Ich denke, es gehört eine gewisse Kennerschaft aus folgender Formulierung sogleich auf den Autor zu schließen:
"Freiheit und Genüge werden die Hauptconditionen der neuen Einrichtung sein, ob ich gleich mehr als jemals am Platze bin, das durchaus Scheißige dieser zeitlichen Herrlichkeit zu erkennen."
Goethe schreibt so über seine neue Stellung am Hof von Herzog Carl August von Weimar an Merck am 22.1.1776
Und das, nachdem er im Satz zuvor noch geschrieben hatte: "Meine Lage ist vortheilhaft genug, und die Herzogthümer Weimar und Eisenach immer ein Schauplatz um zu versuchen, wie einem die Weltrolle zu Gesicht stünde."
Lenz schreibt nach seiner Entfernung vom Weimarer Hof im 12 km südlich gelegenen Berka seinen Roman Der Waldbruder über diese Rolle Goethes im Vergleich zu seiner (Lenzens) so nah an dem tatsächlichen Geschehen, dass man trotz aller Überzeichnung annehmen muss, er habe im Roman über sein Verhältnis zu Goethe reflektiert. Deshalb braucht man ihn noch lange nicht für einen Schlüsselroman zu halten. (Hier zum Text)
Zitate:
1. Teil
3. Brief: Herz an Rothe:
"[...] Wenn ich mir noch den Augenblick denke, als ich sie das erstemal auf der Maskerade sah, als ich ihr gegenüber am Pfeiler eingewurzelt stand und mir's war, als ob die Hölle sich zwischen uns beiden öffnete und eine ewige Kluft unter uns befestigte. Ach wo ist ein Gefühl, das dem gleichkommt, so viel unaussprechlichen Reiz vor sich zu sehen mit der schrecklichen Gewißheit, nie, nie davon Besitz nehmen zu dürfen. [...] Wo bin ich nun wieder hineingeraten, ich fürchte mich, alle die Sachen dem Papier anvertraut zu haben. Heb es sorgfältig auf, und laß es in keine unheiligen Hände kommen."
6. Brief: Herz an Rothe:
Über die von ihm geliebte Gräfin Stella "[...] Sieh, es lebt und atmet darinnen eine solche Jugend,
so viel Scherz und Liebe und Freude, und ist doch so tiefer Ernst, die Grundlage von alledem, so göttlicher Ernst – der eine ganze Welt beglücken möchte!"
7. Brief: Rothe an Herz:
"Dein Brief trägt die offenbaren Zeichen des Wahnsinns, würde ein andrer sagen, mir aber, der ich Dir ein für allemal durch die Finger sehe, ist er unendlich lieb. Du bist einmal zum Narren geboren, und wenigstens hast Du doch so viel Verstand, es mit einer guten Art zu sein.
Ich lebe glücklich wie ein Poet, das will bei mir mehr sagen, als glücklich wie ein König. Man nötigt mich überall hin und ich bin überall willkommen, weil ich mich überall hinzupassen und aus allem Vorteil zu ziehen weiß. Das letzte muß aber durchaus sein, sonst geht das erste nicht. Die Selbstliebe ist immer das, was uns die Kraft zu den andern Tugenden geben muß, merke Dir das, mein menschenliebiger Don Quischotte! Du magst nun bei diesem Wort die Augen verdrehen, wie Du willst, selbst die heftigste Leidenschaft muß der Selbstliebe untergeordnet sein, oder sie verfällt ins Abgeschmackte und wird endlich sich selbst beschwerlich."
8. Brief: Herz an Rothe:
"[...] Ich erlaub es euch sogar, über mich zu lachen, wenn euch das wohltun kann. Ich, lache nicht, aber ich bin glücklicher als ihr, ich weide mich zuweilen an einer Träne, die mir das süße Gefühl des Mitleids mit mir selbst auf die Wange bringt. [...] ich will niemanden in Anspruch nehmen, niemand auch nur einen Gedanken kosten, der die Reihe seiner angenehmen Vorstellungen unterbricht. Nur Freiheit will ich haben, zu lieben, was ich will, und so stark und dauerhaft, als es mir gefällt."
11. Brief: Herz an Rothe:
"[...] Sollte etwas davon laut geworden sein, und durch Dich, Verräter? Du weißt allein, wer es ist, und wieviel mir daran gelegen, daß ihr Name auf den Lippen der Unheiligen nicht in meiner Gesellschaft ausgesprochen werde."
12.Brief: Herz an Rothe:
"[...] Sie war es, sie war es selbst, nicht die, die ich auf dem Ball gesehen, aber mein Herz sagte mir's, daß sie es sei, denn als sie mich sah, sie sah scharf heraus, hielt sie den Muff vor das Gesicht, um die Bewegungen ihres Herzens zu verbergen. Und wie groß, wie sprachlos war meine Freude, als ich hernach im Dorf hörte, sie habe sich durch ihre Bedienten nach einem gewissen Waldbruder erkundigen lassen, der hier in der Nähe wohnte.[...]"
