28 September 2018

27 September 2018

Fontane und die Frauen

"[...] Ich glaube, er hatte wirklich Mitleid mit den Frauen. Er wusste, wie es ist, wenn man sich benachteiligt fühlt, er fühlte auch sich immer wieder gedemütigt, weil sein Werk nicht in der Form anerkannt wurde, wie er es schuf, und vor allem nicht der Fleiß, mit dem er es betrieb. Keiner griff ihm da auch finanziell, pekuniär unter die Arme, er musste also seine sechsköpfige Familie ernähren und wollte doch trotzdem ein bürgerliches, gutes, gebildetes Niveau aufrechterhalten.
Und dann sah er die Frauen und die Frauen hatten ein furchtbares Leben, sie waren benachteiligt, sie wurden nicht ernstgenommen. Er konnte da eben mitfühlen, und dann gerieten sie auch noch in Konflikt mit der Moral ihrer Zeit, gar nicht aus Absicht, teilweise absichtslos, und ja, da konnte er einfach mitfühlen und empfinden für sie. [...]"
Ein Interview mit Christine von Brühl, Deutschlandfunk 25.9.18

Robert Rauh: Fontanes Frauen

17 September 2018

Stephan Thome: "Gott der Barbaren"

Das Blutbad, von dem im Westen niemand weiß SZ 14.9.18

Ich halte die Überschrift für falsch und auch das Urteil über den Roman nicht für ganz überzeugend. 
Aber ich bin dankbar für den Hinweis.

 Burkhard Müller schreibt:
"30 Millionen Tote soll der Taiping-Aufstand gekostet haben, der ein großer Bürgerkrieg war, nach dem Zweiten Weltkrieg der verlustreichste Konflikt der Menschheitsgeschichte. Dennoch wissen außerhalb von China nur wenige etwas von dieser historischen Großkatastrophe.
Stephan Thome, der 1972 im hessischen Biedenkopf geboren wurde, wohnhaft in Taipeh, Autor und Sinologe, hat sich vorgenommen, das zu ändern. Er geht an diesen gewaltigen Brocken mit der Form des Romans heran. Das ist eine gewagte Entscheidung: Denn bei Stoffen dieser Art ist der Roman fast immer im Hintertreffen gegenüber seiner Rivalin, der historischen Monografie." 
Gerade wenn ich einen wichtigen Stoff noch nicht kenne, hilft mir Identifikation mehr dazu, mich darauf einzulassen als ein abgewogenes Urteil. Das Interesse daran, wie es wirklich war, wird erst durch die Einfühlung geweckt.
Aber ich habe das Buch noch nicht gelesen und weiß nicht, ob mir die Einfühlung gelingt. Mein persönliches Problem ist freilich, dass ich nach zunächst oberflächlichen Informationen jetzt schon ein etwas differenzierteres Urteil über den Taiping-Aufstand habe. 

Wedma hat das Buch hervorragend gefallen.

14 September 2018

TERÉZIA MORA

IM GESPRÄCH: AUTORIN TERÉZIA MORA: „Es gibt bessere Lösungen als den Tod“ FAZ 11.2.14

"Ich arbeite mit dem, was da ist, mit der Welt, die ich anders zusammensetze, um etwas in der Welt sichtbarer zu machen, was ich gesehen habe.
Mein Bedürfnis ist, etwas zu finden, was mir erklärt, was mich umgibt. Auch durch seine Form."

13 September 2018

Antiqua, Bastarda, Fraktur

"Die Vollbibeln ab 1534 erschienen später in Frakturschrift, einer weiter Entwicklung oder auch Vollendung der Bastarda, die sich an der Schriftkunst am Hofe Maximilians I orientierte und wesentlich von Dürer geprägt wurde. Sie verläuft enger als die Bastarda, wirkt damit eleganter und spart nebenbei ein Zehntel der Papierkosten. Diese Fraktur sollte zur "evangelischen" Schrift werden, die als die Schrift der Bibel dann die bevorzugte Schrift für deutschsprachige Texte überhaupt wurde – Lateinisches druckte man weiter in der "runden" Antiqua. Während Luther mit seiner Bibel Deutschland auf den Weg zu einem sprachlich geeinten Land brachte, machte er es drucktechnisch "zweischriftig" – bis zum "Führerbefehl" vom Januar 1941, mit dem die Fraktur in Deutschland abgeschafft wurde." (Göttert: Deutsch. Biografie einer Sprache, S 142/43)

