Ich habe meinen Artikel zum Thema "Ein Tag im Jahr" von Christa Wolf aus dem Oktober 2023 noch einmal gelesen und merke, dem Buch werde ich nicht gerecht, wenn ich ihm nicht weit mehr Raum gebe: Christa Wolf: Ein Tag im Jahr.
Daten zu Ch. Wolfs Leben
Christa Wolf im Jahr 2021 Briefausgabe, Archivmöglichkeiten (genderblog)
(Rezension von Evelyn Finger, 2003)
Was das Besondere an dem Buch ist, wurde in dem Artikel dargestellt. Es bietet so viel, dass ich mir weit mehr Zeit nehmen will zum Lesen.
Christa Wolf, geb. Ihlenfeld, ist 1929 in Landsberg an der Warthe, im heutigen Gorzów Wielkopolski, geboren, sie wuchs unter der Naziherrschaft auf. Ihre Erfahrungen aus dieser Zeit hat sie literarisch verfremdet in ihrem Roman Kindheitsmuster (1976) dargestellt und verarbeitet. Ich habe das Buch in der 3. Auflage des Aufbauverlags 1978 erworben, in meinem Lektüretagbuch aus der Zeit kommt es nicht vor. Ein Lesezeichen findet sich bei den Seiten 368/69. Was für eine Bedeutung das frühere Buch Nachdenken über Christa T. (1968) hatte, habe ich gewiss aus Rezensionen erfahren, als ich es in den Jahren 1981/83 in England las.
Was für Schwierigkeiten Wolf schon 1962 mit ihrer Rolle als Schriftstellerin hat, wo sie erfahren hat, dass sie nicht mehr schreiben kann, was sie schreiben will. (Freundschaft mit dem alten Kommunisten und Widerstandskämpfer Friedrich Schlotterbeck, der aus Westdeutschland in die SBZ kam, dann aber 1953 wegen Verdachts von Kontakten zu 6 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde "Von den eigenen Leuten eingesperrt zu werden, sagt Frieder, fast entschuldigend, das schlaucht dich natürlich ungeheuer." Ein Tag im Jahr, S.52)
Das habe ich erst in ihrem Eintrag 1962 gelesen. Das war ein Jahr, bevor ihr Roman Der geteilte Himmel (1963) herauskam, den ich geschätzt habe, aber auch als zu angepasst angesehen habe. Als sie 1964 den Nationalpreis für Literatur (3. Klasse) erhält, leidet sie bereits unter der ständigen Aufmerksamkeit und wacht erstmals nachts schreiend auf. - Ihre Wahrheit schreiben zu wollen, aber nur verfremdet schreiben zu dürfen, aber bis 1989 aus Solidarität mit ihren Lesern die DDR noch reformieren zu wollen 'schlaucht [sie] natürlich ungeheuer'. ("und ich frage mich, inwieweit die Schwierigkeiten dieses Jahres nicht einfach meine ganz persönlichen Schwierigkeiten sind, eines zu kleinen Talents, eines zu großen Ehrgeizes, eines zu schwächlichen, halbherzigen Lebens, aus dem eben nicht mehr heraus zu holen ist." (1966) Tag im Jahr, S. 83) Am Tag dieses Eintrags geht sie wegen ihrer psychisch-somatischen Probleme zum Arzt, legt aber mehr Make-up auf, um weniger krank auszusehen und nicht zu sehr von ihm durchschaut zu werden. (Auf dem Weg "versuche ich dann hochmütig auszusehen", S.88.)
