31 Januar 2021

Alexander Solschenizyn : August Vierzehn

Alexander Solschenizyn:  August Vierzehn

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Zitate:

"Übrigens, eines war Isakij angenehm: aus irgendeinem Grund unterschied ihn die Dorfmeinung von den anderen Studenten und nannte ihn – gleichfalls spottend – Narodnik. Wer ihn auch als erster den Namen angehängt haben und wie ist dazu auch gekommen sein möchte – jedenfalls nun ihn alle und jeder Narodnik. Es gab in Russland schon längst keine Narodniki mehr, aber Isakij, obwohl er nie gewagt hätte, es laut zu gestehen, verstand sich wohl selbst eben als Narodnik– der sein Studium für das Volk betreibt und zu dem Volk zurückgeht mit dem Buch, mit dem Wort und mit Liebe.

Aber selbst in der eigenen Familie war diese Rückkehr fast unmöglich. Die Anschauungen die sich Isakij zu eigen gemacht hatte, nach der Lehre des Grafen Tolstoij, gründeten in Wahrheit und Gewissen – und im Umgang mit der Familie führten sie in die Lüge. Denn es war unmöglich, dem Vater klarzumachen, dass der Gottesdienst eine Farce sei, eine Herabwürdigung des Glaubens – bei manchen Popen sogar widerliche Verhöhnung – und dass er, Isakij , zwar in die Kirche gehe um den Vater in der Staniza keine Schande zu machen, aber am liebsten nicht hin ginge. Ebensowenig konnte Isakij, nachdem er Vegetarier geworden war, dem Vater und den Verwandten klarmachen, dass dies ein Gewissensentschluss sei: Lebendes soll man nicht töten, deshalb soll man es auch nicht essen – Hohn und Sport hätte es in der Familie und in der Staniza gegeben. Darum log Isakij: fleischlose Kost sei die neueste medizinische Erfindung eines Deutschen, garantiere langes Leben, und er wollte das ausprobieren. Die Lüge drückte, quälte ihn – aber ohne sie wäre es noch schlimmer gewesen." (Alexander Solschenizyn : August Vierzehn, S. 13/14)

Über die russische Armee:

"Denn die Treppe ist so eingerichtet, dass nicht die Willensstarken, sondern die Schlappen, nicht die Klugen, sondern die Diensteifrigen auf ihr steigen. Wenn man sich streng nach Vorschrift, Direktive und Befehlen verhält und einen Misserfolg, eine Niederlage erlitten hat, aufs Haupt geschlagen wurde, den Rückzug antreten, fliehen musste – niemand wird einen Vorwurf machen! Und man selbst braucht sich nicht den Kopf zu zerbrechen: wie ist es zu der Niederlage gekommen? Aber wehe, wenn du dich über einen Befehl hinweggesetzt, wenn du nach eigener Einsicht, aus eigenem Mut gehandelt hast – dann wird man dir sogar den Erfolg nicht verzeihen, und bei einem Misserfolg machen Sie dich fertig." (S.142/43)

"Kein Korken am Korkenzieher wird ärger geschraubt als Martos durch diese Antwort! Er warf das Fernglas hin, rannte vom Speicher herunter, lief zwischen den Kiefern hin und her, die Anhöhe hinauf und hinab, schimpfte vor sich hin, verwünschte alles und konnte seinen Beinen nicht Einhalt tun. Er machte nicht den Fehler anzunehmen, seine Bitte sei tatsächlich dem Oberbefehlshaber vorgetragen und in dessen reichlich massivem Kopf nach allen Seiten erwogen worden, mit der Absicht der Initiative des unentschlossenen Klujew nichts in den Weg zu legen. Nein, hier zeigte sich Postowkijs Tintenblut und Löschblattseele, seine Angst, von der vorgestrigen Direktive abzuweichen, und seine jämmerliche Wichtigtuerei, unbefugt im Namen des Oberbefehlshabers zu sprechen." (Alexander Solschenizyn : August Vierzehn, S. 355)

General Samsonow bemüht sich einzuschlafen und betet. Da hört er eine prophetische Stimme: "Du wirst entschlafen."  Er fühlt, was ihn retten kann: In den Kampf reiten, statt fruchtlos nachzudenken.

