26 Juli 2020

Italienreisen deutscher Dichter und Dichterinnen

"Ich zähle einen zweiten Geburtstag, eine wahre Wiedergeburt von dem Tage, da ich Rom betrat" schreibt Goethe, "eine neue Jugend, eine zweite Jugend, ein neuer Mensch, ein neues Leben".
Thomas Mann zitiert das in seiner "Phantasie über Goethe" (1948) und fügt hinzu:
"Das Wesen der Sache scheint eine vorhergesehene gewollte, als lebensnotwendig empfundene und sofort einsetzende Neu-Integrierung seiner Person, seiner disparaten Anlagen [...]" (Th. Mann Fischer Bücherei MK 115, S.64)

Ich habe daher Goethes Reisebericht, zumal er in Jahrzehnten Abstand verfasst ist, immer mehr als Goetheerlebnis als eine Darstellung damaliger Wirklichkeit empfunden.
Deshalb habe ich mich über Fanny Lewalds Italienisches Bilderbuch gefreut, weil sie - bei aller natürlich vorhandenen Voreingenommenheit - ein möglichst genaues Bild zu zeichnen unternimmt.
Ich schätze Eichendorffs Italienschilderungen und habe mich gefreut, bei Jean Paul das römische Pantheon und den Petersdom genauso geschildert zu sehen, wie ich sie erlebt habe. (Erst später habe ich nachgelesen, dass beide nie in Italien waren.)

Sieh auch:
Italienreisen
Seume und Delius
K.Ph. Moritz
Gregorovius
Heine: Reisebilder

Wilhelm Raabe: Das Horn von Wanza

Das Horn von Wanza, laut Wikipedia, "von Wilhelm Raabe auf dem Höhepunkt seiner Erzählkunst" geschrieben, zeigt in komprimierter Form die großen Stärken und die gewissen Fragwürdigkeiten von Raabes künstlerischer Leistung.
Er zeigt auf, wie sehr Menschen von der Gesellschaft ins Abseits gedrängt werden und wie viel Humor (würdevolles Ertragen von Benachteiligung oder auch der allgemeinen Lebensrisiken ) ihnen das Leben abverlangt.
Dabei trifft allerdings die Kritik an der Gesellschaft des öfteren zu pauschal Gruppen, die ihrerseits mehr Verständnis verdienten. So im Hungerpastor den jüdischen Gegenspieler des Helden. 
Doch gerade dadurch, dass sie so pauschal bleibt, bleibt der einfühlsame Blick auf die Benachteiligten im Zentrum.
Wohl unvermeidlich ist dabei, dass die positiv gesehenen Personen nicht ganz realistisch, sondern eher als liebenswürdige Eigenbrötler erscheinen.

Doch am besten liest man Raabes Texte selbst. Die folgenden Zitate sollten wegen ihrer Unvollständigkeit zu einem genaueren Blick anregen:


»Sieh, Grüner, das ist grade das Scheußliche an diesen Klassikern: von Weisheit quellen sie über, die wunderbarsten, praktischsten Ratschläge geben sie einem – aber gebrauchen kann man nichts davon. Es ist zu lange Zeit her, seit sie verständige Menschen waren; und wir – wir sind vermittelst unserer höhern Bildung, Tugend, Sitte und gottverdammten, verfluchten modernen Feinfühligkeit allzusehr in das ausgeartet, was sie mit dem Sammelwort ›pecus‹ bezeichneten.« [...]
Sie näherten sich jetzt allmählich der Stadt. Gartenmauern, Gartenhecken und Gartenhäuschen traten an die Stelle der Ackerflächen; und mit dem Bürgermeister ging etwas Merkwürdiges vor. Er wurde von Schritt zu Schritt mehr ein ganz anderer! Mit immer wachsendem Erstaunen beobachtete der jüngere Studiengenosse stumm das sich entwickelnde Phänomen. Der weise Seneka fing an, mit steifen Schritten seinen nicht wegzuleugnenden Bauch vorwärtszutragen. Er rückte seinen Halskragen zurecht, er schlug sich mit dem Taschentuch den Staub von den Stiefeln, er stieß den Stock gravitätisch auf, und das drolligste war, daß er sich des erstaunlichen Eindrucks, den er auf den jüngern Kommilitonen machte, bis ins Innerste seines Gemütes bewußt war und – gar keine Freude daran hatte. Äußerlich mit würdigster Miene, wimmerte er leise zur Seite hin: »Anständig, Grünhage! Es ist schauderhaft, aber – ich sitze ja doch nun mal drin. Grüner, bleib du so lange als möglich draußen; aber betrage dich jetzo auch – so anständig als möglich – uhhh!« [...]
»Knabe, hier höre ich mich selber sprechen!« rief der Wanzaer Bürgermeister mit würdigster Selbstbefriedigtheit. »Die letzten Worte hättest du nicht geredet, ohne zu meinen Füßen gesessen zu haben! Halte dich fernerhin an gute Muster, junger Mensch. Bedenke, wie oft der Lucius Annäus den Epikur als das Seinige zitiert. Überlege, wie es immer der Gipfel der Weisheit gewesen ist, seinen Stoikermantel mit dem fröhlichen Purpur des Vergnügens an der Welt zu färben, und vor allen Dingen nimm jetzt diese etwas steile Treppe die Versicherung mit hinauf, daß es mir von Stufe zu Stufe immer klarer wird, daß du mir als eine wahre Erquickung hierher nach Wanza geraten bist. Alter Junge, da hat man als hiesiger Bürgermeister endlich mal wieder was, woran man Anteil nehmen kann, ohne den Wunsch zu äußern, sich einen Sklaven für die Langweilerei halten zu können! – [...]
Meine Mutter hat geschluchzt, Lucie Tewes hat geschluchzt; aber mein Vater hat gar nichts gesagt, und das war das schlimmste, denn er redete am deutlichsten mit jedem seiner Schritte durch die Stube, und wie er nach den Stubengeräten tastete in seiner Unruhe. Ich aber habe gemußt! Und das Müssen ist mir wie im Traum gekommen, aber mein ganzes Leben lang eine Wirklichkeit gewesen. In der Nacht nach Pfingsten neunzehn bin ich eine Braut geworden durch meines Vaters Geige! Er hat mich in jener Nacht und der einzigen Bedenkzeit, die mir vergönnt war, in mein ehelich Leben hineingespielt. Ich konnte das aus seiner Kammer her über meinem Kopfe nicht anhören und aushalten!... Wir konnten alle nichts dafür, daß es so sein mußte; und, liebe Jungen, was hat es denn auch viel geschadet heute? Daß ich nicht zugrunde gegangen bin durch unsern Hunger und die Zuneigung meines verstorbenen Mannes und des Vaters Geigenspiel in der Pfingstnacht und der Mutter Wehmut am Hochzeitsmorgen, das habt ihr ja heute abend, wie ich hier auf dem Sofa mit meinem Strickzeug sitze, vor euch! Es hat wohl schon eher ein achtzehnjährig jung Mädchen einen tapfern Soldaten und halbwilden Menschen von dreißig Jahren gefreit und ist mit dem Leben davon- und in ein hohes Alter gekommen. Und daß ich mir halb wie ein Opferlamm vorkam, tat damals gradesoviel wie heute noch in der Mädchen Gemüte zu einem weinerlichen Ja!  [...]
Annähernd mit den Gefühlen jenes Schlauesten unter den Rolandsknappen des alten Musäus sah sich der Gast jetzt doch das Losament genauer an. Mit seinem Leuchter in der Hand stand er in einer vollständig leeren Giebelstube. Vollständig leer bis auf einen alten Lehnstuhl und ein Tischchen am Fenster. Er leuchtete in die Kammer und verwunderte sich, als er doch ein frisch aufgeschlagen Bett, einen Waschtisch und zwei Stühle unter dem schräg abfallenden Dache erblickte. »Hm«, sagte er und versuchte, die Sache von der gemütlichen Seite aufzufassen, »ihr Wort habe ich wenigstens, daß ich nicht für den Bratspieß oder den Backofen bestimmt bin; und – krumm auf einem Sofa ist gerade auch kein Vergnügen, zumal wenn man den weisen Seneka aus dem weichen Bett nebenan in seinen Rückenschmerz hineinschnarchen hört!« [...]
Praktisch gescheit sahen sie auch beide aus, Marten Marten und die Tante Sophie. Mit der Photographie oder derartigen modernen Kunststücken war beiden nicht recht beizukommen; aber da existiert in Neu-Ruppin ein Mann, der könnte es vielleicht. [...]
Und wer der alten Bildermacherfirma zu Neu-Ruppin einmal einen Gefallen tun kann, der tue es auch um des Meisters Marten willen! [...]
Kind, Kind, ich will euch gewiß nicht das Recht nehmen, in den Tagen zu leben, wie sie jetzt sind, und auf sie zu schwören; aber manchmal meine ich doch, ein wenig mehr Rücksicht auf das Alte könntet ihr auch nehmen. [...]
Ich bin nur eine alte Frau und kann mich also täuschen; aber – Kind, Kind, scheinen tut es mir doch so, als ob die Welt von Tag zu Tag schriller würde und ihr es gar nicht abwarten könntet, bis ihr sie auf dem Markt, in den Straßen und auf dem Papier am schrillsten gemacht habt. [...]
Und du hast mir aus der Seele gesprochen! Ja, die Welt wird schriller von Tag zu Tag. Das Horn des Meisters Marten Marten haben sie abgeschafft, weil es ihnen viel zu sonor durch die Nacht klang, und aus der deutschen Sprache streichen sie nicht nur hier und da das h oder sonst einen Konsonanten, nein, am liebsten rissen sie ihr jeglichen Vokal aus dem Leibe, um nur den durcheinanderklappernden Klempnerladen, wozu sie doch schon Anlage genug hat, aus ihr fertigzumachen. Wie Johann Balhorn und nach ihm der Kandidat Jobs verbessern sie das Abc-Buch, indem sie dem biedern, ehrlichen Hahn davor die Sporen nehmen, aber ihm ein Nest mit einem von ihren faulen Eiern unter den Schwanz schieben. Und die heutigen Ohnewitzer scheinen sich das wirklich gefallen zu lassen.« [...]
Wenn wir aber nicht gleichfalls, äußerlich sehr kühl, innerlich vor Aufregung schwitzen, so ist das nur, weil wir an derlei Aufregungen schon seit lange und von mancher gar nicht übeln Berichterstattung über der Menschheit Haushaltsangelegenheiten auf dieser armen reichen Erde her gewöhnt sind. [...]
›Du siehst ja gottlob ganz würdig und präsentabel aus!‹ hat sie auch gehohngrient, die alte Spitzbübin!« »Hohngrienig« sah die Tante Grünhage um drei Viertel auf elf Uhr nicht mehr drein. [...]