Sie geht ins Regierungskrankenhaus. "Wie immer der höfliche Ton der Schwester, die meinen Namen nennt. Die Schwestern werden hier besser bezahlt als in anderen Krankenhäusern. [... Der Arzt] Er sagte plötzlich, dass weder die Patienten des Regierungskrankenhauses noch seine Kollegen, die nur dort arbeiteten, überhaupt wüssten, wie es in unserem Gesundheitswesen wirklich aussieht. Dass man in Krankenhäusern ganze Stationen wegen Personalmangel schließen müsse. Bei ihm lägen manchmal Leute mit Gehirntumor drei Wochen lang und könnten nicht operiert werden, daran sterben natürlich auch einige. Aber dafür gäbe es die famose Lösung: Jeder Beruf helfe sich mit seinen eigenen Kräften. In der Landwirtschaft aber kommen sie seit fünfzehn Jahren nicht mit ihrem Käse zurecht, jedes Jahr krauchten die Studenten vier Wochen lang auf Kartoffelecken herum, anstatt wenigstens als Pfleger in die Krankenhäuser zu gehen. Dann würde sich der Beruf mit seinen eigenen Kräften helfen. Aber für die Landwirtschaft scheint diese Lösung nicht zu gelten. Wenn man aber etwas sagt, heißt es von der Fakultätsparteileitung: Genossen, darüber gibt es keine Diskussion, das müsst ihr einsehen! – Ich: ich habe voriges Jahr eine Woche hier im Krankenhaus gelegen. Da ist mir klar geworden, was es heißt, nie mit der Realität in Berührung zu kommen. – Selbstverständlich. Diese Leute fahren nur in ihren Wagen, sie wissen nicht mehr, was in der S-Bahn vor sich geht, noch weniger, was die normalen Leute denken mögen. Die kommen sich doch verhöhnt vor, wenn in der Gemüseverkaufsstelle ein Plakat hängt: Einwecken - Vorsorge für den Winter! Und in ganz Berlin gibt es kein Einweck-glas zu kaufen. Dann soll sowas doch wenigstens die Stasi berichten, die sich auf den Straßen herumtreibt…" (S.91)
Natürlich ist eine so genaue auf die Biographie Wolfs bezugnehmende Darstellung auf die Dauer nicht durchzuhalten, aber - wegen Erkältung mich nicht zu entfremdeter Arbeit verpflichtet glaubend - leiste ich sie mir mal, weil sie mir im Rückblick besser erlaubt, mich zu erinnern, was das Buch mir gegeben hat.
27. September 1975:
"[...] Das Bedürfnis nach Sicherheit, das wir früher – wann war 'früher'? – nicht kannten. Hängt wohl auch damit zusammen, daß es mit dem neuen Buch so schleppend vorangeht und ich insgeheim immer damit rechne, nicht mehr schreiben zu können. Und daß ich mich für die Kinder, die keine Kinder* mehr sind, auch materiell weiter verantwortlich fühle. Zum Beispiel kaufe ich immer für sie mit ein, denke unaufhörlich an sie, denke für sie mit. Verschaffe mir Erleichterung, in dem ich mich an die schwierigen Zeiten in meinem Leben erinnere und daran, dass ich es ja auch 'geschafft' habe. Unaufhörlich das schlechte Gewissen, das ein Mann nicht kennt." (S. 197)
*Annette Wolf *1952, ihre Tochter Jana Simon
, Kathrin (Tinka) *1956
"Dienstag 27.September 1977
Wolf schreibt - möglichst aktuell, aber doch immer wieder auch erst nachträglich oder auf mehrere Tage verteilt. Am 27.9.77 beginnt sie am Tag selbst, Nach 4,5 Druckseiten schreibt sie "Es ist jetzt 9 Uhr 45." - Da hat sie inzwischen [ab S.217] berichtet, dass sie morgens "vielleicht gegen drei" raus musste.
Buchtext:
"Ich schlief bald wieder ein. erwachte endgültig um sechs. Obwohl ich mir abends – getreu eines Ratschlages in einer Fernsehsendung über Träume – den Befehl gegeben hatte, bei einem wichtigen Traum aufzuwachen und ihn zu behalten, verflüchtigte sich der Morgentraum unaufhaltsam. In meinem noch halbdämmrigen Bewusstsein setzte ein Suchen und Tasten nach festen Gegenständen ein, an denen die Gedanken sich halten könnten. Ich versuchte mir diese Gegenstände zu merken, da mir nach einiger Zeit einfiel, dass heute "Tag des Jahres" ist. Jetzt schon fällt es mir schwer, sie im Gedächtnis zu reproduzieren.