Zitat:
"Wie günstig könnte sich noch alles wenden! Welch eine Befreiung! – Nicht mehr als Gefangener des Stabes und des Telegrafenapparates im Zimmer herumsitzen zu müssen, sondern nach vorne zu reiten und zu handeln! Er hätte das schon gestern tun sollen! Ein so einfacher Gedanke! Bei dieser Gelegenheit wird er auch Knox los. Er ist nicht dumm und wäre ein guter Geschützführer geworden, stattdessen fuchtelte er mit seinem Stock in der Luft herum.
Der Oberbefehlshaber befahl, den Stab zu wecken. In Bjelostok schlafen sie lange. Der LEBENDE LEICHNAM* wird es schon merken, wenn er aufwacht – keine Verbindung, kein Samsonow, niemand mehr da, den er belehren kann.
Befreiung!
Aber sie brauchten doch noch zwei Stunden wie die Weiber. Die Stabsdienstgrade wachten langsamer auf und begriffen schwerfälliger als der Oberbefehlshaber." (S.404)

*Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe der Nordwestfront Shilinskkij

Bloß am Morgen hatte Sascha diese seltsam freudige, wild freudige, diese animalisch freudige Empfindung des SIEGES gehabt – eines Sieges über wen? … Eines Sieges wozu? Dieses tierische Gefühl hätte er sich lange nicht verziehen, wäre es in wenigen Stunden nicht von selber verflogen gewesen
Was hatte dieser Sieg ihrem Regiment eingebracht, außer der Kolonne Gefangener und eroberten Geschützen? Nichts. Und er konnte auch nichts einbringen. Er hatte die Qualen nur verlängert und neue Opfer gefordert. [...]
Es wurde die ganze Zeit heftig geschossen, aber zuweilen verdichtete sich das Geschützfeuer zu einem Gewitter. Innerlich leer, mit müdem, erschlafftem Intellekt, sich selber fremd und zuwider, hatte Sascha die Hoffnung aufgegeben, den Abend noch zu erleben. Er krümmte sich in dem nicht voll ausgebauten Graben, sich selbst für verachtend,  Als Kanonenfutter, und auch jenes Kanonenfleisch verachtend, das an ihm selbst war.  Was war von den anderen zu erwarten, die unentwickelte Analphabeten waren, wenn er, ein aktiv denkender Mensch, nicht mehr weiterwusste, all dem nichts entgegenzusetzen hatte, sondern in diesem flachen Loch kauerte, den Kopf zur Sicherheit zwischen den Knien, und den ganzen Tag nur darauf wartete, ob es ihn erwischte oder nicht erwischte, passiv und sogar schon ohne Lebenswillen. (S. 542)


Zudem konnte Sascha gleich nach den ersten Minuten feststellen, dass dieser Oberst mit seiner klaren Stirn einen Unteroffizieren sehr seltenen Typ vertrat: er war ein, wie es schien, wirklich gebildeter und intelligenter Mensch. Andererseits, wenn er wirklich gebildet war und auch noch Befehlsgewalt hatte – wie konnte er dann dem dunklen, dumpfen wilden Willen dieser unzivilisierten Reservisten aus den finsteren Ecken Russland willfahren? Mochten Sie noch die Fahne als etwas Wichtiges retten wollen – diesen Staatslappen, den kein Mensch braucht und über den jeder längst lacht, sie wog wenigstens nichts und bot Ofrosimow einen günstigen Vorwand, sich selber schleppen zu lassen. Aber:
"Herr Oberst! Warum einen Toten mitschleppen? Das ist doch primitiv."
Sie gingen als erste, hören können hätte sie nur jener dritte Kopf dicht über ihren Schultern, der, mit dem Nacken nach unten, bei jedem Schritt schaukelte. Worotynzew antwortet er nicht.
"Was hat was hat das mit dem modernen Krieg zu tun?" Sascha wurde dreister./
Er hatte lebendige, kluge Augen, vor denen eine platte Kommissparole nicht angebracht war. Aber Worotynzew verfügte über ein Register, das auch solche Augen blinzeln ließ:
"Der moderne Krieg erwartet Sie an der Chaussee, Fähnich. Sie sollten vorher überlegen, womit Sie schießen werden. Mit Ihrer Knallbüchse werden Sie nicht viel ausrichten."
Vielleicht war das richtig, aber es war trotzdem ein Ausweichen. (S.607/08)