Wilhelm Raabe: Das Horn von Wanza (Text), 1881

22 Juli 2020

Fontane lobt und kritisiert Raabe

Wilhelm Raabe war etwa 11 Jahre jünger als Fontane. Über seine Erzählung "Das Horn von Wanza" (1881) schreibt Fontane im Juni 1881:
"Mich haben die ersten Szenen [...] am meisten entzückt. All diese Dinge sind ganz ersten Ranges, und weder Dickens noch andere Humoristen, die ich kenne, haben das geleistet.
Hätte Raabe mehr Kritik, so wäre er absolut No.1; aber freilich - 'wär er besonnen, wär er nicht der Tell'." (vgl. auch Fontane und Raabe)

"[...] »Wie die alte Tante ausfallen wird, soll mich wundern. An mir soll's nicht liegen, wenn sie mich nicht zum Haupterben einsetzt oder doch ein angenehmes Kodizill an ihr Testament meinetwegen hängt«, sagte der Student. »Was aber das ›alte Haus‹ sagen wird, darauf bin ich wirklich gespannt. Wenn sie den alten Knaben auch dort den weisen Seneka nennen und ihn seiner Weisheit wegen bei sich zum Bürgermeister gemacht haben, so ist das in der Idylle dort die einzige Philisterbande, die jemals eine vernünftige Idee gehabt und sie in die Erscheinung geführt hat. Ganz riesig ist's aber unter allen Umständen von ihr.«
Damit war er abwärts gesprungen vom Rabenskopfe durch den Tannenwald und den frischen, sonnigen Septembermorgen, dem ihm augenblicklich noch so wenig bekannten Ziel seiner Wanderschaft entgegen. Es ist aber jedenfalls immer sehr hübsch und herzerfreuend, wenn einem ein solches Ziel so – bald nach Sonnenaufgang – in einer so bunten, flimmernden, schimmernden, taublitzenden Ferne gezeigt wird und noch dazu mit dem Wort:
»Sie werden einen schönen Tag behalten, Herr Student.«
Es war ein erkleckliches Stück weiter gegen Norden hin, wo dieser Studiosus der Philologie, Herr Bernhard Grünhage, zu Hause war. Zum erstenmal hatte er am gestrigen Abend von den südlichen Harzbergen in die Gegend zwischen dem Kyffhäuser und der Porta Eichsfeldika hinausgesehen, und wie es eigentlich kam, daß er heute diese Gegend nunmehr durchwanderte, das muß jetzt vor allen Dingen erzählt werden. Die alte Tante läuft weder dem Studenten noch uns weg. [...]" (Wilhelm Raabe: Das Horn von Wanza")

Mehr zu dieser Erzählung

21 Juli 2020

Goethe an Behrisch März 1768

"[...] Was macht Annette? Ey, ey! Giebts eine Annette in der Welt? Weisst du's auch noch? ich dächte du hättest es längst vergessen, wenigstens hast du in 3 guten Monaten nichts nach ihr gefragt, und ich binn auch so höflich gewesen dir nichts von ihr zu schreiben.
Gut wenn du es wissen willst wie es mit uns steht, so wisse. Wir lieben einander mehr als jemals ob wir einander gleich seltner sehen. Ich habe den Sieg über mich erhalten sie nicht zu sehen, und nun dacht ich gewonnen zu haben, aber ich bin elender als vorher, ich fühle daß die Liebe sich selbst in der Abwesenheit erhalten wird. Ich kann leben ohne sie zu sehen, nie, ohne sie zu lieben. Allen Verdruß den wir zusammen haben mache ich. Sie ist ein Engel, und ich binn ein Narr.
Höre Behrisch, ich kann ich will das Mädgen nie verlassen, und doch muss ich fort, doch will ich fort; Aber sie soll nicht unglücklich seyn. Wenn sie meiner wehrt bleibt, wie sie's jetzt ist! Behrisch! Sie soll glücklich seyn. Und doch werd' ich so grausam seyn, und ihr alle Hoffnung benehmen. Das muss ich. Denn wer einem Mädgen Hoffnung macht, der verspricht. Kann sie einen rechtschaffnen Mann kriegen, kann sie ohne mich glücklich leben, wie fröhlich will ich seyn. Ich weiß was ich ihr schuldig binn, meine Hand und mein Vermögen gehört ihr, sie soll alles haben was ich ihr geben kann. Fluch sey auf dem, der sich versorgt eh das Mädgen versorgt ist, das er elend gemacht hat. Sie soll nie die Schmerzen fühlen, mich in den Armen einer andern zu sehen, biß ich die Schmerzen gefühlt habe, sie in den Armen eines andern zusehen, und vielleicht will ich sie auch da mit dieser schröcklichen Empfindung verschonen.* Es ist sehr verworren was ich geschrieben habe, aber du magst dich heraus dencken. Du kennst mich. [...]"  (Goethe:  Briefe,  Zeno.org)

Anna Katharina Schönkopf "(auch „Käthchen“ und „Annette“ genannt; geboren 22. August 1746 in Leipzig; gestorben 20. Mai 1810 ebenda[1]) war die Tochter des Zinngießers und Weinhändlers Christian Gottlieb Schönkopf (1716–1791[2]) und von dessen Frau Katharina Sibylla geb. Hauck (1714–1790[2]), in deren Gasthof der junge Johann Wolfgang Goethe während seiner Leipziger Studienzeit den Mittagstisch nahm." (Wikipedia)

* "Als Goethe Käthchen nach „schrecklichen Szenen wirklich verloren“ hatte, wurde im Frühjahr 1768 das Verhältnis gelöst, das – wegen Goethes extremer Eifersucht auf echte oder vermeintliche Nebenbuhler – von Anfang an recht problematisch gewesen war. Goethe kurierte sich von den durchgemachten Erschütternissen durch das Schäferspiel Die Laune des Verliebten, in dem ein eifersüchtiger Liebhaber geheilt wird, als er erkennt, dass auch er untreu sein kann.
Auch nach dem Ende des Verhältnisses richtete Goethe noch einige Zeit – durchaus galante – Briefe an Käthchen, so am 1. November 1768:
„(...) Ich dancke Ihnen für eine so unerwartet schnelle Antwort, und bitte Sie auch inskünftige, in angenehmen muntern Stunden an mich zu dencken, und wenn es seyn kann an mich zu schreiben; Ihre Lebhafftigkeit, Ihre Munterkeit, Ihren Witz zu sehen, ist mir eine der grössten Freuden, er mag so leichtfertig, so bitter seyn als er will. (...)“
– Johann Wolfgang Goethe an Anna Katharina Schönkopf, Frankfurt / Main am 1. November 1768[7]
Anna Katharina heiratete 1770 den Juristen Christian Karl Kanne, der später Vizebürgermeister von Leipzig wurde. Goethe besuchte sein erstes Mädgen[8] 1776 nach seinem Wechsel nach Weimar noch einmal in Leipzig.
Käthchen wirkte, wie andere Frauen, mit ihrer sanfteren Natur ausgleichend auf das ungeheure Temperament des jungen Goethe. Sie erschien ihm als reizend-vollkommen und befreite ihn dadurch aus seinem jugendlichen Skeptizismus. Die Erfülltheit, die sie für ihn heraufbrachte, stieß ihn bereits auf „das tragische Grundproblem“ (Emil Ludwig) seines Lebens: Was hilft es mir, dass ich genieße?[9]" (Wikipedia)

18 Juli 2020

Georg Forster: Parisische Umrisse

Georg Forster hat noch in der Zeit, als die Französische Revolution in die Schreckensherrschaft umschlug die Entwicklung damit gerechtfertigt, dass es bei einer Auseinandersetzung um Leben und Tod nicht mehr möglich sei, die Beweggründe beider Seiten gegeneinander abzuwägen, sondern nur noch das Ausfechten des Kampfes dazu führen könne, dass nachher in Ruhe entschieden werden könne, wer recht gehabt habe.