Immer noch geht es, wenn ich unwillkürlich mich denken lasse, um die Bewältigung des Schocks dieses Jahres – Biermann-Ausbürgerung und die Folgen. Immer noch bin ich verstrickt in einen inneren Monolog über dieses Thema, bemüht um Rechtfertigung und Selbstrechtfertigung. Ich probte im Innern einen Dialog mit Übersetzern in Buckow, zu denen ich morgen fahren werde, minutenlang verfiel ich in dem Wunschtraum, Sarah käme zurück und wir richten ihr eine Wohnung ein. Beobachte auch seit Tagen an mir eine Verfestigung meines Willens zum Hiersein, was immer das nun für die Zukunft bedeuten mag. Überlegte eine Atmosphäre, eine Stimmung für den Mittelteil meiner Kleist-Günderode-Geschichte, der mir zu schwerfällig, noch ohne Inspiration zu sein scheint. Diese Art Inspirationen, die kleineren, handwerklichen, muss ich mir langwierig und mühsam [S.217/218] erarbeiten. Andere, "größere" Einfälle kommen öfter, scheinbar mühelos. (Eben, als Gerd sagt, in seinem Fürnberg-Nachwort habe der Verlag den Namen "Ernst Fischer" gestrichen, denke ich, man müsste einmal etwas schreiben unter dem Titel und Person. So in diesem Sommer eine Fülle von Plänen: vorgestern Nacht fiel mir ein Dialog zu dem Thema "Demontage" ein, den ich gestern Vormittag aufschrieb, der von Gerd sofort als zu platt erkannt und gar nicht erst zu Ende gelesen wurde.) Froh bin ich über den Einfall, der "Fiction" zu einem vielschichtigen Stoff gemacht hat, zu dem ich auch an diesem Morgen, nach sechs, neue Einfälle hatte, den ich nun "nur" noch ausarbeiten muss. Wie so oft denke ich über die Grenzen nach, an die unser an Tabus geschultes Denken ständig stößt. Ich sehe, da es immer hell dafür, die Rose bei der Schreibmaschine vom Bett aus, finde sie schön, freue mich. Gerd fragt, wie spät es sei. – Halb sieben.. (Er hat nie eine Uhr in Reichweite.) Gar nicht so warm hier drin, sagt er. – Ich gestehe, mein Hals ist etwas dick. Immer die erste raue Luft im Herbst legt sich mehr auf den Rachen. Er will dagegen sofort etwas unternehmen, weiß bloß nicht, was, trauert den guten Tabletten nach, die wir voriges Jahr in Tübingen hatten, als ich eine Angina niederkämpfen musste. Oder war es vor zwei Jahren in der Schweiz (mir ist es unglaublich, dass Tübingen erst ein Jahr hier sein soll. Aufregung und Trauer und Verzweiflung scheint die Zeit zu dehnen. Gegen dreiviertelsieben stehe ich auf, lasse Badewasser ein, höre die Nachrichten vom Deutschlandfunk: Norwegen ist bereit, an einem Wirtschaftsembargo gegen Südafrika teilzunehmen. Israel will Vertreter der Palästinenser in der Genfer Verhandlungsdelegation dulden. [...] [S. 218]
[S.222] Freitag 30.9. 77, wieder in Meteln. Inzwischen ist das Wetter umgeschlagen, gestern kam ich bei Regen wieder in Schwerin an, um die Erkenntnis reicher, dass ich so stabil nicht bin, wie ich vor drei Tagen noch dachte, dass Meldungen über bestimmte Versammlungen mich immer noch deprimieren können. Aber ich muss den Dienstag rekonstruieren, ohne auf Notizen zurückgreifen zu können. [...] mache Spiegeleier, wasche das Frühstücksgeschirr ab… Was ich dabei dachte, weiß ich nun nicht mehr, so wird jetzt ein veräußerlichtes Bild dieses Tages hier entstehen müssen. Es zeigt sich – was auch am Erzählen nachprüfbar –: die äußeren Geschehnisse, Handlungen bleiben schärfer in der Erinnerung als das, was an inneren Leben – oft nicht synchron damit - abläuft. Ebenso, man sagt es mir auch von "Kindheitsmuster" immer wieder: die fast konventionell erzählten Partien, die dort entwickelten Figuren prägen das Erinnerungsbild des Buches bei vielen Lesern, viel stärker jedenfalls als die Reflektionen. Die Frage einer jungen Polin vorgestern auf dem Übersetzerseminar: Man lebe so mit der Familie [S.223] Jordan mit, man identifiziere sich so mit ihr – könne man da nicht die sechs Millionen Toten in Polen darüber vergessen? Zielte auf dieses Phänomen, auf die Kraft des Erzählten, auf sein Durchsetzungsvermögen gegenüber dem nur Gedachten. Muß überlegt werden für künftige Arbeiten.