mehr zu Göttert

12 September 2018

10 September 2018

Fontane: Der Stechlin

Lesung im MDR vom 10.9. bis 5.10. 2018
"Zum 120. Todestag des großen märkischen Dichters senden wir den Roman auf MDR Kultur. Es liest Otto Mellies."

Audios

08 September 2018

Ludwig Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert

Ich lese dies Buch gerade ein drittes Mal. (Hier meine Reaktion auf die zweite Lektüre.) Bevor ich hier Zitate herausstelle, verweise ich auf die sehr informative Besprechung durch norberto42.
Hier der Schluss:
"Zum Schluss reflektiert Marcuse, warum einer sein Leben erzählt (S. 383 ff.). Dazu findet er mehrere Gründe, wie es sich für einen Skeptiker gehört, und er legt sich für sich selber auf keinen fest.
Fazit: ein Buch, das zu lesen sich lohnt, wenn man viel Zeit aufwendet und immer wieder in der Wikipedia unbekannte Namen nachschlägt."

Meine Überzeugung ist, die Lektüre lohnt auch, wenn man nicht " immer wieder in der Wikipedia unbekannte Namen nachschlägt".  
Denn die Haltung, mit der Marcuse auf die beiden vergangenen Jahrhunderte zurückblickt, eröffnet Einsichten, die man ohne Zeitgenossenschaft sonst auch durch die Lektüre vieler anderer Werke kaum erwerben kann.  Denn Marcuse versucht gerade nicht, mit vielen berühmten Namen zu imponieren, sondern macht seine ganz persönliche Beziehung zu wichtigen Persönlichkeiten deutlich. 

Mehr dazu bei norberto42 und in den folgenden Zitaten:

"Ich erzähle aber nicht weiter, weil das Leben bisweilen eine hässliche Neigung zeigt, nach dem Happy End nicht den Vorhang fallen zu lassen." (S.202)
"In einem populären Führer las ich: "Vor der Ankunft der Missionare aus Neu-England hatten die Hawaiier eine Religion, die wir für Aberglauben halten."  
Die amtliche Skepsis gegenüber dem Unterschied von Glauben und Aberglauben verlockt mich, zu denken, dass sogar die offizielle Touristen-Literatur sich dem Paradiesischen nähert." (S. 323)
"Der fünfzigste amerikanische Staat hat zwei Vorgeschichten und eine Historie. Was noch auf die Zeit vor Adam zurückgeht, sieht man sehr gut vom Flugzeug aus und noch besser im Museum. Man schaut aus dem Flugzeug: tote Krater, erloschene Lava, ausgestorben, nackt, eine Felsen-Wüste. Im Museum, vor dem Glaskasten, sieht man tiefer: über dem Glas unsere Inselchen 
 I-Pünktchen im Verhältnis zu dem, was vom Meeresgrund heraufwuchs: ein gewaltiges vulkanisches Gebirgsmassiv, 1600 Meilen lang, das nur an einigen winzigen Stellen das Licht des Tages erblickte.
Vorgeschichte zwei: Auf diesen I-Pünktchen, die sich inzwischen ganz gut herausgemacht hatten, landeten vor tausend Jahren Leute aus Tahiti [...]
Ein Volk aber, das keine Historiker hat, hat auch keine Geschichte. (S. 324)

