27 Februar 2012

Die zehn Verfolgungen des Lesers

Es ist nicht zufällig, dass die Blütenlesen aus dem Titan hier die erzählende Darstellung zu überwuchern drohen. Jean Paul war sich dieser Eigenart seines Schreibens wohl bewusst:

Heischesätze – Apophthegmen – Philosopheme – Erasmische Adagia – Bemerkungen von Rochefoucauld, von La Bruyere, von Lavater ersinn' ich in einerWoche unzählige und mehrere, als ich in sechs Monaten loszuwerden und als Einschiebeessen in meinen biographischen petits soupers wegzubringen imstande bin. So läuft der Lotto-Schlagschatz meiner ungedrucktenManuskripte täglich höher auf, je mehr ich dem Leser Auszüge und Gewinstegedruckter daraus gönne.

Nichts fegt und siebt unsere Vorzüge und Liebhabereien besser durch als eine fremde Nachahmung derselben. Für ein Genie sind keine schärfere Poliermaschinen und Schleifscheiben vorhanden als seine Affen.

Es ist dem Menschen leichter und geläufiger, zu schmeicheln als zu loben.

In den Jahrhunderten vor uns scheint uns die Menschheit heran zuwachsen, in denen nach uns abzuwelken, in unserm herrlich blühend aufzuplatzen: so scheinen uns nur die Wolken unsers Scheitelpunktes gerade zu gehen, die einen vor uns steigen vom Horizonte herauf, die andern hinter uns ziehen gekrümmt hinab.

Das Alter ist nicht trübe, weil darin unsre Freuden, sondern weil unsre Hoffnungen aufhören.

Das Alter der Weiber ist trüber und einsamer als das der Männer: darum schont in jenen die Jahre, die Schmerzen und das Geschlecht! – Überhaupt gleicht das Leben oft dem Fang-Baume mit aufwärtsgerichteten Stacheln, an welchem der Bär leicht hinauf zum Honig-Köder klettert, wovon er aber unter lauter Stichen wieder zurückrutschet.

Habt Mitleiden mit der Armut, aber noch hundertmal mehr mit der Verarmung! Nur jene, nicht diese macht Völker und Individuen besser.

Liebe vermindert die weibliche Feinheit und verstärkt die männliche.

Wenn zwei Menschen im schnellen Umwenden mit den Köpfen zusammenstoßen: so entschuldigt sich jeder voll Angst und denkt, nur der andre habe den Schmerz und nur er selber die Schuld. (Nur ich exkusiere mich ganz unbefangen, eben weil ich aus meinen Verfolgungen weiß, wie der andre denkt.) Wollte Gott, wir kehrtens bei moralischen Stößen nicht um!

Der hintergangene bedeckte und vom Trauerschleier zum Leichenschleier lebende Mensch glaubt, es gebe kein Übel weiter als das, was er zu besiegen hat; und vergisset, daß nach dem Siege die neue Lage das neue mitbringe. Daher geht – wie vor schnellen Schiffen ein Hügel aus Wasser vorschwimmt und eine nachgleitende Wellengrube hinter ihm zuschlägt – immer vor uns her ein Berg, den wir zu übersteigen hoffen, und hinter uns nach eine Tiefe, aus der wir zu kommen glauben.

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