Ich wusch noch das Mittagsgeschirr – jetzt weiß ich es wieder: Ich war unwillig geworden, nahm das ewige Geschirrwaschen zum Vorwand für den Widerwillen, der sich in Wirklichkeit um eine unterdrückte Angst zusammenzog:; dieses Selbstbehauptungsprogramm, das ich mir fest vorgenommen habe, zeigt seine Kehrseite: ich gebe mir weniger gern die Rückfälle zu, die Angst, die durch einen lächerlichen kleinen Artikel ausgelöst wird, die Fantasien – selbstquälerische –, die sich sofort daran knüpfen und mich mutlos machen, gleich wieder den Wunsch nach Selbstzerstörung hervor treten lassen, den ich doch ernsthaft und systematisch niederkämpfen will. Mir ist klar, daß ich damit werde ich leben müssen – aber eben leben: Er darf mich nicht einschränken. Vielleicht sind manche meiner Mutproben diesem unbewußten Vorsatz zu danken, das ich mich von meiner Angst nicht einschränken lassen will. Dabei ungeheuer und unabweisbar nach diesem Jahr (das eigentlich 'zuviel' war, aber Gerd hat natürlich recht: man muss es anders nehmen: so ist diese Zeit, und so bin ich in ihr, und auch das muss ich nicht aushalten, sondern zur Kenntnis nehmen und durchleben…) Eine alles andere zurückdrängende Sehnsucht nach Ruhe. Nach einem Winkel, in dem man mich einfach leben ließe, ohne Verdächtigung, ohne Beschimpfungen, ohne den Zwang, mich andauernd vor anderen und vor mir verteidigen zu müssen dafür, dass ich so bin oder: so werde. Dies niederzuschreiben, kostet Überwindung wegen der bodenlose Naivität und Unerfüllbarkeit eines solchen Wunsches. Es gibt diesen Winkel nicht. Es gibt nur dieses Spannungsfeld (hier oder dort), in dem Leute wie ich immer zwischen den Fronten stehen, immer von beiden Seiten angegriffen sein müssen; da dann damit zu rechnen haben, dass sie sich, unter dieser Belastung, verändern: [S.223/ 224] zu empfindlich, auch ungerecht werden, also Angriffsfläche bieten, was dann die Munterkeit der Kampagne steigert. Es ist fast eine Materialfrage: wir müssen Nerven beschaffen sein, die das auf die Dauer aushalten. Manchmal wünsche ich mir einen Zusammenbruch, der mir vielleicht eine Pause von ein paar Wochen beschaffen könnte. Aber ich bin inzwischen so gefestigt, daß ich sehr lange am Rande meiner Kraft leben kann. Nicht mehr als ein bißchen Blutdruckanstieg manchmal, ein bisschen Herz- und Magenschmerzen, gehäufte Migräne: das war früher schlimmer, aus minderen Anlässen.