"Die Weltgeschichte scheint die Insulaner fast tausend Jahre lang in Frieden gelassen zu haben, bis ein Engländer entdeckte, auf was er gar nicht aus war (wie Kolumbus und manche andere große Entdecker). Im Jahre 1778 segelte Kapitän Cook, der so angesehen war, dass während des englisch-amerikanischen Krieges die Feinde seines Landes seine Schiffe unbehelligt ließen, im Pazifik herum. Er suchte, wie mancher Zeitgenosse, die Nordwest-Passage, die nördliche Durchfahrt zwischen der Neuen Welt und Asien. Da stieß er aus Versehen auf die Insel Kauai. Man ist also erst kurze Zeit in dem Bereich, den wir reichlich übertrieben Weltgeschichte nennen." (S. 325)
"Der Stille Ozean ist immer noch das weiteste Wasser der Welt, auch wenn ich mit einer Studentin aus Indochina über Max Scheler spreche. Aber da gibt es neun Inseln zwischen Kalifornien und Korea – sie sind nicht ein Treffpunkt, sondern eine Lebensgemeinschaft der Rassen. Und es ist vielleicht nicht ganz unerlaubt, auf diesen Inseln in der vorwegnehmenden Phantasie eine Welt anzusiedeln, die schon einmal da war: vor dem Turmbau zu Babel." (S.327)

"Wie sehr die individuelle Geschichte des Körpers eines der tabuisiertesten Themen der Darstellung und Selbstdarstellung ist, zeigt gerade Sigmund Freud. Indem er die genitale Sphäre nobilisierte zugunsten [gemeint: zuungunsten]  der anderen Körperlichkeiten, trug er nicht wenig  dazu / bei, das literarische Ignorieren zu rechtfertigen, das den nicht-genitalen Funktionen zuteil geworden ist. Und selbst die Literatur, die dem Sexus gewidmet wurde  von Apulejus und Lukian bis zu Wieland, D.H. Lawrence und Henry Müller – ist recht ähnlich. Bisweilen wurden die kräftigsten Vokabeln der kräftigsten Brautnächte gedruckt; aber das ist doch nicht mehr, als was auf Alt-Herren-Abenden (und nicht nur dort) in ewiger Monotonie herausgelassen worden ist. Das sehr profilierte Leben eines individuellen Geschlechts findet sich auch bei den Klassikern der erotischen Literatur kaum. Mich aber hat es nicht gelockt, orgiastisches Geflüster wieder einmal gedruckt zu sehen – und mehr habe ich nicht gewagt.

Ich hab’s erst recht nicht gewagt, die soziale Geschichte meines Fleisches aufzuschreiben: seine Wirkung mit zehn, zwanzig, dreißig, vierzig ... auf Männer, Frauen und Kinder, auf Aristokraten, Bürger und Dienstmädchen. Die Wirkung (vielmehr: die Vorstellung davon) ist eine der mächtigsten Triebkräfte in jedem Leben." (S.387/389) [Seitenangaben nach der gebundenen Ausgabe von 1960]

02 September 2018

Wilhelm Raabe: Der Hungerpastor

"Es war der vierundzwanzigste Dezember, und alle die jungen Damen, welche Pantoffeln und Zigarrentaschen und Polster und Kissen für den Rücken gestickt hatten, die Seelen der Männer, der jungen und alten, zu fangen, nach dem Wort des Propheten Ezechiel im dreizehnten Kapitel, Vers siebenzehn und achtzehn, waren fertig mit ihrer Arbeit und erwarteten ihrerseits die Dinge, die da kommen sollten. Es warteten sehr viele Leute – große und kleine – auf kommende gute Dinge; – der Himmel war am Morgen und Mittag so blau, wie man es sich nur wünschen mochte, die Sonne bestrahlte glitzernd die weiße[407] Weihnachtswelt und färbte sich erst am Nachmittag blutrot, als sie in den aufsteigenden Nebel hinabsank. Es schien, als ob die Sonne es wisse, daß hunderttausend Christbäume auf ihren Niedergang warteten, und es schien, als ob sie gutmütig-froh ihren Lauf beschleunige. Um fünf Minuten nach vier Uhr war das letzte Stückchen feuriges Gold hinter dem Horizont versunken – der Heilige Abend war da, war endlich gekommen, nachdem sich Millionen Kinderherzen so lange nach ihm gesehnt hatten. Um fünf Uhr läuteten alle Glocken im Lande den morgenden Festtag ein, und die Kuchen waren fertig; es wurde Friede in der Brust auch der scheuereifrigsten Hausfrau, Um sechs Uhr stand jeder festlich geschmückte Tannenbaum in vollem Lichterglanz, und wer noch froh und glücklich sein konnte, der war es gewißlich um diese Stunde, in welcher sich das Himmelreich derer, die da sind wie die Kinder, auch dem trübsten Blick öffnet und das dunkelste Herz hell macht.
Das war ein Reisetag! Das war ein Tag, um der Heimat zuzueilen! Hans Unwirrsch und Fränzchen Götz bedurften keines Zaubermantels, keines übernatürlichen Beförderungsmittels mehr; der Postwagen oder vielmehr Postschlitten, der sie gen Freudenstadt führte, war selber ein zauberhaftes Vehikel, das dreist mit Oberons fliegender Muschel, mit dem fliegenden Koffer der arabischen Märchen, mit dem hölzernen Gaul, auf welchem der Ritter Peter mit dem silbernen Schlüssel und die schöne Magelone ritten, es aufnehmen konnte. " (Wilhelm Raabe: Der Hungerpastor 33. Kapitel, S.406/407)