[...] "Differenzen zwischen den Parteien, sagen Sie? Die sind Schaum?" Sascha war verblüfft, er stolperte und wand sich unter seiner Stange. Zwei oder drei Wege der Widerlegung boten sich sofort an, aber der beste war der Angriff: "Und die Differenzen zwischen Nationen? Die sind kein Schaum? Wir führen doch deswegen Krieg! Welche Differenz ist denn überhaupt wesentlich?"
"Zwischen Anständigkeit und Unanständigkeit, Fähnrich", antwortete Worotynzew noch knapper.(S. 608)

(Die Beerdigung des Obersten) (S.610-615)

Mein Eindruck nach der bisherigen Lektüre ist, dass Solschenizyn bewusst an die von Tolstoij mit "Krieg und Frieden" gesetzte Tradition der Verherrlichung Russlands und seiner Bevölkerung anknüpft, nur dass er nicht den ausländischen Eindringling, sondern die russische Führung der Zeit kritisiert. Dass das nicht zu seiner konsequenten Kritik des sowjetischen Regimes passt (die im Westen so gern gesehen wurde) liegt auf der Hand. Es passt aber sehr wohl zu Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch.

Besonders die Hilflosigkeit der russischen Truppen im Krieg ist atmosphärisch dicht beschrieben, daneben wird aber auch über die Unsicherheit der deutschen Seite berichtet, die sich vergeblich klar darüber zu werden versucht, was die widersprüchlichen Aktionen der Russen zu bedeuten haben.

Das rote Rad (https://de.wikipedia.org/wiki/Das_rote_Rad)

https://en.wikipedia.org/wiki/The_Red_Wheel

https://www.theguardian.com/books/2017/aug/22/solzhenitsyn-russian-revolution-epic-novel-the-red-wheel-complete-english-translation

https://www.spiegel.de/kultur/literatur/solschenizyn-portraet-mit-seinem-spaetwerk-konnte-der-westen-wenig-anfangen-a-569808.html

28 Januar 2021

Homer: Odyssee - Bei den Phäaken: Odysseus weint über Demodokos' Gesang und beginnt zu erzählen

Jetzo kam auch der Herold und führte den lieblichen Sänger,
Denn sie nahm ihm die Augen und gab ihm süße Gesänge.
Und Pontonoos setzt' ihm den silberbeschlagenen Sessel

Mitten unter den Gästen an eine ragende Säule,

Hängte darauf an den Nagel die lieblichklingende Harfe

Über des Sängers Haupt und führt' ihm die Hand, sie zu finden.

Vor ihn stellte der Herold den schönen Tisch und den Eßkorb

Und den Becher voll Weins, zu trinken, wann ihm beliebte.

Und sie erhoben die Hände zum leckerbereiteten Mahle.

Aber als die Begierde des Tranks und der Speise gestillt war,

Trieb die Muse den Sänger, das Lob der Helden zu singen.

Aus dem Liede, des Ruhm damals den Himmel erreichte,

Wählt' er Odysseus' Zank und des Peleiden Achilleus:

Wie sie einst miteinander am festlichen Mahle der Götter

Heftig stritten und sich der Führer des Heers Agamemnon

Herzlich freute beim Zwiste der tapfersten Helden Achaias.

Denn dies Zeichen war ihm von Phöbos Apollon geweissagt,

In der heiligen Pytho, da er die steinerne Schwelle

Forschend betrat; denn damals entsprang die Quelle der Trübsal

Für die Achaier und Troer, durch Zeus' des Unendlichen Ratschluß.

