26 Juli 2020

Wilhelm Raabe: Das Horn von Wanza

Das Horn von Wanza, laut Wikipedia, "von Wilhelm Raabe auf dem Höhepunkt seiner Erzählkunst" geschrieben, zeigt in komprimierter Form die großen Stärken und die gewissen Fragwürdigkeiten von Raabes künstlerischer Leistung.
Er zeigt auf, wie sehr Menschen von der Gesellschaft ins Abseits gedrängt werden und wie viel Humor (würdevolles Ertragen von Benachteiligung oder auch der allgemeinen Lebensrisiken ) ihnen das Leben abverlangt.
Dabei trifft allerdings die Kritik an der Gesellschaft des öfteren zu pauschal Gruppen, die ihrerseits mehr Verständnis verdienten. So im Hungerpastor den jüdischen Gegenspieler des Helden. 
Doch gerade dadurch, dass sie so pauschal bleibt, bleibt der einfühlsame Blick auf die Benachteiligten im Zentrum.
Wohl unvermeidlich ist dabei, dass die positiv gesehenen Personen nicht ganz realistisch, sondern eher als liebenswürdige Eigenbrötler erscheinen.

Doch am besten liest man Raabes Texte selbst. Die folgenden Zitate sollten wegen ihrer Unvollständigkeit zu einem genaueren Blick anregen:


»Sieh, Grüner, das ist grade das Scheußliche an diesen Klassikern: von Weisheit quellen sie über, die wunderbarsten, praktischsten Ratschläge geben sie einem – aber gebrauchen kann man nichts davon. Es ist zu lange Zeit her, seit sie verständige Menschen waren; und wir – wir sind vermittelst unserer höhern Bildung, Tugend, Sitte und gottverdammten, verfluchten modernen Feinfühligkeit allzusehr in das ausgeartet, was sie mit dem Sammelwort ›pecus‹ bezeichneten.« [...]
Sie näherten sich jetzt allmählich der Stadt. Gartenmauern, Gartenhecken und Gartenhäuschen traten an die Stelle der Ackerflächen; und mit dem Bürgermeister ging etwas Merkwürdiges vor. Er wurde von Schritt zu Schritt mehr ein ganz anderer! Mit immer wachsendem Erstaunen beobachtete der jüngere Studiengenosse stumm das sich entwickelnde Phänomen. Der weise Seneka fing an, mit steifen Schritten seinen nicht wegzuleugnenden Bauch vorwärtszutragen. Er rückte seinen Halskragen zurecht, er schlug sich mit dem Taschentuch den Staub von den Stiefeln, er stieß den Stock gravitätisch auf, und das drolligste war, daß er sich des erstaunlichen Eindrucks, den er auf den jüngern Kommilitonen machte, bis ins Innerste seines Gemütes bewußt war und – gar keine Freude daran hatte. Äußerlich mit würdigster Miene, wimmerte er leise zur Seite hin: »Anständig, Grünhage! Es ist schauderhaft, aber – ich sitze ja doch nun mal drin. Grüner, bleib du so lange als möglich draußen; aber betrage dich jetzo auch – so anständig als möglich – uhhh!« [...]
»Knabe, hier höre ich mich selber sprechen!« rief der Wanzaer Bürgermeister mit würdigster Selbstbefriedigtheit. »Die letzten Worte hättest du nicht geredet, ohne zu meinen Füßen gesessen zu haben! Halte dich fernerhin an gute Muster, junger Mensch. Bedenke, wie oft der Lucius Annäus den Epikur als das Seinige zitiert. Überlege, wie es immer der Gipfel der Weisheit gewesen ist, seinen Stoikermantel mit dem fröhlichen Purpur des Vergnügens an der Welt zu färben, und vor allen Dingen nimm jetzt diese etwas steile Treppe die Versicherung mit hinauf, daß es mir von Stufe zu Stufe immer klarer wird, daß du mir als eine wahre Erquickung hierher nach Wanza geraten bist. Alter Junge, da hat man als hiesiger Bürgermeister endlich mal wieder was, woran man Anteil nehmen kann, ohne den Wunsch zu äußern, sich einen Sklaven für die Langweilerei halten zu können! – [...]
Meine Mutter hat geschluchzt, Lucie Tewes hat geschluchzt; aber mein Vater hat gar nichts gesagt, und das war das schlimmste, denn er redete am deutlichsten mit jedem seiner Schritte durch die Stube, und wie er nach den Stubengeräten tastete in seiner Unruhe. Ich aber habe gemußt! Und das Müssen ist mir wie im Traum gekommen, aber mein ganzes Leben lang eine Wirklichkeit gewesen. In der Nacht nach Pfingsten neunzehn bin ich eine Braut geworden durch meines Vaters Geige! Er hat mich in jener Nacht und der einzigen Bedenkzeit, die mir vergönnt war, in mein ehelich Leben hineingespielt. Ich konnte das aus seiner Kammer her über meinem Kopfe nicht anhören und aushalten!... Wir konnten alle nichts dafür, daß es so sein mußte; und, liebe Jungen, was hat es denn auch viel geschadet heute? Daß ich nicht zugrunde gegangen bin durch unsern Hunger und die Zuneigung meines verstorbenen Mannes und des Vaters Geigenspiel in der Pfingstnacht und der Mutter Wehmut am Hochzeitsmorgen, das habt ihr ja heute abend, wie ich hier auf dem Sofa mit meinem Strickzeug sitze, vor euch! Es hat wohl schon eher ein achtzehnjährig jung Mädchen einen tapfern Soldaten und halbwilden Menschen von dreißig Jahren gefreit und ist mit dem Leben davon- und in ein hohes Alter gekommen. Und daß ich mir halb wie ein Opferlamm vorkam, tat damals gradesoviel wie heute noch in der Mädchen Gemüte zu einem weinerlichen Ja!  [...]
Annähernd mit den Gefühlen jenes Schlauesten unter den Rolandsknappen des alten Musäus sah sich der Gast jetzt doch das Losament genauer an. Mit seinem Leuchter in der Hand stand er in einer vollständig leeren Giebelstube. Vollständig leer bis auf einen alten Lehnstuhl und ein Tischchen am Fenster. Er leuchtete in die Kammer und verwunderte sich, als er doch ein frisch aufgeschlagen Bett, einen Waschtisch und zwei Stühle unter dem schräg abfallenden Dache erblickte. »Hm«, sagte er und versuchte, die Sache von der gemütlichen Seite aufzufassen, »ihr Wort habe ich wenigstens, daß ich nicht für den Bratspieß oder den Backofen bestimmt bin; und – krumm auf einem Sofa ist gerade auch kein Vergnügen, zumal wenn man den weisen Seneka aus dem weichen Bett nebenan in seinen Rückenschmerz hineinschnarchen hört!« [...]
Praktisch gescheit sahen sie auch beide aus, Marten Marten und die Tante Sophie. Mit der Photographie oder derartigen modernen Kunststücken war beiden nicht recht beizukommen; aber da existiert in Neu-Ruppin ein Mann, der könnte es vielleicht. [...]
Und wer der alten Bildermacherfirma zu Neu-Ruppin einmal einen Gefallen tun kann, der tue es auch um des Meisters Marten willen! [...]
Kind, Kind, ich will euch gewiß nicht das Recht nehmen, in den Tagen zu leben, wie sie jetzt sind, und auf sie zu schwören; aber manchmal meine ich doch, ein wenig mehr Rücksicht auf das Alte könntet ihr auch nehmen. [...]
Ich bin nur eine alte Frau und kann mich also täuschen; aber – Kind, Kind, scheinen tut es mir doch so, als ob die Welt von Tag zu Tag schriller würde und ihr es gar nicht abwarten könntet, bis ihr sie auf dem Markt, in den Straßen und auf dem Papier am schrillsten gemacht habt. [...]
Und du hast mir aus der Seele gesprochen! Ja, die Welt wird schriller von Tag zu Tag. Das Horn des Meisters Marten Marten haben sie abgeschafft, weil es ihnen viel zu sonor durch die Nacht klang, und aus der deutschen Sprache streichen sie nicht nur hier und da das h oder sonst einen Konsonanten, nein, am liebsten rissen sie ihr jeglichen Vokal aus dem Leibe, um nur den durcheinanderklappernden Klempnerladen, wozu sie doch schon Anlage genug hat, aus ihr fertigzumachen. Wie Johann Balhorn und nach ihm der Kandidat Jobs verbessern sie das Abc-Buch, indem sie dem biedern, ehrlichen Hahn davor die Sporen nehmen, aber ihm ein Nest mit einem von ihren faulen Eiern unter den Schwanz schieben. Und die heutigen Ohnewitzer scheinen sich das wirklich gefallen zu lassen.« [...]
Wenn wir aber nicht gleichfalls, äußerlich sehr kühl, innerlich vor Aufregung schwitzen, so ist das nur, weil wir an derlei Aufregungen schon seit lange und von mancher gar nicht übeln Berichterstattung über der Menschheit Haushaltsangelegenheiten auf dieser armen reichen Erde her gewöhnt sind. [...]
›Du siehst ja gottlob ganz würdig und präsentabel aus!‹ hat sie auch gehohngrient, die alte Spitzbübin!« »Hohngrienig« sah die Tante Grünhage um drei Viertel auf elf Uhr nicht mehr drein. [...]

Wilhelm Raabe: Das Horn von Wanza (Text), 1881

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