01 September 2018

Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Waldbruder

Ich denke, es gehört eine gewisse Kennerschaft aus folgender Formulierung sogleich auf den Autor zu schließen:
"Freiheit und Genüge werden die Hauptconditionen der neuen Einrichtung sein, ob ich gleich mehr als jemals am Platze bin, das durchaus Scheißige dieser zeitlichen Herrlichkeit zu erkennen."
Goethe schreibt so über seine neue Stellung am Hof von Herzog Carl August von Weimar an Merck am 22.1.1776
Und das, nachdem er im Satz zuvor noch geschrieben hatte: "Meine Lage ist vortheilhaft genug, und die Herzogthümer Weimar und Eisenach immer ein Schauplatz um zu versuchen, wie einem die Weltrolle zu Gesicht stünde."

Lenz schreibt nach seiner Entfernung vom Weimarer Hof im 12 km südlich gelegenen Berka seinen Roman Der Waldbruder über diese Rolle Goethes im Vergleich zu seiner (Lenzens) so nah an dem tatsächlichen Geschehen, dass man trotz aller Überzeichnung annehmen muss, er habe im Roman über sein Verhältnis zu Goethe reflektiert. Deshalb braucht man ihn noch lange nicht für einen Schlüsselroman zu halten. (Hier zum Text)