Neulich schrieb mir jemand, die Zahl meiner potentiellen Leser in diesem Land müsse immer mehr abnehmen, das sei gesetzmäßig. Das glaube ich auch.
Die Wunden sind noch schmerzempfindlich, und ich habe Angst auch vor diesem Schmerz, der an Grausamkeit alles überstieg, was ich vorher kannte. So, unter diesen Empfindungen, sitze ich dann stumm neben Gerd im Auto, er streicht mir manchmal übers Knie, dringt nicht in mich wie sonst oft, wenn er Charakter und Herkunft einer Stimmung sofort erfahren will, um dagegen zu polemisieren.
Die Luft ist kalt und klar. Als wir in Lübstorf abbiegen sagt Gerd: Hier ist es einem direkt schon heimatlich, findest du nicht. – Ich denke, wie kostbar ein Heimatgefühl ist und wie schwer man es aufgeben würde. Diesen doppelten Boden haben seit ein paar Monaten alle meine Gedanken. Ich denke, nie mehr würde ich mich woanders heimisch fühlen können, wenn ich hier wegginge. Und ich frage mich, wie hoch der Preis unter Umständen wäre, den ich für dieses Heimatgefühl zu zahlen bereit wäre. Ich frage mich, welchen Preis ich täglich unbewußt zahle, einen Preis in der Münze: Wegsehen, weghören, oder zumindest schweigen. Ich denke oft, ob die Rechnung dafür uns noch zu unseren Lebzeiten präsentiert wird. Wenn nicht, muss ich sie mir selber präsentieren. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal die Kraft aufbringe zu der Schonungslosigkeit, die da gebraucht würde. Das ist vielleicht, [S.225] die Kernfrage für die Weiterarbeit, die ich manchmal einfach aufgeben möchte. [...]"
Mittwoch, 27. September 1978 Meteln
"[...] Bei Büchner und Wilde: Unterschied von moralisch sein, als Autor, und moralisieren. Dem muss nachgegangen werden. [...] Beim Aufwachen sah ich einen viereckigen Sonnenfleck an dem Podest, auf dem ich arbeite. Also hatte der Himmel, der nachts sternenklar gewesen war, 'gehalten', erfreulich nach der / unaufhörlichem Regenfinsternis dieses Herbstes." (S.233/34)
"Während ich Wasser in die Wanne laufen lasse, ertappe ich mich bei der Melodie des Liedes: Hörst du mein heimliches Rufen Hörst du mein heimliches Rufen – wahrscheinlich jahrelang nicht mehr gehört, geschweige gesungen: Lass dich nur einmal noch küssen, zeige mir dein liebes Gesicht… Woher kommt das nun? Ich bade,/ dusche kalt. Abrubbeln mit dem neuen Handtuch: gehört auch zu den Lebensgenüssen. [...] Schon wieder summe ich ein Lied von früher, es kommt aus dem gleichen sentimentalen Vorrat wie das erste: Rosemarie, Rosemarie, sieben Jahre mein Herz nach dir schrie… Also was ist los heute morgen? Wohin steuert mein Unbewusstes, oder: wovon lässt es sich treiben? In einer Assoziationskette komme ich auf die anderen, auf 'unsere' Lieder, die mich jahrelang begleiteten – die ganze Kindheit unserer Kinder lang – und die ich jetzt kaum noch singe, es sei denn auch unbewußt. Einige Zwischenglieder, die ich vergessen, kaum wahrgenommen habe – und schon bin ich wieder beim Herbst '76, beim Januar '77, bei jener Versammlung, bei meinem Verteidigungsversuch. Ich muss die Bilderreihe gewaltsam abbrechen. [...] Das Motiv des Sich-selber-fremd-Werdens beschäftigt mich, vielleicht kann es das Übermotiv werden zu jener 'Fiction' genannten fantastischen Geschichte, die in mir arbeitet, aber noch nicht fertig ist.. [...]
