufbeantworter neben Nachrichten für Gerds Verlag [...] auch ein Anruf von Günter Gaus, seine Stimme ist heiser, er hat seine dritte Chemotherapie hinter sich, es gehe 'ganz gut', er fragt, ob wir uns am 10. Oktober, dem Wahlsonntag, bei uns sehen können. Ich denke sehr oft an ihn [...]" (S.607)

Fortsetzung: Ein Tag im Jahr 3

01 Januar 2024

Helmut Schmidt/Giovanni di Lorenzo: Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt

 Helmut Schmidt/Giovanni di Lorenzo: Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt,   2009/2010; 15. Aufl. 2011

Zitate:

Von der Kubakrise bis zum Nato-Doppelbeschluss

[...] bestand zur Zeit Ihrer Kanzlerschaft wirklich die Gefahr eines Atomkriegs, wie wir damals alle glaubten?

Seit der Kubakrise 1962 keine akute Gefahr. [...]

In diesem Zusammenhang sollte ich erwähnen, dass ich die nukleare Gefahr schon lange vorher sehr deutlich gesehen habe. Als ich 1969 Verteidigungsminister wurde, stieß ich auf Pläne der NATO und der deutschen Militärs, entlang der Zonengrenze auf westdeutscher Seite Hunderte atomarer Landminen zu vergraben.

Von wem stammte denn dieser irrsinnige Plan?
Von der NATO. Gemeinsam mit einem Amerikaner habe ich diesen todgefährlichen Unfug beseitigen können. Der Amerikaner hieß Melvin Laird, er war damals amerikanischer Verteidigungsminister. [...] 
Ich habe gesagt, wenn irgendein kommunistischer Kommandeur in der Verfolgung irgendwelcher flüchtigen Leute über die Grenze rüberkommt und eine atomare Mine geht hoch, dann heben alle deutschen Soldaten die Hände hoch, dann ist Schluss mit der Verteidigung. Dieses Argument hat den amerikanischen Verteidigungsminister überzeugt. Er war genau wie ich ein alter Soldat und wusste, was man Soldaten zumuten kann und was nicht.
Verstehe ich nicht.
Sogar die japanischen Soldaten haben nach der ersten Bombe die Hände hochgehoben. Die zweite Bombe auf Nagasaki war gar nicht mehr notwendig.
Die Massendemonstration im Bonner Hofgarten gegen die Stationierung amerikanischer Raketen in Deutschland wurde als regelrechte Anti-Schmidt-Demonstration verstanden, das war im Jahr 19 81.
Die war auch wohl so gemeint. Aber es war im wesentlichen die Angst vor dem Atomkrieg. Die Anti-Schmidt-Komponente spielte eine zweit- oder drittklassige Rolle; denn mein Amtsnachfolger Helmut Kohl musste etwa später eine gleiche Demonstration aushalten.
Wissen Sie noch, was Willy Brandt damals zu den Protesten von mehr als 300.000 Menschen gesagt hat?
Ich erinnere mich nicht.
Er habe auf deutschem Boden schon Schlimmeres gesehen als eine Massendemonstration für den Frieden.
Ja, das würde ich unterschreiben. Ich habe auf deutschem Boden auch schon viel Schlimmeres gesehen. Willy Brandt hat es von draußen gesehen.
Nimmt das Brands Worten etwas?
Keineswegs. Wohl aber hat der NATO-Doppelbeschluss, gegen den die beiden Demonstrationen sich richteten, zum allerersten Abrüstungsvertrag und auf beiden Seiten zur Beseitigung aller atomare Mittelstreckenraketen geführt."
(29. November 2007, S.91-93)

Zum Parteiensystem in Deutschland

"[...] bekommen wir politisch in Deutschland bald italienische Verhältnisse: immer mehr Parteien und Koalitionsmöglichkeiten?
Es gibt eine Übereinstimmung zwischen Italien und Deutschland. [...] Die gleiche Übereinstimmung gibt es aber auch mit Frankreich, Belgien oder Holland. Im deutschen Fall fallen immerhin alle Stimmen für jene Splitterparteien unter den Tisch, die weniger als 5 Prozent erreichen. Aber theoretisch könnten wir im Bundestag bis zu 19 Parteien haben, wenn jede 5,1 Prozent erhält. Das Verhältniswahlrecht zwingt überall zu Koalitionsbildung, weil es zu viele Parteien hervorbringt. [...]
Das Auftreten einer zusätzlichen Partei führt in Hessen zu einer Blockade.
Das ist eigentlich nicht so schlimm. Die 16 Bundesländer brauchen nicht notwendig Regierung und Opposition; notwendig ist eine anständige Verwaltung und ebenso ein Landtag, der die Verwaltung sorgfältig überwacht. Das Problem der Koalitionsbildung stellt sich im Bund, denn in Berlin muss wirklich regiert werden. Zur Zeit ist es mit der großen Koalition gelöst.
Die einige der Beteiligten längst überhaben. 
Einige Leute an der Spitze reden so, als ob sie die Koalition nicht mehr wollten. Sie setzen Sie aber fort. [...]
Glauben Sie, dass die SPD mit der Linken einmal koalieren wird? Sehen Sie das schlimm?
Die Frage ist, ob es die Linkspartei noch ein paar Jahrzehnte geben wird. Davon bin ich gar nicht überzeugt.
(21. Februar 2008, S.128-130)