Dieses sang der berühmte Demodokos. Aber Odysseus

Faßte mit nervichten Händen den großen purpurnen Mantel,

Zog ihn über das Haupt und verhüllte sein herrliches Antlitz,

Daß die Phaiaken nicht die tränenden Wimpern erblickten.

Als den Trauergesang der göttliche Sänger geendigt,

Trocknet' er schnell der Tränen und nahm vom Haupte den Mantel,

Faßte den doppelten Becher und goß den Göttern des Weines.

Aber da jener von neuem begann und die edlen Phaiaken

Ihn zum Gesang ermahnten, vergnügt durch die reizenden Lieder,

Hüllt' Odysseus wieder sein Haupt in den Mantel und traurte.

Allen übrigen Gästen verbarg er die stürzende Träne,

Nur Alkinoos sah aufmerksam die Trauer des Fremdlings,

Welcher neben ihm saß, und hörte die tiefen Seufzer. 

[...] (8. Gesang)

Jetzo gefällt es dir, nach meinen kläglichen Leiden

Mich zu fragen, damit ich noch mehr mein Elend beseufze.

Aber was soll ich zuerst, was soll ich zuletzt dir erzählen?

Denn viel Elend häuften auf mich die himmlischen Götter!

Sagen will ich zuerst, wie ich heiße, damit ihr mich kennet,

Und ich hinfort, solange der grausame Tag mich verschonet,

Euer Gastfreund sei, so fern ich von hinnen auch wohne.

Ich bin Odysseus, Laertes' Sohn, durch mancherlei Klugheit

Unter den Menschen bekannt, und mein Ruhm erreichet den Himmel.

Ithakas sonnige Höhn sind meine Heimat; in dieser

Türmet sich Neritons Haupt mit rauschenden Wipfeln, und ringsum,

Dicht aneinander gesät, sind viele bevölkerte Inseln,

Same, Dulichion und die waldbewachsne Zakynthos.

Ithaka liegt in der See am höchsten hinauf an die Feste,

Gegen den Nord; die andern sind östlich und südlich entfernet.

Rauh ist diese, doch nähret sie rüstige Männer, und wahrlich,

Süßer als Vaterland ist nichts auf Erden zu finden!

Siehe, mich hielt bei sich die hehre Göttin Kalypso

In der gewölbeten Grotte und wünschte mich zum Gemahle;

Ebenso hielt mich auch die aiaiische Zauberin Kirke

Trüglich in ihrem Palast und wünschte mich zum Gemahle:

Aber keiner gelang es, mein standhaftes Herz zu bewegen.

Denn nichts ist doch süßer als unsere Heimat und Eltern,

Wenn man auch in der Fern ein Haus voll köstlicher Güter,

Unter fremden Leuten, getrennt von den Seinen, bewohnet!

Aber wohlan! vernimm itzt meine traurige Heimfahrt,

Die mir der Donnerer Zeus vom troischen Ufer beschieden.

Gleich von Ilion trieb mich der Wind zur Stadt der Kikonen,

Ismaros, hin. Da verheert ich die Stadt und würgte die Männer.

Aber die jungen Weiber und Schätze teilten wir alle

Unter uns gleich, daß keiner leer von der Beute mir ausging.

Jetzo warnet ich zwar die Freunde, mit eilendem Fuße

Weiter zu fliehn; allein die Unbesonnenen blieben.

Und nun ward in dem Weine geschwelgt, viel Ziegen und Schafe

An dem Ufer geschlachtet und viel schwerwandelndes Hornvieh.

Aber es riefen indes die zerstreuten Kikonen die andern

Nahen Kikonen zu Hilfe, die tapferer waren und stärker,

Aus der Mitte des Landes. Sie waren geübt, von den Wagen,

Und wenn es nötig war, zu Fuß mit dem Feinde zu kämpfen.

Zahllos schwärmten sie jetzt, wie die Blätter und Blumen des Frühlings,

Mit dem Morgen daher. Da suchte Gottes Verderben

Uns Unglückliche heim und überhäuft' uns mit Jammer.