2. Teil
1.Brief: Herz an Rothe:
"[...] Rothe! Rothe! was bist Du für ein Mensch. Wie hoch über den Gesichtskreis meines Danks hinaus! Ich habe auch nicht Zeit, das alles durchzudenken, wie Du mich geschraubt und geschraubt hast, mich wieder herzukriegen, mich über alle Hoffnung glücklich zu machen – ich kann's nur fühlen und schaudern, indem ich Dir in Gedanken Deine Hände drücke. Ja ich habe sie gesehen, ich habe sie gesprochen – Dieser Augenblick war der erste, da ich fühlte, daß das Leben ein Gut sei. Ja ich habe ihr vorgestammelt, was zu sagen ich Ewigkeiten gebraucht haben würde, und sie hat mein unzusammenhängendes Gewäsch verstanden. Die Witwe Hohl, Du kennst die Plauderin, glaubte allein zu sprechen, und doch waren wir es, wir allein, die, obgleich stumm, uns allein sprechen hörten. Das läßt sich nicht ausdrücken. Alles was sie sagte, war an die Witwe Hohl gerichtet, alles was ich sagte, gleichfalls und doch verstand die Witwe Hohl kein Wort davon. Ich bekam nur Seitenblicke von ihr, und sie sah meine Augen immer auf den Boden geheftet und doch begegneten unsere Blicke einander und sprachen ins Innerste unsers Herzens, was keine menschliche Sprache wird ausdrücken können. Ach als sie so auf einmal das Gesicht gegen das Fenster wandte, und indem sie den Himmel ansah, alle Wünsche ihrer Seele auf ihrem Gesicht erschienen – laß mich, Rothe, ich entweihe alles dies durch meine Umschreibungen."
4. Brief: Herz an Rothe:
"Ich sehe, ich sehe, daß sich die Witwe Hohl an mir betrügt. Aber laß sie, es ist ihr doch auch wohl dabei, und da es in meinem Vermögen nicht steht, einen Menschen auf der Welt durch Handlungen glücklich zu machen, so soll es mich wenigstens freuen, eine Person, die auf dieser Art der Glückseligkeit in der Welt schon Verzicht getan hatte, wenigstens durch ihre eigene Phantaseien glücklich gemacht zu haben. Unter uns, sie glaubt in der Tat, ich liebe sie. Noch mehr, auch andere Leute glauben's, weil ich ihr so standhaft den Hof mache. Ich liebe sie auch wirklich, aber nicht wie sie geliebt sein will. [...]"
3.Teil
1. Brief: Honesta an den Pfarrer Claudius:
"[...] Die Witwe Hohl – Sie kennen die Witwe Hohl und ich brauche Ihnen ihre Häßlichkeit nicht zu beschreiben, doch wenn Sie sich nicht mehr auf ihr Gesicht erinnern sollten, sie hat eingefallene Augen, den Mund auf die Seite verzogen, der ein wahres Grab ist, das, wenn sie ihn öffnet, Totenbeine weist, eine eingefallene Nase, kurz alles was häßlich und schrecklich in der Natur ist – hier lassen Sie mich aufstehn und abbrechen, die Beschreibung hat mich angegriffen, besonders wenn ich bedenke, daß der delikate, der fein organisierte Herz in sie verliebt war –"
2. Brief: Honesta an den Pfarrer Claudius:
"[...] Nun beging die Witwe die grausame List, Herzen ganz und gar zu verhehlen, daß die Gräfin mit irgend einer Mannsperson auf der Welt in Verbindungen des Herzens stehe. Alle die neueren Briefe, in denen etwas von Plettenberg vorkam, versteckte sie ihm sorgfältig, [...] Nun ging das Drama von beiden Seiten an und die Rollen wurden meisterhaft abgespielt. Witwe Hohl redete immer von der Gräfin und zog dadurch Herzen immer fester an sich. [...] Zu dem Ende ließ sie von Zeit zu Zeit einige nicht gar zu vorteilhafte Beschreibungen von dem Gesicht der Gräfin mit unterlaufen, sagte aber, alle diese kleinen Fehler würden von den Eigenschaften ihres Gemüts so verdunkelt – ich kann nicht schreiben, lieber Pfarrer, ich muß laut lachen, wenn ich mir das Gesicht der Witwe bei diesen Reden denke und die erstaunte und verlegene Miene, mit der Herz ihr muß zugehört haben."
4.Teil
1. Brief: Rothe an Plettenberg
"Herz ist weggereist, bester Plettenberg, ohne mich abzuwarten. Sie sehen, er ist wie ein wilder mutiger Hengst, den man gespornt hat, der Zaum und Zügel verachtet. Auch machen mir's meine Geschäfte unmöglich, ihm gleich nachzureisen oder ihn noch einzuholen, ehe er zu Ihnen kommt. Ich will ihm also diese kleine Empfehlung als einen Vorreiter vorausschicken, damit Sie wissen, wie Sie ihn zu empfangen haben. Denn ich zweifle, obschon Sie in Leipzig mit ihm studiert, daß Sie mir diesen seltsamen Menschen ganz kennen.