"Es gab eine Zeit, wo man sich in Deutschland mit einer Art von Siegwarts-Empfindsamkeit über die Harmlosigkeit unsrer Revolution hoch erfreute; alles schien so gelassen, so friedlich abzulaufen, daß man Frankreich für das glückliche Schlaraffenland hielt, wo einem die – Freiheit? von selbst in den Wurf käme. Ein Paar Köpfe, auf Piken gespießt, ließ man uns hingehen; ja, man verzieh uns sogar die Aufknüpfung des armen Schluckers Favras, wodurch einer vornehmeren Kehle geschont wurde. Als nun gar unsre Verfassung von 1791 zu Stande kam: wer hätte da noch an der Wiederkehr des goldenen Zeitalters gezweifelt? Diese utopischen Träume mußten bei der Wendung, die hernach die Sachen nahmen, eine höchst nachtheilige Wirkung thun; man ließ es uns entgelten, daß man sich in seinen Hoffnungen so verrechnet hatte. Als am 10ten August die Absetzung des Königs Blut kostete, da kündigten uns Eure Revolutionsfreunde schon Hut und Weide auf; und bald hernach verglichen sie unsre unseligen Septembernächte mit Karls des Neunten und seiner Mutter Bartholomäusnacht. Seitdem ist es so revolutionsgemäß bei uns hergegangen, daß man von dem ersten Vorurtheil endlich zurückgekommen ist. Man hat Zeit gehabt, die Geschichte andrer Revolutionen mit der unsrigen zu vergleichen. Ihre Würgengel mögen sich unter einander um den Vorrang streiten; und da unsre Rechnung vielleicht nicht so bald abgeschlossen werden kann, so müssen jetzt die Revolutionen überhaupt, und ohne Rücksicht auf ihren Zweck, vorläufig ihr Verdammungsurtheil empfangen. – O über die Kinder, die sich die Nase an einer Stuhlecke stoßen, und den Stuhl dafür peitschen! – O über die Klügler, die, wenn das Gewitter, das die Saaten erquickte, zugleich Dörfer in Brand steckt, Menschen und Heerden erschlägt, nicht wissen, ob sie es Wohlthat oder Plage nennen sollen!
Den Weibern, deren gutmüthige Schwärmerei so gern eine Unschuldswelt hervor zaubern möchte, ist es zu verzeihen, wenn sie über den Punkt das All vergessen. Sie sind gewohnt, das Schauspiel der Weltbegebenheiten nur in dem Einen Gegenstande, der ihr Herz erfüllt, zu erblicken; und alles um sie her ist Nacht, wenn dieser Spiegel zerbricht. »Die Guillotine«, sagte mir neulich eine Pariserin, »wird noch alle Regungen der Menschlichkeit ersticken. Selbst meine Kinder sprechen schon davon in ihren Spielen und die Straßenjungen haben längst manche Katze guillotinirt; ja, es heißt sogar, daß sie in einem gewissen Städtchen das Experiment an einem aus ihrer Mitte hätten probiren wollen.« – Mir machten diese Beispiele von angeblicher Verwilderung um so weniger bange, da ich wußte, daß diesmal einige der neuesten Auftritte die gute Frau außer Fassung gebracht hatten. Am wenigsten durfte sie für ihre eigenen Kinder besorgt seyn, bei denen man den glücklichsten Übergang kindlicher Triebe in das zarte sittliche Gefühl unmöglich verkennen konnte. Warum sollte auch Fühllosigkeit gerade das Hauptresultat einer Revolution seyn, worin so manche Triebfedern wirken? Wer hält die Engländer darum für fühlloser als andre Menschen, weil man in London wöchentlich ganze Galgen voll Diebe, Räuber und Mörder aufhängen sieht? Wahr indessen oder nicht; jene Besorgniß verräth immer ein schönes Gefühl, und der echte Bürger, der Mensch im größten Sinne des Worts, leidet tief bei der traurigen Erfahrung daß ohne ganze Ströme Bluts die Vortheile der Revolution deren die Welt so nothwendig bedarf, ihr nicht zu Gute gekommen wären. Ja es trifft sich zuweilen, (und dies ist unstreitig das Niederschlagendste von Allem) daß der Verbrecher im politischen Sinn, als Mensch, als Hausvater und Freund, von Hunderten die ihn kannten, betrauert wird. Bei Ihnen dürfte mancher auch noch fragen: ist denn das politische Verbrechen allemal so ausgemacht? Eigentlich sind wir zur Beantwortung dieser Frage noch nicht hinlänglich unterrichtet. Welcher Dritte kann jetzt noch darüber urtheilen, ob die Systeme und Regierungsplane der einen oder der andern Parthei den Vorzug verdienten? Allein, so bald es zwischen ihnen so weit gekommen war, daß keine Aussöhnung mehr möglich blieb und es einen Kampf auf Tod und Leben galt; so konnte nur der Ausgang über die Straffälligkeit entscheiden und die siegende Parthei fand ihre Rettung einzig und allein in der Vertilgung der andern. Was die Leidenschaften hier unter dem Mantel der unerbittlichen Nothwendigkeit gewirkt haben mögen, wird der Vergeltung nicht entgehen, wenn es auch eben kein Thurm von Siloah wäre, der über den Schuldigen zusammenstürzte; aber die Moralität jener blutigen Rache gehört wenigstens für jetzt vor keinen menschlichen Richterstuhl.
Es ziemt uns, wenn wir kaltblütig forschen wollen, die Ursachen nicht zu übersehen, die allem Thun der Menschen so viel Unwillkührliches beimischen, daß das Wenigste zuletzt, sey es lobens- oder tadelnswerth, ihnen eigen gehört. Die gewaltsamsten Erscheinungen unserer Revolution entsprangen aus dem Widerstand und Aneinanderreihen der Kräfte. Die konstituirende Nationalversammlung wurde durch kleine Hindernisse gereitzt, die ihr der Blödsinn in den Weg legte; und täglich gewann sie dadurch ein vollkommneres Bewußtseyn ihrer Überlegenheit. In der zweiten ward die Reibung stärker: der Hof strebte nach seiner alten Macht; die Minorität gönnte ihm auch die nicht, die er vermöge der neuen Verfassung hatte, und in dieser Minorität lag eine andere noch ungeborne, die auf kürzerem aber halsbrechendem Wege, per saxa, per ignes, zur Republik gelangen wollte. Dessen ungeachtet blieben die furchtbarsten Krämpfe noch für die jetzige Versammlung aufbewahrt. In den Waffenkreis der auswärtigen Mächte gebannt, stürmten die los gebundenen Leidenschaften durch einander, und die Wuth der Partheien entbrannte in lichten Flammen. Unstreitig hat der gewaltsame Druck, womit man unsere Gährung dämpfen wollte, die Hitze auf den höchsten Punkt gebracht, und die heftigsten Anstrengungen in uns hervorgerufen.
Jetzt haben wir indessen unter einander ausgekämpft; alles kommt gegenwärtig darauf an, jenen zusammendrückenden, ehernen Kreis zu zersprengen. Wie mag es aber gekommen seyn, daß Europa so gegen uns sein ganzes Spiel auf Eine Karte setzt? Wer hat die Elasticität des gährenden Stoffes so genau berechnet, daß man von seiner Kraft nichts zu befürchten haben sollte? Wer kennt den Grad der Verstärkung, den unsere Gährung durch die von außen hinein gemischten Mittel noch erhalten kann? Wenn die Bombe zerplatzt, wird sie nicht alles umher zertrümmern? Ist überhaupt ein überlegter, ruhiger, fester Gang der Vernunft in diesem Plane zu suchen, oder ist es überall Leidenschaft gegen Leidenschaft, und Würfel gegen Würfel? Führen Könige und Republikaner nur Krieg mit einander, oder schlägt ein Gott die Menschengattung in Scherben, um sie im Tiegel neu umzugießen? –"
Georg Forster: "Parisische Umrisse"

Forster ist nach einer glänzenden Karriere als Wissenschaftler verarmt und verlassen an Lungenentzündung gestorben. Daran, dass die Revolution die gerechte Sache vertreten hat, hat er festgehalten. 

In der Wikipedia heißt es dazu:
"Forster wurde sich nun des Widerspruchs bewusst zwischen dem Anspruch der Revolution, das Glück der Menschheit zu befördern, und der revolutionären Praxis, die über das Glück und das Leben des einzelnen Menschen grausam hinweggehen konnte. Im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Befürwortern der Revolution, wie etwa Friedrich Schiller, wandte sich Forster aber selbst unter dem Eindruck des Terrorregimes nicht von den revolutionären Idealen ab. Er verglich die Ereignisse in Frankreich mit einem Naturereignis, das man nicht aufhalten könne. Kurz vor seinem Tod schrieb er:
„Die Revolution ist ein Orkan. Wer kann ihn hemmen? Ein Mensch, durch sie in Tätigkeit gesetzt, kann Dinge tun, die man in der Nachwelt nicht vor Entsetzlichkeit begreift.“
Bevor die Terrorherrschaft ihren Höhepunkt erreichte, starb Georg Forster im Januar 1794, noch nicht 40-jährig, an einer Lungenentzündung in einer kleinen Dachwohnung in der Rue des Moulins in Paris."