Immer
neue Pickel von gestörten Hormonhaushalt, bei dem das
Weiblichkeitshormon allmählich auszufallen beginnt. Neulich las ich
in einem der beschwichtigenden Artikel, daß der Körper ja jahrelang
Zeit habe, sich daran anzupassen. Neue geplatzte Äderchen auf der
Wange, der Abdeckstift muss immer mehr abdecken. Mich stört es
nicht, obwohl ich mich manchmal frage, ob eigentlich auch mein
Körper, so wie mein Geist, sein volles reiches Leben gehabt hat, ob
'ich' / ihm nicht etwas schuldig blieb in meiner Einseitigkeit. Jetzt
auf dem Lande kommt er ja mehr zu seinem Recht als in der Stadt. Die
Sinne tun sich hier auf, und sie verkümmern schnell und schmerzhaft
in zwei, drei Stadttagen: das ist eine der Anstrengungen von Berlin.
Was
bedeutet es, dass ich, obwohl niemals 'schön' gewesen, obwohl der
Mängel meiner Figur immer bewusst, obwohl selten von anderen Männern
begehrt, als Frau keinen Minderwertigkeitskomplex habe? Als junges
Mädchen war ich eigentlich darauf angelegt. Wahrscheinlich hat das
Zusammenleben mit Gerd und die Intensität und vielleicht auch der
Erfolg beim Schreiben ausgereicht, meiner Gier nach einem vollen
Leben Genüge zu tun." (S. 234-236)
"Ingeborg A. fragte mich, was ich jetzt arbeitete. Ich sagte, da ich den 'Günderode-Scheiß' [1979 veröffentlicht] nun hinter mir habe, würde ich jetzt etwas 'für mich' schreiben und dann noch was nur für mich – um auszuprobieren, ob ich noch ehrlich sein könnte: Wenn man zum Veröffentlichen schreibe, sei man zwar nicht unehrlich, aber es schiebe sich doch immer etwas zwischen den Kopf und die Hand, und es sei ganz gut, hin und wieder auszuprobieren, ob man diese Zwischenschicht noch weg kriege (es ist ja nur einer der Gründe für das 'Für–mich–Schreiben', aber auch einer)." (S.242)
Christa Wolf 1990 im Gespräch mit ihrer Tochter Annette am 27.9. wenige Tage vor der offiziellen deutschen Einigung:
"Es gibt wohl ein physikalisches Grundgesetz, nach dem Energie nicht verloren gehen kann. Ob dies auch auf seelische Energie zutrifft?
Das frage ich Annette, sie muss es doch wissen. Sie sagt, hier in diesem Land war sehr viel Energie angestaut, die jetzt explosionsartig ausgebrochen ist. Vieles davon wird verpuffen, meint sie. Wir haben uns doch alle in einem seelischen Ausnahmezustand befunden und kehren jetzt zur Normalität zurück. – Normalität? sage ich. Du meinst: In die Krise. – Mutter, sagt sie, du weißt es doch selbst: Das ist jetzt die Normalität. Muss es auch sein. Wäre schlimm, wenn wir die Krise verdrängen würden. – Krise als Chance, sage ich, Kluge Tochter." (S.469).
Zum 27.9.1995, S.543 ff.