Er ist – daß ich's Ihnen kurz sage – der unechte Sohn einer verstorbenen großen Dame, die vor einigen zwanzig Jahren noch die halbe Welt regierte. Er war die Frucht ihrer letzten Liebe und als eine solche einem gewissen Großen zur Erziehung anvertraut worden, der ihn bei ihrem Hintritt sehr scharf hielt. Endlich ließ er ihn mit seinen Kindern unter der Aufsicht eines Hofmeisters reisen, der nun freilich dem wunderbaren Charakter unsers Herz auf keine Weise zu begegnen wußte und das Ansehen, das er von dem Grafen ** über ihn erhalten, auf das niederträchtigste mißbrauchte. Herz, der überall zu Hause zu sein glaubte, setzte sich im zwölften Jahr mit einigen dreißig Dukaten, die er von ihm hatte ausholen können, auf die Post, und reiste heimlich à l'aventure nach Frankreich.
Hier kam er in die elendesten Umstände. Sein Geld ging zu Ende, er verstund wenig oder nichts von der Sprache, mit dem allen, so wie das ein Hauptzug in seinem Charakter ist, den er vielleicht mit mehrern seiner Nation gemein hat, alle seine Vorsätze nur einmal zu fassen und durch nichts in der Welt sich davon abbringen zu lassen, war er auch jetzt durch keine Umstände mehr zu bewegen, den Schritt zu seinem Hofmeister oder zum Grafen ** zurück zu tun. [...]"
2. Brief: Herz an Rothe (einige Meilen vor Zelle)
"Das Bild, Rothe! oder ich bin des Todes – Ich eile ihm immer näher, dem Ort meiner Bestimmung, und ohne sie – Ist mir's doch, als ob ich zum Hochgericht ginge. – Rothe, wärest Du etwa ein Bösewicht? Was für Ursachen kannst Du haben, mir das Bild vorzuenthalten. Es ist so schrecklich, so unmenschlich grausam. Bedenke, wo ich hin soll – und ohne sie!"
4. Brief: Herz an Fernand
"Rothe ist ein Verräter – er schickt mir das Bild nicht – sag ihm, er wird meinen Händen nicht entrinnen."
5. Brief: Plettenberg an Rothe
"Eben habe ich Ihren irrenden Ritter nebst Ihren Vorreutern und blasenden Postillonen erhalten, lieber Rothe. Ich muß sagen, diese Erscheinung wirkt sonderbar auf mich, der Mensch ist so ganz, was er sein will, und da er eine der schwersten Rollen auf Gottes Erdboden spielt, so repräsentiert er doch nicht im mindesten.
Er war bleich und blaß, als er hereintrat. Es ist lustig, wie wir miteinander umgehen. Gleich als ob ich der verliebte Ritter und er der Bräutigam sei, hat er mit einer Zuversicht mir von seiner Liebe zu meiner Braut eine Vertraulichkeit gemacht, die mich so ziemlich aus meiner Fassung setzte, aus der ich doch, wie Sie wissen, sonst so leicht nicht zu bringen bin. Er sagte mir zugleich, Sie wären ein schwarzer Charakter; als ich ihn um die Ursache fragte, gestand er mir, Sie hätten ihm das Porträt meiner Braut zuschicken sollen, und hätten es nun nicht getan. Wirklich hatte ich von jemand anders ein Paket für ihn erhalten, als ich es ihm wies, schlug er beide Hände gegen die Stirn, fiel auf die Knie und schrie »o Rothe! Rothe! wie oft muß ich mich an dir versündigen!« Ich fragte ihn um die Ursache, er sagte, er habe selbst alles so angeordnet, daß das Paket durch seinen Kommissionär in **, unter meiner Adresse an ihn geschickt werden sollte, und nun hab' er's unterwegens vergessen, und Sie im Verdacht gehabt, daß Sie es ihm hätten vorenthalten wollen.
In der Tat, mein lieber Rothe, habe ich Ursache, von diesem Ihrem Verfahren gegen mich ein wenig beleidigt zu sein, besonders aber von der Gewissenhaftigkeit, mit der Sie alles das vor mir verschwiegen gehalten. Ich hatte das Herz nicht, dieses seinsollende Porträt meiner Braut Herzen zu entziehen, weil ich fürchtete, seine Gemütskrankheit dadurch in Wut zu verwandeln, aber es kränkt mich doch, daß ein Bild von ihr in fremden und noch dazu so unzuverlässigen Händen bleiben soll. Wenn Sie mir's nur vorher gesagt hätten, aber wozu sollen die Verheimlichungen?
Unsere Truppen marschieren erst den Zwanzigsten, wir haben heute den Ersten, ich dächte, es wäre nicht unmöglich, Sie vor unserem Abmarsch noch einige Tage zu sehen. Ich habe Ihnen viel, viel an meine Braut zu sagen, und brauche in der Tat einen Mann wie Sie, mir bei meiner Abreise ein wenig Mut einzusprechen.
Freund, ich merke an meinen Haaren, daß ich alt werde. Sollte Stella, wenn ich wiederkomme und von den Beschwerden des Feldzugs nun noch älter bin – Kommen Sie, Sie werden mein Engel sein. Es gibt Augenblicke, wo mir's so dunkel in der Seele wird, daß ich wünschte –"