Komödie oder Prozess? (Goethe: Italienische Reise)


Den 3. Oktober. [1786]
Heute dagegen sah ich eine andere Komödie, die mich mehr gefreut hat. Im herzoglichen Palast hörte ich eine Rechtssache öffentlich verhandeln; sie war wichtig und zu meinem Glück in den Ferien vorgenommen. Der eine Advokat war alles, was ein übertriebener Buffo nur sein sollte. Figur dick, kurz, doch beweglich, ein ungeheuer vorspringendes Profil, eine Stimme wie Erz und eine Heftigkeit, als wenn es ihm aus tiefstem Grunde des Herzens Ernst wäre, was er sagte. Ich nenne dies eine Komödie, weil alles wahrscheinlich schon fertig ist, wenn diese öffentliche Darstellung geschieht; die Richter wissen, was sie sprechen sollen, und die Partei weiß, was sie zu erwarten hat. Indessen gefällt mir diese Art unendlich besser als unsere Stuben- und Kanzleihockereien. Und nun von den Umständen und wie artig, ohne Prunk, wie natürlich alles zugeht, will ich suchen einen Begriff zu geben.
In einem geräumigen Saal des Palastes saßen an der einen Seite die Richter im Halbzirkel. Gegen ihnen über, auf einem Katheder, der mehrere Personen nebeneinander fassen konnte, die Advokaten beider Parteien, unmittelbar vor demselben, auf einer Bank, Kläger und Beklagte in eigner Person. Der Advokat des Klägers war von dem Katheder herabgestiegen, denn die heutige Sitzung war zu keiner Kontrovers bestimmt. Die sämtlichen Dokumente für und wider, obgleich schon gedruckt, sollten vorgelesen werden.
Ein hagerer Schreiber in schwarzem, kümmerlichem Rocke, ein dickes Heft in der Hand, bereitete sich, die Pflicht des Lesenden zu erfüllen. Von Zuschauern und Zuhörern war übrigens der Saal gedrängt voll. Die Rechtsfrage selbst sowie die Personen, welche sie betraf, mußten den Venezianern höchst bedeutend scheinen.
Fideikommisse haben in diesem Staat die entschiedenste Gunst, ein Besitztum, welchem einmal dieser Charakter aufgeprägt ist, behält ihn für ewige Zeiten, es mag durch irgend eine Wendung oder Umstand vor mehrern hundert Jahren veräußert worden, durch viele Hände gegangen sein, zuletzt, wenn die Sache zur Sprache kommt, behalten die Nachkommen der ersten Familie recht, und die Güter müssen herausgegeben werden.
Diesmal war der Streit höchst wichtig, denn die Klage ging gegen den Doge selbst, oder vielmehr gegen seine Gemahlin, welche denn auch in Person auf dem Bänkchen, vom Kläger nur durch einen kleinen Zwischenraum getrennt, in ihren Zendal gehüllt, dasaß. Eine Dame von gewissem Alter, edlem Körperbau, wohlgebildetem Gesicht, auf welchem ernste, ja, wenn man will, etwas verdrießliche Züge zu sehen waren. Die Venezianer bildeten sich viel darauf ein, daß die Fürstin in ihrem eignen Palast vor dem Gericht und ihnen erscheinen müsse.
Der Schreiber fing zu lesen an, und nun ward mir erst deutlich, was ein im Angesicht der Richter unfern des Katheders der Advokaten hinter einem kleinen Tische auf einem niedern Schemel sitzendes Männchen, besonders aber die Sanduhr bedeute, die er vor sich niedergelegt hatte. Solange nämlich der Schreiber liest, so lange läuft die Zeit nicht, dem Advokaten aber, wenn er dabei sprechen will, ist nur im ganzen eine gewisse Frist gegönnt. Der Schreiber liest, die Uhr liegt, das Männchen hat die Hand daran. Tut der Advokat den Mund auf, so steht auch die Uhr schon in der Höhe, die sich sogleich niedersenkt, sobald er schweigt. Hier ist nun die große Kunst, in den Fluß der Vorlesung hineinzureden, flüchtige Bemerkungen zu machen, Aufmerksamkeit zu erregen und zu fordern. Nun kommt der kleine Saturn in die größte Verlegenheit. Er ist genötigt, den horizontalen und vertikalen Stand der Uhr jeden Augenblick zu verändern, er befindet sich im Fall der bösen Geister im Puppenspiel, die auf das schnell wechselnde »Berlickel Berlockel« des mutwilligen Hanswursts nicht wissenWer in Kanzleien hat kollationieren hören, kann sich eine Vorstellung von dieser Vorlesung machen, schnell, eintönig, aber doch artikuliert und deutlich genug. Der kunstreiche Advokat weiß nun durch Scherze die Langeweile zu unterbrechen, und das Publikum ergötzt sich an seinen Späßen in ganz unmäßigem Gelächter. Eines Scherzes muß ich gedenken, des auffallendsten unter denen, die ich verstand. Der Vorleser rezitierte soeben ein Dokument, wodurch einer jener unrechtmäßig geachteten Besitzer über die fraglichen Güter disponierte. Der Advokat hieß ihn langsamer lesen, und als er die Worte deutlich aussprach: »Ich schenke, ich vermache!«, fuhr der Redner heftig auf den Schreiber los und rief: »Was willst du schenken? was vermachen? du armer ausgehungerter Teufel! gehört dir doch gar nichts in der Welt an. Doch«, fuhr er fort, indem er sich zu besinnen schien, »war doch jener erlauchte Besitzer in eben dem Fall, er wollte schenken, wollte vermachen, was ihm so wenig gehörte als dir.« Ein unendlich Gelächter schlug auf, doch sogleich nahm die Sanduhr die horizontale Lage wieder ein. Der Vorleser summte fort, machte dem Advokaten ein flämisch Gesicht; doch das sind alles verabredete Späße.
(Goethe: Italienische Reise)

17 Juli 2020

Venedig bei Goethe, Fanny Lewald und Fontane

Venedig (Wikipedia)
"So stand es denn im Buche des Schicksals auf meinem Blatte geschrieben, daß ich 1786 den achtundzwanzigsten September, abends, nach unserer Uhr um fünfe, Venedig zum erstenmal, aus der Brenta in die Lagunen einfahrend, erblicken und bald darauf diese wunderbare Inselstadt, diese Biberrepublik betreten und besuchen sollte. So ist denn auch, Gott sei Dank, Venedig mir kein bloßes Wort mehr, kein hohler Name, der mich so oft, mich, den Todfeind von Wortschällen, geängstiget hat.
Als die erste Gondel an das Schiff anfuhr (es geschieht, um Passagiere, welche Eil' haben, geschwinder nach Venedig zu bringen), erinnerte ich mich eines frühen Kinderspielzeuges, an das ich vielleicht seit zwanzig Jahren nicht mehr gedacht hatte. Mein Vater besaß ein schönes mitgebrachtes Gondelmodell; er hielt es sehr wert, und mir ward es hoch angerechnet, wenn ich einmal damit spielen durfte. Die ersten Schnäbel von blankem Eisenblech, die schwarzen Gondelkäfige, alles grüßte mich wie eine alte Bekanntschaft, ich genoß einen langentbehrten freundlichen Jugendeindruck. [...]
Den 29sten, Michaelistag, abends.
Von Venedig ist schon viel erzählt und gedruckt, daß ich mit Beschreibung nicht umständlich sein will, ich sage nur, wie es mir entgegenkommt. Was sich mir aber vor allem andern aufdringt, ist abermals das Volk, eine große Masse, ein notwendiges, unwillkürliches Dasein.
Dies Geschlecht hat sich nicht zum Spaß auf diese Inseln geflüchtet, es war keine Willkür, welche die Folgenden trieb, sich mit ihnen zu vereinigen; die Not lehrte sie ihre Sicherheit in der unvorteilhaftesten Lage suchen, die ihnen nachher so vorteilhaft ward und sie klug machte, als noch die ganze nördliche Welt im Düstern gefangen lag; ihre Vermehrung, ihr Reichtum war notwendige Folge. Nun drängten sich die Wohnungen enger und enger, Sand und Sumpf wurden durch Felsen ersetzt, die Häuser suchten die Luft, wie Bäume, die geschlossen stehen, sie mußten an Höhe zu gewinnen suchen, was ihnen an Breite abging. Auf jede Spanne des Bodens geizig und gleich anfangs in enge Räume gedrängt, ließen sie zu Gassen nicht mehr Breite, als nötig war, eine Hausreihe von der gegenüberstehenden zu trennen und dem Bürger notdürftige Durchgänge zu erhalten. Übrigens war ihnen das Wasser statt Straße, Platz und Spaziergang. Der Venezianer mußte eine neue Art von Geschöpf werden, wie man denn auch Venedig nur mit sich selbst vergleichen kann. Der große, schlangenförmig gewundene Kanal weicht keiner Straße in der Welt, dem Raum vor dem Markusplatze kann wohl nichts an die Seite gesetzt werden. Ich meine den großen Wasserspiegel, der diesseits von dem eigentlichen Venedig im halben Mond umfaßt wird. Über der Wasserfläche sieht man links die Insel St. Giorgio Maggiore, etwas weiter rechts die Giudecca und ihren Kanal, noch weiter rechts die Dogane und die Einfahrt in den Canal Grande, wo uns gleich ein paar ungeheure Marmortempel entgegenleuchten. Dies sind mit wenigen Zügen die Hauptgegenstände, die uns in die Augen fallen, wenn wir zwischen den zwei Säulen des Markusplatzes hervortreten. Die sämtlichen Aus- und Ansichten sind so oft in Kupfer gestochen, daß die Freunde davon sich gar leicht einen anschaulichen Begriff machen können. [...]  
 [* Heute kann man die Bestände der Commons von Wikimedia zu Venedig nach Bildern wie z.B. dies durchforsten.]
Den 6. Oktober.
Auf heute abend hatte ich mir den famosen Gesang der Schiffer bestellt, die den Tasso und Ariost auf ihre eignen Melodien singen. Dieses muß wirklich bestellt werden, es kommt nicht gewöhnlich vor, es gehört vielmehr zu den halb verklungenen Sagen der Vorzeit. Bei Mondenschein bestieg ich eine Gondel, den einen Sänger vorn, den andern hinten; sie fingen ihr Lied an und sangen abwechselnd Vers für Vers. Die Melodie, welche wir durch Rousseau kennen, ist eine Mittelart zwischen Choral und Rezitativ, sie behält immer denselbigen Gang, ohne Takt zu haben; die Modulation ist auch dieselbige, nur verändern sie nach dem Inhalt des Verses mit einer Art von Deklamation sowohl Ton als Maß; der Geist aber, das Leben davon, läßt sich begreifen, wie folgt.
Auf welchem Wege sich die Melodie gemacht hat, will ich nicht untersuchen, genug, sie paßt gar trefflich für einen müßigen Menschen, der sich etwas vormoduliert und Gedichte, die er auswendig kann, solchem Gesang unterschiebt.
Mit einer durchdringenden Stimme - das Volk schätzt Stärke vor allem - sitzt er am Ufer einer Insel, eines Kanals auf einer Barke und läßt sein Lied schallen, so weit er kann. Über den stillen Spiegel verbreitet sich's. In der Ferne vernimmt es ein anderer, der die Melodie kennt, die Worte versteht und mit dem folgenden Verse antwortet; hierauf erwidert der erste, und so ist einer immer das Echo des andern. Der Gesang währt Nächte durch, unterhält sie, ohne zu ermüden. Je ferner sie also voneinander sind, desto reizender kann das Lied werden: wenn der Hörer alsdann zwischen beiden steht, so ist er am rechten Flecke.
Um dieses mich vernehmen zu lassen, stiegen sie am Ufer der Giudecca aus, sie teilten sich am Kanal hin, ich ging zwischen ihnen auf und ab, so daß ich immer den verließ, der zu singen anfangen sollte, und mich demjenigen wieder näherte, der aufgehört hatte. Da ward mir der Sinn des Gesangs erst aufgeschlossen. Als Stimme aus der Ferne klingt es höchst sonderbar, wie eine Klage ohne Trauer; es ist darin etwas unglaublich, bis zu Tränen Rührendes. Ich schrieb es meiner Stimmung zu; aber mein Alter sagte: »È singolare, come quel canto intenerisce, e molto piè, quando è piè ben cantato.« Er wünschte, daß ich die Weiber vom Lido, besonders die von Malamocco und Pelestrina hören möchte, auch diese sängen den Tasso auf gleiche und ähnliche Melodien. Er sagte ferner: »Sie haben die Gewohnheit, wenn ihre Männer aufs Fischen ins Meer sind, sich ans Ufer zu setzen und mit durchdringender Stimme abends diese Gesänge erschallen zu lassen, bis sie auch von ferne die Stimme der Ihrigen vernehmen und sich so mit ihnen unterhalten.« Ist das nicht sehr schön? Und doch läßt sich wohl denken, daß ein Zuhörer in der Nähe wenig Freude an solchen Stimmen haben möchte, die mit den Wellen des Meeres kämpfen. Menschlich aber und wahr wird der Begriff dieses Gesanges, lebendig wird die Melodie, über deren tote Buchstaben wir uns sonst den Kopf zerbrochen haben. Gesang ist es eines Einsamen in die Ferne und Weite, damit ein anderer, Gleichgestimmter höre und antworte."
(J.W.v. Goethe: Italienische Reise, Venedig)