Zitate:
1. Teil
3. Brief: Herz an Rothe:
"[...] Wenn ich mir noch den Augenblick denke, als ich sie das erstemal auf der Maskerade sah, als ich ihr gegenüber am Pfeiler eingewurzelt stand und mir's war, als ob die Hölle sich zwischen uns beiden öffnete und eine ewige Kluft unter uns befestigte. Ach wo ist ein Gefühl, das dem gleichkommt, so viel unaussprechlichen Reiz vor sich zu sehen mit der schrecklichen Gewißheit, nie, nie davon Besitz nehmen zu dürfen. [...] Wo bin ich nun wieder hineingeraten, ich fürchte mich, alle die Sachen dem Papier anvertraut zu haben. Heb es sorgfältig auf, und laß es in keine unheiligen Hände kommen."
6. Brief: Herz an Rothe:
Über die von ihm geliebte Gräfin Stella "[...] Sieh, es lebt und atmet darinnen eine solche Jugend, so viel Scherz und Liebe und Freude, und ist doch so tiefer Ernst, die Grundlage von alledem, so göttlicher Ernst – der eine ganze Welt beglücken möchte!"
7. Brief: Rothe an Herz:
"Dein Brief trägt die offenbaren Zeichen des Wahnsinns, würde ein andrer sagen, mir aber, der ich Dir ein für allemal durch die Finger sehe, ist er unendlich lieb. Du bist einmal zum Narren geboren, und wenigstens hast Du doch so viel Verstand, es mit einer guten Art zu sein.
Ich lebe glücklich wie ein Poet, das will bei mir mehr sagen, als glücklich wie ein König. Man nötigt mich überall hin und ich bin überall willkommen, weil ich mich überall hinzupassen und aus allem Vorteil zu ziehen weiß. Das letzte muß aber durchaus sein, sonst geht das erste nicht. Die Selbstliebe ist immer das, was uns die Kraft zu den andern Tugenden geben muß, merke Dir das, mein menschenliebiger Don Quischotte! Du magst nun bei diesem Wort die Augen verdrehen, wie Du willst, selbst die heftigste Leidenschaft muß der Selbstliebe untergeordnet sein, oder sie verfällt ins Abgeschmackte und wird endlich sich selbst beschwerlich."
8. Brief: Herz an Rothe:
"[...] Ich erlaub es euch sogar, über mich zu lachen, wenn euch das wohltun kann. Ich, lache nicht, aber ich bin glücklicher als ihr, ich weide mich zuweilen an einer Träne, die mir das süße Gefühl des Mitleids mit mir selbst auf die Wange bringt. [...] ich will niemanden in Anspruch nehmen, niemand auch nur einen Gedanken kosten, der die Reihe seiner angenehmen Vorstellungen unterbricht. Nur Freiheit will ich haben, zu lieben, was ich will, und so stark und dauerhaft, als es mir gefällt."
11. Brief: Herz an Rothe:
"[...] Sollte etwas davon laut geworden sein, und durch Dich, Verräter? Du weißt allein, wer es ist, und wieviel mir daran gelegen, daß ihr Name auf den Lippen der Unheiligen nicht in meiner Gesellschaft ausgesprochen werde."
12.Brief: Herz an Rothe:
"[...] Sie war es, sie war es selbst, nicht die, die ich auf dem Ball gesehen, aber mein Herz sagte mir's, daß sie es sei, denn als sie mich sah, sie sah scharf heraus, hielt sie den Muff vor das Gesicht, um die Bewegungen ihres Herzens zu verbergen. Und wie groß, wie sprachlos war meine Freude, als ich hernach im Dorf hörte, sie habe sich durch ihre Bedienten nach einem gewissen Waldbruder erkundigen lassen, der hier in der Nähe wohnte.[...]"
2. Teil
1.Brief: Herz an Rothe:
"[...] Rothe! Rothe! was bist Du für ein Mensch. Wie hoch über den Gesichtskreis meines Danks hinaus! Ich habe auch nicht Zeit, das alles durchzudenken, wie Du mich geschraubt und geschraubt hast, mich wieder herzukriegen, mich über alle Hoffnung glücklich zu machen – ich kann's nur fühlen und schaudern, indem ich Dir in Gedanken Deine Hände drücke. Ja ich habe sie gesehen, ich habe sie gesprochen – Dieser Augenblick war der erste, da ich fühlte, daß das Leben ein Gut sei. Ja ich habe ihr vorgestammelt, was zu sagen ich Ewigkeiten gebraucht haben würde, und sie hat mein unzusammenhängendes Gewäsch verstanden. Die Witwe Hohl, Du kennst die Plauderin, glaubte allein zu sprechen, und doch waren wir es, wir allein, die, obgleich stumm, uns allein sprechen hörten. Das läßt sich nicht ausdrücken. Alles was sie sagte, war an die Witwe Hohl gerichtet, alles was ich sagte, gleichfalls und doch verstand die Witwe Hohl kein Wort davon. Ich bekam nur Seitenblicke von ihr, und sie sah meine Augen immer auf den Boden geheftet und doch begegneten unsere Blicke einander und sprachen ins Innerste unsers Herzens, was keine menschliche Sprache wird ausdrücken können. Ach als sie so auf einmal das Gesicht gegen das Fenster wandte, und indem sie den Himmel ansah, alle Wünsche ihrer Seele auf ihrem Gesicht erschienen – laß mich, Rothe, ich entweihe alles dies durch meine Umschreibungen."