Eindrucksvoll, wie Wolf an dem Plan festhält, weiterhin jährlich aus ihrer jeweiligen Gegenwart heraus zu schreiben und ungeschützt Tagesgedanken festzuhalten, obwohl sie sich dessen bewusst ist, dass sie so nicht ihre reflektierte Wahrheit festhalten kann, sondern nur 'Augenblicks'gedanken. Und dann nach über 30 Jahren dieser Arbeit die Formulierung: "Und ich muss darüber nachdenken, was für einen Unterschied es macht, wenn man eine Geschichte oder auch nur einen Tag von ihrem/seinem Ende hier erzählen kann, oder wenn man einfach mitstenografiert, ohne zu wissen was / kommt – dann kann man auch keine Zentren schaffen, keine Schwerpunkte setzen, selbst die Reflektionen geraten dann dünner." (S. 552/553)
Andererseits hat sie vorher zum selben Tag festgehalten:
"Am Nachmittag habe ich in den Text für den Luchterhand Verlag, der den Inhalt des Medea- Manuskripts beschreibt, den Satz geschrieben: 'Die Erzählerin lässt durchscheinen, dass sich die Verhaltensweisen der gesellschaftlich lebenden Menschen nicht geändert haben, seit Geschichte überliefert wurde.' Und dass diese Verhaltensweisen sich auch nicht ändern werden, könnte ich hinzufügen. Und ich frage mich, ob diese anscheinend tief in mich eingedrungene Überzeugung mit dafür verantwortlich ist, dass der Schreibantrieb schwächer geworden ist (was mir Lew Kopelew, wie ich es ihm neulich im Krankenhaus andeutete, verübelte und heftig bestritt). Oder woher sonst rührt das von Trifonov beobachtete 'Nachlassen der Schreiblibido'? Aus dem Nachlassen der Gefühllsintensität? Aus dem häufig aufkommenden Reflex: Aber das habe ich doch alles schon erlebt? So dass auch die Befriedigung, ein Manuskript beendet zu haben – wie vorgestern endlich das der Medea, das jetzt beim Schreibbüro ist – sich in Grenzen hält. Und doch ist da etwas, vielleicht nur eine Gewohnheit, vielleicht eine lange eintrainierte Disziplin –, dass mich anhält, eben doch jeden Tag ein Stück zu schreiben, auch meine Tagesabläufe zu notieren." (S.544)
Vielleicht ist aber auch gerade dieses Notieren von Tagesläufen, das nicht in Anspruch nimmt, dass das Schreiben etwas Sinnhaftes ist, was ihr ermöglicht, die Schreibkrise zu überwinden, obwohl aus den oben genannten Gründen ihre Schreiblibido so stark abgenommen hat.
Bei einer Besichtigung des KZ Groß-Rosen: "wir bogen hinauf und sahen das Tor, ein körperlicher Schlag. Ich weiß, dieses Tor ist es, dass mich nicht schlafen lässt, 'Arbeit macht frei', ich überwand mich, im Näherkommen zu fotografieren, für Honza, dachte ich, auch für Franci [Franci Faktorová (1926–1997), Mutter von Jan Faktor]. [...Dann berichtet Wolf, dass] "Eva Erban, die polnische Vorsitzende der Kreisau-Stiftung, die aus Wroclaw herüber gekommen war, sich plötzlich veranlasst sah, von ihren sieben Jahren Sibirien zu sprechen, davon, dass die Russen anderthalb oder zwei Millionen Polen nach Sibirien verschleppt haben, Intellektuelle, Richter, Militärs sowieso, Flüchtlinge aus den Westgebieten… Erinnere mich an die dunklen Augen von Eva Urban, an ihrer Verhaltenheit, wie sie sagt, die Nazis hätten nur zwölf Jahre gehabt, die Sowjets aber siebzig ... . Aber nun wollen wir das Thema wechseln, sagte sie, erinnere ich mich, sie ist dreiundsiebzig und geht schwerfällig, auf einen Stock gestützt. Sie habe 'Kindheitsmuster' vor zwanzig Jahren 'mit brennenden / Ohren' gelesen. – Ich aber sehe hinter allen, vor allen anderen Bildern das Tor." (S.603)
Gerhard Wolf "Er
wiederholt, dass er kaum begreifen kann, wie viel wir noch unterwegs
sind, [...] und wenn ich ihn so reden höre, kann ich es selber nicht
begreifen und nehme mir vor, für das nächste Jahr noch einige
Termine abzusagen. [...]