Venedig

Der Markusplatz

Es scheint ein langes, ew'ges Ach zu wohnen
In diesen Lüften, die sich leise regen,
Aus jenen Hallen weht es mir entgegen,
Wo Scherz und Jubel sonst gepflegt zu thronen.
Venedig fiel, wiewohl's getrotzt Äonen,
Das Rad des Glücks kann nichts zurückbewegen:
Öd' ist der Hafen, wen'ge Schiffe legen
Sich an die schöne Riva der Sklavonen.
Platen
Es war Nacht geworden, als wir nach der Visitation endlich die Dogana verlassen durften. Der Ruf: »Una barca! Una gondola!« tönte von allen Seiten an unser Ohr. Wir bestiegen die zunächstliegende Gondel, der Gondolier trat auf seinen Platz hinter dem Häuschen, und der sichere Druck seines Ruders ließ uns lautlos und pfeilgeschwind durch die Lagunen schießen.
Eine Gondel! ein Gondoliere! Welch ein Zauber weht uns an aus diesen Worten! Weich und wollüstig wiegt sich die Seele in den poetischen Bildern einer fernen Zeit, wie das Schiffchen sich schaukelt auf den leise erzitternden Wellen der Kanäle.
Stolze Ritter haben das Schwert von ihren Hüften gegürtet, das Haupt von der eisernen Wucht des Helmes befreit. Unter dem Federbarett erglänzen dunkle Locken, ein schwarzer Domino umhüllt die männliche Gestalt, welche die Prachttreppen hernieder zur Gondel schreitet. Die Gitarre liegt auf den elastischen, schwarzen Polstern, das schwarzverhangene Gondelhäuschen darüber verbirgt wie ein Sarg den Glücklichen, der daraus hervorzugehen hofft zu seliger Freude.
Rasch fliegt das leichte Fahrzeug die Kanäle entlang, fort unter den dunkeln Schauern der Seufzerbrücke, vorüber an dem Lichtgeflimmer der Piazzetta; weiter, immer weiter vorwärts! Der verschwiegene Gondoliere kennt wohl sein fernes Ziel. Er hat's erreicht und hält!
Nicht an der breiten Marmortreppe des Canal Grande, wo vor dem lichtstrahlenden Palast sich Gondel an Gondel um die Befestigungspfähle reiht, welche hell leuchten in den Wappenfarben des Hohen Hauses. Tanzmusik erklingt dort aus prächtigem Saale, eilfertige Dienerschaft fliegt durch Treppen und Hallen, geschmückte Männer und Frauen stehen in den geöffneten Fenstern der Altane, Kühlung einatmend in dem frischen Nachthauch, der herüberweht vom Meere.
Nein! leise und schnell an der Prachttreppe vorüber huscht die Gondel im Schatten der Pilaster zur kleinen Hinterpforte des Palastes am Traghetto (Landeplatz). Die Gitarre erklingt, ein Fenster wird behutsam geöffnet; die Gitarre verstummt. Unhörbar schlüpft ein zarter Frauenfuß über die Quadern, noch ein Moment – und die Liebenden sind vereint, vereint unter der treuen Obhut des schweigenden Gondoliers.
Oh! welches Glück, hinauszurudern, ungesehen, unbelauscht, durch die weiten Kanäle, in herzigster Einsamkeit, Auge in Auge versenkt, Lippe an Lippe gepreßt! gewiegt von dem schwankenden Kahn in süßeste Träume, ohne Geräusch, ohne den störenden Laut von außen, so still, daß das leiseste Flüstern, daß der zaghafteste Seufzer widerklingt in der Brust des Geliebten! hinaus in die ruhenden, mondbeglänzten Fluten des Adriatischen Meeres, dem einst die Venus entstieg, die schöne Göttin der Liebe.
Gewiß! gibt es ein Paradies, ein Eden der Liebe: in einer Gondel gelangt man dahin!
Doch »Venedig lebt nur noch im Reich der Träume«! – Keine Siegesfanfaren erklingen jetzt in den Hallen der alten Dogengeschlechter, kaum ein Zitherklang unter den Fenstern schöner Frauen. Schweigend heben sich die Prachtpaläste aus den Fluten empor, welche leise anplätschern gegen die Stufen der Marmortreppen. Nur hie und da erglänzt aus hohem Gemach der Schimmer von Lichten, nur bisweilen tritt aus der Halle eines Palastes eine Gestalt hervor, steigt die Treppe hinab und verschwindet in der Gondel, welche sie lautlos entführt.
Nie habe ich auch nur in annähernder Ahnung die Vorstellung der Stille gehabt, welche uns in Venedig umgibt. Unser Ohr ist so sehr des Durcheinanderklingens von Menschentritten, Wagengerassel und Rossestampfen gewohnt, daß wir es erst dann als ein Auffallendes empfinden, wenn es einmal einen ungemeinen Grad erreicht hat. Wirkliche Ruhe, wirkliche Stille kennen wir in unsern Städten nicht. All unsere Vorstellungen davon sind bedingt. Wenn uns nun hier mitten in einer großen Stadt, mitten auf den Kanälen Venedigs vollkommene Stille umgibt, so glauben wir zu träumen, und alte Märchen von der schweigenden Königsburg, von dem schönen, im Meere versunkenen Vineta tauchen vor unserm Geiste auf, bis die Gondel uns an die Stufen der Piazzetta führt und neue Zauberbilder uns zu umgaukeln scheinen.
Es ist Nacht. Bleiches Mondlicht strahlt matt durch die Wolkenvorhänge, welche der leise Wind langsam hinwegweht, die Sterne schauen verstohlen hervor, die Wogen des Meeres ruhen, die Gondel landet an den breiten Stufen. Zwischen den beiden schönen Säulen der Piazzetta steigt man an das Ufer. Der geflügelte Löwe von San Marco und der heilige Georg, welche die Säulen schmücken, wachen über Venedig und schützen unsern Eintritt.
Ein orientalisches Gebäude liegt zu unserer Rechten. Über byzantinisch gezierten, niedrigen Säulen, welche die Bogen tragen, erhebt sich das obere Stockwerk in ganz befremdlicher Form. Die rötlich gebrannten Ziegel verschlingen sich zu geheimnisvollen Arabesken, wunderbare Gebilde ragen aus dem Marmorzierat hervor. Die hohen Fenster beherrschen den Platz und das Meer, aber sie sind von keinem Lichte erhellt, das Haus ruht im Schweigen der Nacht.
Schlummert darin die arabische Fürstin, die Abencerragen-Geliebte, welche ein neidischer Zauberer entführte? Wachen Genien darin und flüstern ihr süße Träume ins Ohr vom fernen Geliebten, der sie ersehnt in den Fontänensälen der Alhambra? – Oder ist es ein Tempel geheimnisvoller Brüderschaft, welche dem strebsamen Neophyten die Offenbarung eines unsichtbaren Gottes in mystischen Zeichen enthüllt? Wir stehen davor in staunender Betrachtung, denn – Venedigs Dogenpalast hat nicht seinesgleichen im ganzen Abendlande.
Es ist der Zauber des Orientes, der uns umweht. Wir hören Kaskaden rauschen, wir hören Palmblätter fächeln über den Polstern, auf denen die Sultanin ruht. Aufgelöst ist ihr schwarzes, flutendes Haar, das herniedersinkt über die juwelengeschmückte Brust, über die feine Hand bis hinab zu den nackten, spangenumgebenen Füßen, welche auf den golddurchwirkten Kissen ruhen. Papageien wiegen sich in goldenen Ringen, goldene Fischchen glitzern im Marmorbassin – da – erblickt man die prachtvolle Treppe – die Riesentreppe des Dogenpalastes, und – Marino Falieros schwarzes Leichentuch fällt über die lachenden Bilder des Orients.
Wir wenden unser Auge! Das Lichtgeflimmer der Läden unter den alten und neuen Prokurazien erglänzt, die Uhr in dem Uhrhause zeigt, unter dem Gold- und Ultramarinschmuck der Fassade, die zehnte Stunde. Noch ein Schritt vorwärts, und wir stehen auf den Quadern des Markusplatzes.
(Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch, Venedig)