4. Brief: Herz an Rothe:
"Ich sehe, ich sehe, daß sich die Witwe Hohl an mir betrügt. Aber laß sie, es ist ihr doch auch wohl dabei, und da es in meinem Vermögen nicht steht, einen Menschen auf der Welt durch Handlungen glücklich zu machen, so soll es mich wenigstens freuen, eine Person, die auf dieser Art der Glückseligkeit in der Welt schon Verzicht getan hatte, wenigstens durch ihre eigene Phantaseien glücklich gemacht zu haben. Unter uns, sie glaubt in der Tat, ich liebe sie. Noch mehr, auch andere Leute glauben's, weil ich ihr so standhaft den Hof mache. Ich liebe sie auch wirklich, aber nicht wie sie geliebt sein will. [...]"
3.Teil
1. Brief: Honesta an den Pfarrer Claudius:
"[...] Die Witwe Hohl – Sie kennen die Witwe Hohl und ich brauche Ihnen ihre Häßlichkeit nicht zu beschreiben, doch wenn Sie sich nicht mehr auf ihr Gesicht erinnern sollten, sie hat eingefallene Augen, den Mund auf die Seite verzogen, der ein wahres Grab ist, das, wenn sie ihn öffnet, Totenbeine weist, eine eingefallene Nase, kurz alles was häßlich und schrecklich in der Natur ist – hier lassen Sie mich aufstehn und abbrechen, die Beschreibung hat mich angegriffen, besonders wenn ich bedenke, daß der delikate, der fein organisierte Herz in sie verliebt war –"
2. Brief: Honesta an den Pfarrer Claudius:
"[...] Nun beging die Witwe die grausame List, Herzen ganz und gar zu verhehlen, daß die Gräfin mit irgend einer Mannsperson auf der Welt in Verbindungen des Herzens stehe. Alle die neueren Briefe, in denen etwas von Plettenberg vorkam, versteckte sie ihm sorgfältig, [...] Nun ging das Drama von beiden Seiten an und die Rollen wurden meisterhaft abgespielt. Witwe Hohl redete immer von der Gräfin und zog dadurch Herzen immer fester an sich. [...] Zu dem Ende ließ sie von Zeit zu Zeit einige nicht gar zu vorteilhafte Beschreibungen von dem Gesicht der Gräfin mit unterlaufen, sagte aber, alle diese kleinen Fehler würden von den Eigenschaften ihres Gemüts so verdunkelt – ich kann nicht schreiben, lieber Pfarrer, ich muß laut lachen, wenn ich mir das Gesicht der Witwe bei diesen Reden denke und die erstaunte und verlegene Miene, mit der Herz ihr muß zugehört haben."
4.Teil
1. Brief: Rothe an Plettenberg
"Herz ist weggereist, bester Plettenberg, ohne mich abzuwarten. Sie sehen, er ist wie ein wilder mutiger Hengst, den man gespornt hat, der Zaum und Zügel verachtet. Auch machen mir's meine Geschäfte unmöglich, ihm gleich nachzureisen oder ihn noch einzuholen, ehe er zu Ihnen kommt. Ich will ihm also diese kleine Empfehlung als einen Vorreiter vorausschicken, damit Sie wissen, wie Sie ihn zu empfangen haben. Denn ich zweifle, obschon Sie in Leipzig mit ihm studiert, daß Sie mir diesen seltsamen Menschen ganz kennen.
Er ist – daß ich's Ihnen kurz sage – der unechte Sohn einer verstorbenen großen Dame, die vor einigen zwanzig Jahren noch die halbe Welt regierte. Er war die Frucht ihrer letzten Liebe und als eine solche einem gewissen Großen zur Erziehung anvertraut worden, der ihn bei ihrem Hintritt sehr scharf hielt. Endlich ließ er ihn mit seinen Kindern unter der Aufsicht eines Hofmeisters reisen, der nun freilich dem wunderbaren Charakter unsers Herz auf keine Weise zu begegnen wußte und das Ansehen, das er von dem Grafen ** über ihn erhalten, auf das niederträchtigste mißbrauchte. Herz, der überall zu Hause zu sein glaubte, setzte sich im zwölften Jahr mit einigen dreißig Dukaten, die er von ihm hatte ausholen können, auf die Post, und reiste heimlich à l'aventure nach Frankreich.