Ich fange an, darüber nachzudenken, was ich im Februar bei den Poetik-Vorlesungen an der Uni in Göttingen machen könnte. Vielleicht sollte ich über das Tagebuch als literarische Gattung und als Rohstoff für Literatur reden, mir die Frage stellen, wie eigentlich aus den Stück für Stück durchlebten Alltagen 'Schicksal' wird, 'ein Leben', wann und wodurch sich / das banale Alltägliche verwandelt in etwas Tieferes, in Zeitgenossenschaft; überhaupt der Zeitbegriff, unantastbar in seiner schlichten Ausdehnung Minute für Minute, in denen meist gar nichts 'passiert', ich stelle mir die endlosen Minuten der KZ-Häftlinge vor, diese Eintönigkeit, die sicherlich diese Zeit in ihrer Erinnerung unförmig macht und unsere Sucht nach Erleben, nach 'events', die ihrerseits auch die Zeit totschlägt. (Jana sagt, zu ihrem Kummer habe sie kaum Erinnerungen an die Wendezeit, sie ärgert sich, dass sie nichts aufgeschrieben hat.)
Mein Verlangen, möglichst alles festzuhalten, durch diese Aufzeichnungen die Zeit aufzufressen, die ich für das eigentliche Schreiben benötigen würde, und später, wenn ich die tagebuchartigen Manuskripte wieder lese, festzustellen, dass ich beinah alles vergessen hätte, wenn ich es nicht aufgeschrieben hätte. Wohin entschwindet das Erlebte? Und inwiefern prägt es uns doch? Was ja Literatur behauptet, wenn sie aus dem Alltagsstrom verfälschend bestimmten Vorgängen, bestimmten Gedanken und Gefühlserscheinungen Bedeutsamkeit verleiht. Nicht zufällig liegt 'Kindheitsmuster' ein Reisetagebuch zugrunde, nicht zufällig beruht die Struktur von 'Stadt der Engel' auch auf einem Tagebuch, 'Was bleibt' ist die Beschreibung eines Tages, ebenso 'Störfall'. Anscheinend glaube ich, nur so authentisch sein zu können, den Verfälschungen, die Literatur ja auch bedeutet, zu entgehen. [...]
auf einmal höre ich: In den Ostwind hebt die Fahnen – ein Lied, an das ich viele Jahre nicht mehr gedacht habe, Gerd kennt es, er ist erschrocken wie ich über die Zeilen: Und ein Land gibt uns die Antwort / und es trägt ein deutsch Gesicht / dafür haben / viel geblutet / und nun schweigt der Boden nicht.* – Woher jetzt dieses Lied aus einer früheren Geschichtsepoche?" (Seite 604-606)
* Vollständiger Text:
In den Ostwind hebt die Fahnen,
Denn im Ostwind stehn
sie gut,
Dann befehlen sie zum Aufbruch,
Und den Ruf hört
unser Blut.
Denn ein Land gibt uns die Antwort,
Und das
trägt ein deutsch Gesicht,
Dafür haben wir geblutet,
Und drum
schweigt der Boden nicht.
In den Ostwind hebt die Fahnen,
Laßt sie neue Straßen
gehn,
Laßt sie neue Straßen ziehen,
Daß sie alte Heimat
sehn.
Denn ein Land gibt uns die Antwort,
Und das trägt ein
deutsch Gesicht,
Dafür haben wir geblutet,
Und drum
schweigt der Boden nicht.
In den Ostwind hebt die Fahnen,
Daß sie wehn zu neuer
Fahrt.
Macht euch stark, wer baut im Osten,
Dem wird keine
Not erspart.
Doch ein Land gibt uns die Antwort
Und das
trägt ein deutsch Gesicht,
Dafür haben wir geblutet,
Und
drum schweigt der Boden nicht.
Melodie und Text Hans Baumann
"Auf dem Anrufbeantworter neben Nachrichten für Gerds Verlag [...] auch ein Anruf von Günter Gaus, seine Stimme ist heiser, er hat seine dritte Chemotherapie hinter sich, es gehe 'ganz gut', er fragt, ob wir uns am 10. Oktober, dem Wahlsonntag, bei uns sehen können. Ich denke sehr oft an ihn [...]" (S.607)
Fortsetzung: Ein Tag im Jahr 3