"Die ganze Welt der Erscheinungen ist nicht dazu da, um Malern und Poeten wünschenswerte und bequem liegende Stoffe zu bieten, sondern um überhaupt zu befriedigen und zu erfreun. Das Leben stellt vielfach andere Forderungen als die Kunst, und Individuen die Staaten gehen zu Grunde, die dies übersehen. Wem diese Wahrheit zu Fleisch und Blut geworden ist, der wird auf Venedig blicken wie ich noch in der letzten Stunde auf ein wunderschönes Frauenzimmer blickte, die aus dem zweiten Stock eines halbverfallenen Hauses träumerisch-faul  mit tief und dumm schmachtendem Auge uns nachsau, als unsere Gondel an den Wasserstiegen des schmalen Kanals vorüber fuhr. Sie war so schön, wie ich selten Weiber gesehen habe und das halbgekräuselte schwarze Haar lag wie eine Mähne um sie her, mit den Spitzen nach vorn hin und über die halb entblößte Brust fallend; ich werde den Anblick nie vergessen. Aber sie war ungewaschen und ungekämmt, und nach meinem Gefühl, so wenig sie persönlich innerhalb der idealen Liebe zu stehen schien, doch nur für eine solche geeignet. Ein Wesen, nur mit dem Auge zu genießen; mit ihr zu leben – ein Gedanke nicht ausgedacht zu werden! So auch die Stadt selbst. Diese schöne, schwarzhaarige Schwester Struwelpeters, die seifenintakt auf einen gondelbefahrenen Rinnstein niedersah, war mir wie das Bild Venezias als selbst erschienen.
Eine glänzende Ausnahme macht der Markusplatz und die an ihn grenzende Piazzetta. [...]"

(Theodor Fontane an Karl und Emilie Zöllner, 10.10. 1874)

"Militärmusik erklingt. Vor der Markuskirche ragen die drei roten Mastbäume auf erzenem Sockel empor, die Trophäen Venedigs nach Eroberung der Inseln Morea, Candia und Zypern. Schiffer in dalmatischer Tracht, Landleute von den Inseln und Matrosen aus den freien Staaten Nordamerikas lagern zu ihren Füßen.

Kaffeehäuser und Luxusmagazine, wohin man blickt. Die mit Hallen überbauten Erdgeschosse sämtlicher Gebäude, welche von drei Seiten den Markusplatz umschließen, sind davon erfüllt. Der Markusplatz gleicht einem riesigen Opernsaale, und auch das Geräusch der wogenden Menge, von keinem Wagengerassel, von keinem Pferdetritt untermischt, bringt den Laut hervor, der bei einem großen, fröhlichen Feste uns aus den Sälen entgegentönt.
Der Markusplatz zeigt uns die italienische Geselligkeit und das italienische Volksleben im Freien in einem Bilde – und doch ist Venedig nicht mehr das eigentliche, südliche Italien. Venedig ist ein besonderes, liebliches Wunder, ein geheimnisvolles Rätsel, eine stolze Ruine, vom Zauber der Vergangenheit umzittert; Venedig ist ein frei gebornes, poetisches Weib unter der lastenden Herrschaft eines aufgedrungenen Gebieters; Venedig ist unvergänglich schön und doch schon Beute des Verfalles – und weil es das alles ist, ist's eben das zauberhafte, traumselige, phantastische Venedig und unvergleichlich.
Auf dem Markusplatze reihen sich Stühle an Stühle. Kellner eilen von einem zum andern, Eisgläser, Kaffeetassen und Sorbetti zu präsentieren. Knaben bieten in zierlichen Körben kandierte Früchte feil, preisen uns Muschelkästchen, Korallenspielereien, Fächer und Glasperlenschmuck zum Kaufe an, in weichem, lieblichem Dialekt. Am Arme der Männer wandeln die geschmückten Frauen auf und nieder; bedächtige Perser, schöne armenische Greise und flammende junge Griechen liegen in den offenen Sälen der Cafés oder auf den Stühlen im Freien hingestreckt und folgen, die lange Pfeife im Munde, mit den dunkeln, brennenden Augen den schlanken Frauengestalten, welche sich hier, mitten in der Nacht, mitten unter fremden Männern, fessellos bewegen.
Dort stehen östreichische Offiziere, den Stock, die Prügelwaffe, von der eingeschnürten Taille herabhängend, ein schmachvolles Ehrenzeichen; hier erglänzen Goldstücke in dem Laden eines Wechslers, und Schiffskapitäne schließen Kontrakte für die Fahrt. Bisweilen, aber selten im Vergleich zu Rom und Neapel, huscht noch ein verspäteter Mönch unter den Prokurazien dahin. Hat er Trost gebracht am Lager oder in der Hütte der Leidenden, wie fremd muß die Fröhlichkeit des Markusplatzes seine Seele berühren; hat er vom verbotenen Becher des Lebens gekostet, wie melancholisch mag das Bild des düstern Klosters ihm scheinen; wie glücklich der Weltgeistliche, der hier unter warmem Himmel frei und lächelnd das Lachen auf schönen Lippen, in blitzenden Augen erweckt.
Aus den Fenstern der Gebäude sehen wie aus den Logen eines Theaters Männer und Frauen hinab, deren Gestalten sich formenschön hervorheben auf dem Lichthintergrunde der Zimmer. Der ganze Markusplatz ist voll Menschen, wohin das Auge sich wendet; Musik umtauscht uns, man wandert fort und fort, man schwatzt, man lacht bei ihrem Klange, ob auch Stunde um Stunde versinkt und der Zeiger am Uhrhause unaufhaltsam vorrückt, man genießt, man lebt das Leben.
Es ist nach Mitternacht geworden! Der Mond ist hinabgesunken ins Meer, die Gruppen auf dem Markusplatze fangen an, sich zu lichten, man geht freier umher, die Wärme, welche die Masse hier ausströmte, wird geringer, der frische Lufthauch vom Meere macht sich fühlbar, die Gasflammen fangen an, unruhiger zu flackern. Nun erst übersieht man die Größe und Schönheit des Raumes. Man tritt an das äußerste Ende des Platzes, ihn besser zu betrachten.
Schlank und stolz hebt sich von den Quadern wie eine Riesensäule der Markusturm empor, frei und selbständig, nicht an eine Kirche, nicht an einen Palast gestützt, ein Bild der selbständigen Republik. Dahinter erglänzt es in strahlendem Goldglanz. Reich wie eine Moschee ist die Markuskirche geschmückt in aller Pracht byzantinischen Stils, und mitten aus den runden Bogen des Orients, aus ihren kioskartigen Spitzen und Wölbungen, mitten aus dem Goldlicht der Mosaiken leuchtet über das unruhige Lebensgetümmel des Markusplatzes ein ruhig Bild, beruhigend und erhebend, vom Hauptportal der Markuskirche durch die Nacht – das Bild des triumphierenden Christus, der sich aufschwingt von der Erde zum Himmel."
(Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch, Venedig)
"Von der Piazzetta, die sich nach dem Meere so lieblich eröffnet, von dem schönen Kai, der Riva degli Schiavoni, sah ich immer mit tiefer Sehnsucht hinüber nach dem Lido, den Eugen Beauharnais in einen schönen, öffentlichen Garten umgeschaffen hat. Ein Plätzchen neben einer Schifferherberge auf der Insel Giudecca, auf dem wir eines Tages unser Frühstück verzehrten, erschien mir wie ein Paradies, weil ein paar Bäume ihre Äste über unsern Tisch zur Laube wölbten und Bohnen und Kürbis sich an den Gitterzäunen emporrankten.

Den vollen Eindruck der absonderlichen Existenz in Venedig bekommt man aber erst, wenn man, den Canal Grande verlassend, in die Seitenkanäle einbiegt und nun überall neue Wasserstraßen erblickt.