Hier kam er in die elendesten Umstände. Sein Geld ging zu Ende, er verstund wenig oder nichts von der Sprache, mit dem allen, so wie das ein Hauptzug in seinem Charakter ist, den er vielleicht mit mehrern seiner Nation gemein hat, alle seine Vorsätze nur einmal zu fassen und durch nichts in der Welt sich davon abbringen zu lassen, war er auch jetzt durch keine Umstände mehr zu bewegen, den Schritt zu seinem Hofmeister oder zum Grafen ** zurück zu tun. [...]"
2. Brief: Herz an Rothe (einige Meilen vor Zelle)
"Das Bild, Rothe! oder ich bin des Todes – Ich eile ihm immer näher, dem Ort meiner Bestimmung, und ohne sie – Ist mir's doch, als ob ich zum Hochgericht ginge. – Rothe, wärest Du etwa ein Bösewicht? Was für Ursachen kannst Du haben, mir das Bild vorzuenthalten. Es ist so schrecklich, so unmenschlich grausam. Bedenke, wo ich hin soll – und ohne sie!"
4. Brief: Herz an Fernand
"Rothe ist ein Verräter – er schickt mir das Bild nicht – sag ihm, er wird meinen Händen nicht entrinnen."
5. Brief: Plettenberg an Rothe
"Eben habe ich Ihren irrenden Ritter nebst Ihren Vorreutern und blasenden Postillonen erhalten, lieber Rothe. Ich muß sagen, diese Erscheinung wirkt sonderbar auf mich, der Mensch ist so ganz, was er sein will, und da er eine der schwersten Rollen auf Gottes Erdboden spielt, so repräsentiert er doch nicht im mindesten.
Er war bleich und blaß, als er hereintrat. Es ist lustig, wie wir miteinander umgehen. Gleich als ob ich der verliebte Ritter und er der Bräutigam sei, hat er mit einer Zuversicht mir von seiner Liebe zu meiner Braut eine Vertraulichkeit gemacht, die mich so ziemlich aus meiner Fassung setzte, aus der ich doch, wie Sie wissen, sonst so leicht nicht zu bringen bin. Er sagte mir zugleich, Sie wären ein schwarzer Charakter; als ich ihn um die Ursache fragte, gestand er mir, Sie hätten ihm das Porträt meiner Braut zuschicken sollen, und hätten es nun nicht getan. Wirklich hatte ich von jemand anders ein Paket für ihn erhalten, als ich es ihm wies, schlug er beide Hände gegen die Stirn, fiel auf die Knie und schrie »o Rothe! Rothe! wie oft muß ich mich an dir versündigen!« Ich fragte ihn um die Ursache, er sagte, er habe selbst alles so angeordnet, daß das Paket durch seinen Kommissionär in **, unter meiner Adresse an ihn geschickt werden sollte, und nun hab' er's unterwegens vergessen, und Sie im Verdacht gehabt, daß Sie es ihm hätten vorenthalten wollen.
In der Tat, mein lieber Rothe, habe ich Ursache, von diesem Ihrem Verfahren gegen mich ein wenig beleidigt zu sein, besonders aber von der Gewissenhaftigkeit, mit der Sie alles das vor mir verschwiegen gehalten. Ich hatte das Herz nicht, dieses seinsollende Porträt meiner Braut Herzen zu entziehen, weil ich fürchtete, seine Gemütskrankheit dadurch in Wut zu verwandeln, aber es kränkt mich doch, daß ein Bild von ihr in fremden und noch dazu so unzuverlässigen Händen bleiben soll. Wenn Sie mir's nur vorher gesagt hätten, aber wozu sollen die Verheimlichungen?
Unsere Truppen marschieren erst den Zwanzigsten, wir haben heute den Ersten, ich dächte, es wäre nicht unmöglich, Sie vor unserem Abmarsch noch einige Tage zu sehen. Ich habe Ihnen viel, viel an meine Braut zu sagen, und brauche in der Tat einen Mann wie Sie, mir bei meiner Abreise ein wenig Mut einzusprechen.
Freund, ich merke an meinen Haaren, daß ich alt werde. Sollte Stella, wenn ich wiederkomme und von den Beschwerden des Feldzugs nun noch älter bin – Kommen Sie, Sie werden mein Engel sein. Es gibt Augenblicke, wo mir's so dunkel in der Seele wird, daß ich wünschte –"