27 Januar 2024

Kafka: Reisetagebuch aus Paris

 "[...] Ein Mensch, der kein Tagebuch hat, ist einem Tagebuch gegenüber in einer falschen Position. Wenn dieser zum Beispiel in Goethes Tagebuch liest, daß dieser am 11. Januar 1797 den ganzen Tag zu Hause »mit verschiedenen Anordnungen beschäftigt« war, so scheint es diesem Menschen, daß er selbst noch niemals so wenig gemacht hat. [...]

Ansammlung der Besucher vor dem Öffnen des Louvre. Die Mädchen sitzen zwischen den hohen Säulen, lesen im Baedeker, schreiben Ansichtskarten.

Venus von Milo, deren Anblick bei dem langsamsten Umgehen schnell und überraschend wechselt. Leider eine erzwungene (über Taille und Hülle), aber einige wahre Bemerkungen gemacht, zu deren Erinnerung ich eine plastische Reproduktion nötig hätte, besonders darüber, wie das gebogene linke Knie den Anblick von allen Seiten mitbestimmt, manchmal aber nur sehr schwach. Die erzwungene Bemerkung: Man erwartet, daß über der aufhörenden Hülle der Leib sich gleich verjüngt, er wird aber zunächst noch breiter. Das fallende, vom Knie gehaltene Kleid.

Der Borghesische Fechter, dessen Vorderanblick nicht der Hauptanblick ist, denn er bringt den Beschauer zum Zurückweichen und ist verstreuter. Von hinten aber gesehen, dort, wo der Fuß zuerst auf dem Boden ansetzt, wird der überraschte Blick das festgezogene Bein entlang gelockt und fliegt geschützt über den unaufhaltsamen Rücken zu dem nach vorn gehobenen Arm und Schwert.


Beschreibung eins Unfalls:


Montag, 11. September. Auf dem Asphaltpflaster sind die Automobile leichter zu dirigieren, aber auch schwerer einzuhalten. Besonders wenn ein einzelner Privatmann am Steuer sitzt, der die Größe der Straßen, den schönen Tag, sein leichtes Automobil, seine Chauffeurkenntnisse für eine kleine Geschäftsfahrt ausnützt und dabei an Kreuzungsstellen sich mit dem Wagen so winden soll wie die Fußgänger auf dem Trottoir. Darum fährt ein solches Automobil knapp vor der Einfahrt in eine kleine Gasse, noch auf dem großen Platz in ein Tricycle hinein, hält aber elegant, tut ihm nicht viel, tritt ihm förmlich nur auf den Fuß, aber während ein Fußgänger mit einem solchen Fußtritt desto rascher weitereilt, bleibt das Tricycle stehen und hat das Vorderrad gekrümmt. Der Bäckergehilfe, der auf diesem der Firma gehörigen Wagen bisher vollständig sorglos mit jenem den Dreirädern eigentümlichen schwerfälligen Schwanken dahingefahren ist, steigt ab, trifft den Automobilisten, der ebenfalls absteigt, und macht ihm Vorwürfe, die durch den Respekt vor einem Automobilbesitzer gedämpft und durch die Furcht vor seinem Chef angefeuert werden. Es handelt sich nun zuerst darum, zu erklären, wie es zu dem Unfall gekommen. Der Automobilbesitzer stellt mit seinen erhobenen Handflächen das heranfahrende Automobil dar, da sieht er das Tricycle, das ihm in die Quere kommt, die rechte Hand löst sich ab und warnt durch Hin- und Herfuchteln das Tricycle, das Gesicht ist besorgt, denn welches Automobil kann auf diese Entfernung bremsen. Wird es das Tricycle einsehen und dem Automobil den Vortritt lassen? Nein, es ist zu spät, die Linke läßt vom Warnen ab, beide Hände vereinigen sich zum Unglücksstoß, die Knie knicken ein, um den letzten Augenblick zu beobachten. Es ist geschehen und das still dastehende verkrümmte Tricycle kann schon bei der weiteren Beschreibung mithelfen. Dagegen kann der Bäckergehilfe nicht gut aufkommen. Erstens ist der Automobilist ein gebildeter lebhafter Mann, zweitens ist er bis jetzt im Automobil gesessen, hat sich ausgeruht, kann sich bald wieder hineinsetzen und weiter ausruhn und drittens hat er von der Höhe des Automobils den Vorgang wirklich besser gesehn. Einige Leute haben sich inzwischen angesammelt und stehen, wie es die Darstellung des Automobilisten verdient, nicht eigentlich im Kreise um ihn, sondern mehr vor ihm. Der Verkehr muß sich inzwischen ohne den Platz behelfen, den diese Gesellschaft einnimmt, die überdies nach den Einfällen des Automobilisten hin und her rückt. So ziehen zum Beispiel einmal alle zum Tricycle, um den Schaden, von dem so viel gesprochen worden ist, einmal genauer anzusehen. Der Automobilist hält ihn nicht für arg (einige halten in mäßig lauten Unterredungen zu ihm), trotzdem er sich nicht mit dem bloßen Hinschauen begnügt, sondern rundherum geht, oben hinein und unten durch schaut. Einer, der schreien will, setzt sich, da der Automobilist Schreien nicht braucht, für das Tricycle ein; er bekommt aber sehr gute und sehr laute Antworten von einem neu auftretenden fremden Mann, der, wenn man sich nicht beirren läßt, der Begleiter des Automobilisten gewesen ist. Einige Male müssen einige Zuhörer zusammen lachen, beruhigen sich aber immer mit neuen sachlichen Einfällen. Nun besteht eigentlich keine große Meinungsverschiedenheit zwischen Automobilisten und Bäckerjungen, der Automobilist sieht sich von einer kleinen freundlichen Menschenmenge umgeben, die er überzeugt hat, der Bäckerjunge läßt von seinem einförmigen Armeausstrecken und Vorwürfemachen langsam ab, der Automobilist leugnet ja nicht, daß er einen kleinen Schaden angerichtet hat, gibt auch durchaus dem Bäckerjungen nicht alle Schuld, beide haben Schuld, also keiner, solche Dinge kommen eben vor usw. Kurz, die Angelegenheit würde schließlich in Verlegenheit ablaufen, die Stimmen der Zuschauer, die schon über den Preis der Reparatur beraten, müßten abverlangt werden, wenn man sich nicht daran erinnern würde, daß man einen Polizeimann holen könnte. Der Bäckerjunge, der in einer immer untergeordnetere Stellung zum Automobilisten geraten ist, wird von ihm einfach um einen Polizisten geschickt und vertraut sein Tricycle dem Schutz des Automobilisten an. Nicht mit böser Absicht, denn er hat es nicht nötig, eine Partei für sich zu bilden, hört er auch in Abwesenheit des Gegners mit seinen Beschreibungen nicht auf. Weil man rauchend besser erzählt, dreht er sich eine Zigarette. In seiner Tasche hat er ein Tabaklager. Neu Ankommende, Uniformierte, und wenn es auch nur Geschäftsdiener sind, werden systematisch zuerst zum Automobil, dann zum Tricycle geführt und erst dann über die Details unterrichtet. Hört er aus der Menge von einem weiter hinten Stehenden einen Einwand, beantwortet er ihn auf den Fußspitzen, um dem ins Gesicht sehen zu können. Es zeigt sich, daß es zu umständlich ist, die Leute zwischen Automobil und Tricycle hin- und herzuführen, deshalb wird das Automobil mehr zum Trottoir in die Gasse hineingefahren. Ein ganzes Tricycle hält, und der Fahrer sieht sich die Sache an. Wie zur Belehrung über die Schwierigkeiten des Automobilfahrens ist ein großer Motoromnibus mitten auf dem Platz stehengeblieben. Man arbeitet vorn am Motor. Die ersten, die sich um den Wagen niederbeugen, sind seine ausgestiegenen Passagiere im richtigen Gefühl ihrer näheren Beziehung. Inzwischen hat der Automobilist ein wenig Ordnung gemacht und auch das Tricycle mehr zum Trottoir geschoben. Die Sache verliert ihr öffentliches Interesse. Neu Ankommende müssen schon erraten, was eigentlich geschehen ist. Der Automobilist hat sich mit einigen alten Zuschauern, die als Zeugen Wert haben, förmlich zurückgezogen und spricht mit ihnen leise. Wo wandert aber inzwischen der arme Junge herum? Endlich sieht man ihn in der Ferne, wie er mit dem Polizisten den Platz zu durchqueren anfängt. Man war nicht ungeduldig, aber das Interesse zeigt sich sogleich aufgefrischt. Viele neue Zuschauer treten auf, die auf billige Weise den äußersten Genuß der Protokollaufnahme haben werden. Der Automobilist löst sich von seiner Gruppe und geht dem Polizisten entgegen, der die Angelegenheit sofort mit der gleichen Ruhe aufnimmt, welche die Beteiligten erst durch halbstündiges Warten sich verschafft haben. Die Protokollaufnahme beginnt ohne lange Untersuchung. Der Polizist zieht aus seinem Notizbuch mit der Schnelligkeit eines Bauarbeiters einen alten schmutzigen, aber leeren Bogen Papier, notiert die Namen der Beteiligten, schreibt die Bäckerfirma auf und geht, um dies genau zu machen, schreibend um das Tricycle herum. Die unbewußte unverständige Hoffnung der Anwesenden auf eine sofortige sachliche Beendigung der ganzen Angelegenheit durch den Polizisten geht in eine Freude an den Einzelheiten der Protokollaufnahme über. Diese Protokollaufnahme stockt bisweilen. Der Polizist hat sein Protokoll etwas in Unordnung gebracht, und in der Anstrengung, es wieder herzustellen, hört und sieht er weilchenweise nichts anderes. Er hat nämlich den Bogen an einer Stelle zu beschreiben angefangen, wo er aus irgendeinem Grunde nicht hätte anfangen dürfen. Nun ist es aber doch geschehen, und sein Staunen darüber erneuert sich öfters. Er muß den Bogen immerfort wieder umdrehen, um den schlechten Protokollanfang zu glauben. Da er aber von diesem schlechten Anfang bald abgelassen und auch anderswo zu schreiben angefangen hat, kann er, wenn eine Spalte zu Ende ist, ohne großes Auseinanderfalten und Untersuchen unmöglich wissen, wo er richtigerweise fortzusetzen hat. Die Ruhe, die dadurch die Angelegenheit gewinnt, läßt sich mit jener früheren, durch die Beteiligten allein erreichten, gar nicht vergleichen."

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