Ich fuhr eines Morgens nach der Wohnung meines Bankier. Der Gondolier führte uns durch immer engere Gäßchen; nichts als Wasser und Mauern; nur hie und da ein Mensch an den schmalen Kais, nur dann und wann der Zuruf eines Gondolier aus einem Nebenkanal, seine Ankunft verkündend, um den Zusammenstoß mit andern Gondeln zu vermeiden, was bei der Länge der Fahrzeuge auf den engen Kanälen ohne dies Anrufen unvermeidlich wäre. Endlich hielten wir vor einem stattlichen Hause. Aus der Gondel langte der Gondolier nach dem Klingelzuge. Man öffnete. Das Wasser stand damals hoch und war noch höher gewesen; die ganze Treppe im Innern der Pforte war davon überschwemmt. Eine kleine Brücke, die wir überschreiten mußten, lag schräg von den ersten Stufen nach dem Hofe; aber der ganze Hof selbst war naß, das Wasser hatte Schlamm und Kehricht dort zurückgelassen, ein feuchter Dampf stieg im Sonnenschein davon empor. Und als ich nun oben diesen Bankier in Haufen Goldes wühlen sah, über Kapitalien gebietend, die ihm jeden käuflichen Genuß möglich machten, da mußte ich mich staunend fragen, was hält die Menschen in dieser widernatürlichen Existenz gefesselt, die jetzt nicht mehr ein Asyl der Freiheit ist? Was bannt sie in diese Sümpfe, während in Rom und Neapel die Erde sich neubelebt im frischeren Hauche des Herbstes?

Venedig ist ein poetisches Wunder, an dem sich die Phantasie für einige Zeit mit Freude ergötzt, aber ich wiederhole es, es ist kein Aufenthalt, den ich für längere Zeit ertragen oder erwählen würde, so vielfach man mir Venedig grade in diesem Sinne angepriesen hatte.

Bedurfte ein Volk der bildenden Künste, die Seele zu erheitern, so waren es die Venezianer. Die Kunst mußte ihnen zum einzigen Troste werden, ihre Seele mußte sich leidenschaftlich derselben zuwenden, und es ist natürlich, daß sie Stadt und Wohnungen zu schmücken strebten, als Ersatz für den Mangel an schöner Natur.

Zu der Kunst, zu der großen Vergangenheit Venedigs flüchtet man sich; in ihr lebt der Fremde den Tag hindurch, bis abends sich die Gasflammen auf dem Markusplatze und der Piazzetta entzünden und die süßen, gaukelnden Märchen uns wieder einspinnen in bunte, phantastische Bilder.

Nirgends sonst greifen Kunst und Geschichte so unauflöslich fest und enge ineinander als in Venedig. Der Dogenpalast, die Prokurazien, der Markusturm, die Piazzetta, die Löwen vom Piräus, welche den Eingang des Arsenales zieren, alle diese Denkmale von der tatkräftigen Vergangenheit der Republik, wir finden sie wieder in den Bildern, mit welchen die Säle jener Gebäude geschmückt sind. Die Helden, deren Taten von Meisterhand an den Wänden des großen Rates gemalt sind, landen auf den Bildern mit ihren Galeeren unter den Fenstern eben dieses Dogenpalastes. Venedigs Künstler brauchten nicht in eine ferne Vorzeit zu greifen, um Motive zu finden. Die Republik, deren Bürger sie waren, bot ihnen in ihren Siegen den Stoff; schöne Frauen wandelten in Fülle auf den Quadern des Markusplatzes einher; das Gefühl der Freiheit, der Selbstherrschaft prägte jeden Bürger, wie die alten Porträts es beweisen, zu schöner, männlicher Individualität aus; man malte die Gegenwart, deren Dank man empfing, zum Fortleben in der Nachwelt.

Diesem Zusammenwirken entsprangen denn auch die lebensfrischen Schöpfungen eines Tizian, eines Veronese, Piombo und anderer, die das kräftige Lebenselement selbst in die Schilderungen des Jenseitigen übertrugen. Sie stehen dadurch, dünkt mich, in der Auffassung biblischer Gegenstände unserer Zeit viel näher als selbst Raffael und die andern ältern Meister, welche spiritualistischer zu Werke gegangen sind als jene.

Raffael, im Dienste der Kirche malend, strebte in der Darstellung von biblischen Motiven des Neuen Testamentes nach dem Übersinnlichen, Unirdischen, nach dem Mythischen; er entsinnlichte das Körperliche, der Askese des Christentums zu Ehren. Die Venezianer hingegen, gewohnt, zu Ehren des freien Vaterlandes tüchtige Menschen zu malen, inmitten eines politisch und merkantilisch reichen Lebens, behielten beständig die Wirklichkeit als gesunden Boden und stellten, was naturgemäß ist, das Übersinnliche sinnlich dar.

In diesem Geiste hat Tizian eine Himmelfahrt Christi, Veronese eine Verkündigung gemalt, die mir einen unauslöschlichen Eindruck gemacht haben, während sonst der Verstand sich gegen das Wunder empört, das in der bildlichen Darstellung uns seine physische Unmöglichkeit aufdringt.

Jener Christus trägt das Gepräge urkräftigster, männlicher Begeisterung in sich, welche aus sich selbst heraus Wunder zu wirken vermag. Er ist das Symbol des Geistes, der sich über die Erde erhebt, und der ihm innewohnende Gott hat wundertätige Willenskraft.

Christus ist abgeschlossen in sich. Die linke Hand zeigt nach der Erde, auf der er sein Werk vollendet hat; die rechte hebt sich zum Himmel, von jener Willenskraft des Geistes beseelt, die das Unmögliche möglich macht. Er glaubt an die Kraft seiner Seele, er will sie benutzen, zum Lichte empor zu dringen; und dem riesigen Wollen gehorsam, hebt ihn der Geist empor. Nur die Spitze des rechten Fußes berührt noch die Erde, nur noch scheinbar gehört er dem Irdischen an, und schon – eben nur dem herabziehenden Gesetz der Schwere entrückt – bemächtigt die Luft sich seiner weiten, weißen Gewänder, und das reine Element trägt ihn empor über die Atmosphäre der Erde zum Äther, zum Licht. Der Geist des Menschen und das Element der Natur wirken in Übereinstimmung das Wunder. Das ist schön und wahr zugleich.

Ebenso tief ist Veroneses Verkündigung, ein Gegenstand, an dem seines Mysteriums wegen die Mehrzahl der Maler gescheitert ist. Die alten Meister, wie Fiesole, finden sich noch am besten darin zurecht. Der blonde Engel mit dem Lilienzweig, die Jungfrau mit den gesenkten Augenlidern knien sich in bewußtloser Unschuld und Demut gegenüber und sehen gewöhnlich beide ziemlich nichtssagend aus; die Jungfrau sogar oftmals ganz verwundert. Aber die Unschuld soll, wie Hebbel das so schön ausdrückt, an der Liebe sterben! Sie soll sterben, nicht verwundert in Resignation versinken.

Der gesunde Veronese rettete sich vor dem Wunder in die Allegorie und schuf ein Bild, das jedem fühlenden Menschen das Herz bewegt. In gewaltiger, räumlicher Architektur, in einer großen, offnen Halle richtet sich die kniende Jungfrau vor ihrem Betpulte empor, da in der äußersten Linken des Bildes ihr der Engel der Verkündigung erscheint. Der Engel blickt sie ruhig an, ihr Gesicht ist von aufzuckender Seligkeit überstrahlt; die heilige Ahnung des Mutterglückes kommt über sie, und nicht absichtslos steht der Engel der Verkündigung so fern von der Jungfrau, die noch eine lange Zeit banger Hoffnung von der Erfüllung trennt. Es ist eines der einfachsten Bilder, das man denken kann, und doch so tief ergreifend, weil das biblische Wunder zurückübersetzt ist in das heilige Wunder der Natur.

(Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch, Venedig Tageslicht)


15 Juli 2020

Neapel

Der Ausspruch, man müsse, um behaglich zu leben, den Winter in Petersburg und den Sommer in Neapel zubringen, hat sich mir zur letztern Hälfte als Wahrheit erwiesen. Mit der ersten Sommerwärme verschwinden aus allen Zimmern die Teppiche, die Fenstervorhänge und Portieren. Man entfernt selbst die Polstermöbel, soweit es tunlich ist, und sucht sie durch Rohrsessel zu ersetzen. [...]
Wer es irgend möglich machen kann, beginnt den Tag mit einem Seebade. Wie allgemein diese Sitte verbreitet ist, davon kann man sich morgens an der Riviera di Chiaia überzeugen, wo von fünf bis zehn Uhr Scharen von Menschen aus allen Ständen nach den zahlreichen Badeanstalten hinströmen. Dem Seebade folgt das Frühstück, dem in vielen Häusern schon Früchte und Eiswasser beigesellt werden. Nach demselben hält man sich, wenn man nicht durch Geschäfte zum Ausgehen gezwungen ist, in seinen Zimmern, und es möchte nicht viele geben, welche während der Mittagszeit dem Schlafe widerstehen können. Wenn wir von der Siesta sprechen hören, so denken wir uns, daß man sich um die Zeit gehörig zur Ruhe lege, und das kommt uns unnatürlich und komisch vor. Lebt man aber im Süden, wo man zeitig aufsteht und die halbe Nacht im Freien zubringt, dann macht es sich ganz von selbst, daß man sich gegen die Höhe des Tages für ernste Beschäftigung zu abgespannt fühlt, eine leichtere Arbeit wählt und bei dieser einschläft, ohne daß man es will und bemerkt. So verträumt man eine Stunde und erwacht, nachdem man ganz aus dem Stegreif auf gut italienisch seine Siesta gehalten hat. [...]
Wenn man vom Toledo ins Theater gefahren ist und dort einen oder ein paar Akte mit angesehen hat, so ist es etwa zehneinhalb Uhr und nach neapolitanischen Begriffen noch nicht zu spät, Visiten zu machen. Einzelne Häuser empfangen an bestimmten Abenden der Woche, andere täglich. Man plaudert, musiziert sehr viel, und die Anwesenheit der zahlreichen Fremden von allen Nationen nimmt der Unterhaltung jenen kleinlichen Koteriegeist, der bald so ermüdend wird. Wohin man kommt, sind alle Fenster der Wohnung geöffnet, und alle Damen sitzen mit Fächern in den Händen, die hier keine Modesache, sondern eine Notwendigkeit sind. Selbst im engen Familienleben hat jede Frau einen kleinen, grünen Fächer neben sich. Man vermißt ihn, wenn man ihn nur kurze Zeit entbehrt. Dies Umherfahren dauert von sieben Uhr abends bis nach Mitternacht in Neapel, und die Nächte sind so schön, daß man jedesmal aufs neue erquickt wird, wenn man von einem Besuche in den Häusern wieder auf die Straße zurückkehrt. [...]
Einer der Männer aus unserer Gesellschaft ging hinein, das Abendbrot anzuordnen, während wir die Wagen verließen, um die Boote zu besteigen. Das Meer war glatt und glänzend wie ein Spiegel, kein Luftzug bewegte seine Oberfläche, so daß die Gestirne ganz hell aus der Tiefe widerstrahlten und man sich wie zwischen zwei gleichen Elementen geschaukelt empfand; denn Meer und Luft waren beide gleich dunkel und beide mit Myriaden leuchtender Sterne durchfunkelt. Langsam glitten unsere Boote über die Wasserfläche dahin, nur der leise Schlag der Ruder störte die Stille. Der Mond stand hoch am Himmel und vergoldete mit seinem Lichte die Rauchsäule des Vesuvs, die sich ruhig zum Himmel hinaufkräuselte. Aus den Villen am Ufer blinkten die Lichter durch die geöffneten Fenster und von den weinumrankten Verandas hervor. Eine große, breitblättrige Palme bewegte ihre Blätteräste langsam unter dem linden Hauche der Nachtluft. Zahlreiche Fischerkähne zogen neben uns und in jeder Richtung durch das Wasser. Viele führten eine brennende Fackel am Vorderteile aufgesteckt, um die lichtliebenden Hummern herbeizulocken. Die dunkelrot glühenden Flammen hatten in der ruhigen Natur und bei dem milden Strahl des Mondes etwas Wildes, Dämonisches. »Sie sehen wie die Seelen der Verdammten aus, die nicht Ruhe finden zwischen Himmel und Erde«, sagte der Herzog von R., ein geachteter Staatsmann und Dichter Spaniens, der in der Gesellschaft war. [...]
Als wir vor unserer Osterie landeten, war unter dem Blätterdache der Veranda die Abendtafel gedeckt. Nur echt neapolitanische Speisen wurden aufgetragen. Eine Suppe von Schnecken und Muscheln machte den Anfang. Frutti di mare (Austern und kleine Schaltiere), Makkaroni, Hummern, grüne Salate, Fische, Ziegen- und andere Braten folgten, und Apfelsinen, Feigen, Pfirsiche und Trauben bildeten in Begleitung von Capri- und Falerner Weinen den Schluß des Mahles, das für den ungewohnten Gaumen in der Schneckensuppe, dem Ziegenfleisch und manchen andern Herrlichkeiten Neapels zwar wohlschmeckende, aber doch ziemlich unverdauliche Elemente darbot. Alle Speisen waren sehr fett, viele mit Käse gewürzt. Schon während wir bei Tische saßen, hatten sich drei Gitarrenspieler eingefunden, welche die bekanntesten Nationalmelodien dreistimmig spielten. Als wir vom Mahle aufstanden, fing einer der Musiker, ein Greis von kräftiger Physiognomie, Buffoarien zu singen an und begleitete diese mit so lebhaftem Mienenspiel und so ausdrucksvollen Gebärden, daß ich den Inhalt erraten konnte, obschon ich aus dem neapolitanischen Patois nur einzelne Worte erkannte. [...]
Mitten in diesem Gesange fingen die beiden jüngeren Begleiter des Alten an, ihn halb singend, halb sprechend zu begleiten, und es bildete sich dadurch ein in gewisser Art improvisiertes Intermezzo, das diejenigen, welche es verstanden, sehr belustigend fanden. Der Liebeshandel eines betrogenen Alten war der Inhalt desselben. Das Ganze währte ein paar Minuten und schloß, indem die drei Musiker die Tarantella zu spielen begannen. Sogleich traten eine junge Russin und ein Spanier auf der Veranda zum Tanze an. Ein andres Paar folgte, man brachte ihnen Kastagnetten, und fröhlich klang der Rhythmus dieses einfachen Instrumentes durch die Luft. Die jüngern Personen versuchten eine Galoppade, als die Tarantella beendet war, die Lust und das Lachen wurden allgemein. Unten vor der Türe der Osterie bewachten Stallbuben die Pferde und Wagen der Gesellschaft, während die Kutscher und Diener die Röcke abgeworfen hatten und ebenfalls nach dem Takte der Kastagnetten tanzten, welche ihre Herrschaft auf der Veranda erschallen ließen. Aber während des Tanzes zog ein leiser, frischer Hauch durch die Luft, der Morgenwind verkündete den Anbruch des Tages. Die Fackeln auf den Fischerbooten erloschen, der Mond sank dem Meere zu, und lichte Streifen wurden am östlichen Himmel sichtbar. Es mochte gegen drei Uhr sein, als wir uns zur Abfahrt rüsteten.
(Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch, Ein Souper am Posilip)

14 Juli 2020

Francesca Francesca Melandri: Alle, außer mir

Francesca Melandri: Alle, außer mir

Es gibt Bücher, die lese ich am besten, indem ich sie immer wieder einmal nach dem Zufallsprinzip aufschlage. Dazu gehören Musils "Mann ohne Eigenschaften" und Joyce' "Ulysses", denn ich will mir nicht die Mühe machen, ihr Kompositionsprinzip zu erschließen.
Francesca Melandris: Alle, außer mir lese ich zwar auch nach der Methode. Das liegt aber daran, dass es so geschrieben ist, dass jede Passage reizvoll bleibt, auch wenn sie für sich steht.
Und bei Gelegenheit werde ich einmal dem Perlentaucher-Link folgen und prüfen, ob ich vielleicht trotzdem systematischer lesen will.

Jetzt ist die Gelegenheit: 
Melandri "stellt die Schlüsselfragen unserer Zeit: Was bedeutet es, zufällig im "richtigen" Land geboren zu sein, und wie entstehen Nähe und das Gefühl von Zugehörigkeit?" (Klappentext)
"Sie erzählt von den Spätfolgen des Angriffs auf Äthiopien und schildert aktuelle Entwicklungen, die vor allem schockieren, weil die Parolen der Rechten von heute so sehr an damals erinnern." (Die ZEIT, 12.7.2018)
"Und das "richtige Blut" ist es wiederum, das heute allen fehlt, die siebzig Jahre später aus den von Bürgerkriegen und Gewaltherrschaft verheerten Staaten Afrikas fliehen. Ebenso wie "der Junge", in dessen Pass ja der Name Attilaprofeti steht. In Äthiopien drohen ihm, einem Lehrer, wie so vielen regimekritischen Bürgern, Verschleppung und Hinrichtung. Sein Cousin wurde totgefoltert, er selbst musste "raus": das lapidare Kürzel für eine jahrelange Flucht, erst nach Norden durch die Wüste, dann in die Hölle eines libyschen Lagers, übers Meer bis an die Küste Italiens, wo nach monatelangem Warten in wenigen Minuten sein Schicksal, die Ablehnung des Asylantrags, entschieden wird. [...] Deutschen Lesern muss dieses fiktiv-reale Bild einer westlichen Demokratie nahegehen, dieses Italiens, das sich mit der Wahl einer rechtspopulistischen Partei den alten Dämonen heute wieder an den Hals wirft: "Plötzlich hörte man Sachen, die fünfzig Jahre lang ein nostalgisches Schattendasein geführt hatten. Meinungen, die für jedermann mit demokratischen Ambitionen unaussprechlich waren, erklangen in den Äußerungen der höchsten institutionellen Ämter. [...] Francesca Melandri verknüpft auch in ihrem dritten Roman Privates und Politisches in einer Geschichte der Gewalt. In Eva schläft von 2010 war es die Zwangsitalianisierung Südtirols, in Über Meereshöhe aus demselben Jahr der Terror der "Brigate rosse". In Alle, außer mir flicht sie die unterschiedlichen Erzählstränge und wechselnden Perspektiven in ein Gerüst aus versetzten Zeitebenen zusammen. Deutschen Lesern muss dieses fiktiv-reale Bild einer westlichen Demokratie nahegehen, dieses Italiens, das sich mit der Wahl einer rechtspopulistischen Partei den alten Dämonen heute wieder an den Hals wirft: "Plötzlich hörte man Sachen, die fünfzig Jahre lang ein nostalgisches Schattendasein geführt hatten. Meinungen, die für jedermann mit demokratischen Ambitionen unaussprechlich waren, erklangen in den Äußerungen der höchsten institutionellen Ämter."
Francesca Melandri verknüpft auch in ihrem dritten Roman Privates und Politisches in einer Geschichte der Gewalt. In Eva schläft von 2010 war es die Zwangsitalianisierung Südtirols, in Über Meereshöhe aus demselben Jahr der Terror der "Brigate rosse". In Alle, außer mir flicht sie die unterschiedlichen Erzählstränge und wechselnden Perspektiven in ein Gerüst aus versetzten Zeitebenen zusammen." Die Lebenslügen des Signor Profeti Die ZEIT 29/2018 12.7.18)

"Melandris Roman stößt tiefer in die Vergangenheit vor als die Romane von Elena Ferrante, versichert  Geißler, die aber auch die Gegenwart sehr verstörend verhandelt sieht."(FR 11.7.18)