Bei den rüstigen Schiffen begann die wütende Feldschlacht,

Und von Treffen zu Treffen entschwirrten die ehernen Lanzen.

Weil der heilige Tag noch mit dem Morgen emporstieg,

Wehrten wir uns und trotzten der Übermacht der Kikonen.

Aber da nun die Sonne zur Stunde des Stierabspannens

Sank, da siegte der Feind und zwang die Achaier zum Weichen.

Jedes der Schiffe verlor sechs wohlgeharnischte Männer,

Und wir andern entflohn dem schrecklichen Todesverhängnis.

Also steuerten wir mit trauriger Seele von dannen,

Froh der bestandnen Gefahr, doch ohne die lieben Gefährten.

Doch nicht eher enteilten die gleichgeruderten Schiffe,

Ehe wir dreimal jedem der armen Freunde gerufen,

Welche der siegende Feind auf dem Schlachtgefilde getötet.

Aber nun sandt auf die Schiffe der Wolkenversammler des Nordwinds

Fürchterlich heulenden Sturm, verhüllt' in dicke Gewölke

Meer und Erde zugleich, und dem düstern Himmel entsank Nacht.

Schnell mit gesunkenen Masten entflogen die Schiff', und mit einmal

Rasselte rauschend der Sturm und zerriß die flatternden Segel.

Eilend zogen wir sie, aus Furcht zu scheitern, herunter

Und arbeiteten uns mit dem Ruder ans nahe Gestade.

Zwo grauenvolle Nächte und zween langwierige Tage

Lagen wir mutlos dort, von Arbeit und Kummer entkräftet.

Aber da nun die dritte der Morgenröten emporstieg,

Richteten wir die Masten und spannten die schimmernden Segel,

Setzten uns hin und ließen vom Wind und Steuer uns lenken.

Jetzo hofften wir sicher den Tag der fröhlichen Heimkehr.

Aber als wir die Schiff' um Maleia lenkten, da warf uns

Plötzlich die Flut und der Strom und der Nordwind fern von Kythera.

Und neun Tage trieb ich, von wütenden Stürmen geschleudert,

Über das fischdurchwimmelte Meer; am zehnten gelangt' ich

Hin zu den Lotophagen, die blühende Speise genießen.

Allda stiegen wir an das Gestad und schöpften uns Wasser.

Eilend nahmen die Freunde das Mahl bei den rüstigen Schiffen,

Und nachdem wir uns alle mit Trank und Speise gesättigt,

Sandt ich einige Männer voran, das Land zu erkunden,

Was für Sterbliche dort die Frucht des Halmes genössen,

Zween erlesene Freund'; ein Herold war ihr Begleiter.

Und sie erreichten bald der Lotophagen Versammlung.

Aber die Lotophagen beleidigten nicht im geringsten

Unsere Freunde, sie gaben den Fremdlingen Lotos zu kosten.

Wer nun die Honigsüße der Lotosfrüchte gekostet,

Dieser dachte nicht mehr an Kundschaft oder an Heimkehr,

Sondern sie wollten stets in der Lotophagen Gesellschaft

Bleiben und Lotos pflücken und ihrer Heimat entsagen.

Aber ich zog mit Gewalt die Weinenden wieder ans Ufer,

Warf sie unter die Bänke der Schiff' und band sie mit Seilen.

Drauf befahl ich und trieb die übrigen lieben Gefährten,

Eilend von dannen zu fliehn und sich in die Schiffe zu retten,

Daß man nicht, vom Lotos gereizt, die Heimat vergäße.

Und sie traten ins Schiff und setzten sich hin auf die Bänke,

Saßen in Reihn und schlugen die graue Woge mit Rudern.

(Homer: Odyssee 9. Gesang)

Homer: Odyssee - Bei den Phäaken: Ares und Aphrodite

Und die rosige Frühe entstieg des edlen Tithonos

Lager und brachte das Licht den Göttern und sterblichen Menschen.

Aber die Götter saßen zum Rate versammelt; mit ihnen

Saß der Donnerer Zeus, der alle Dinge beherrschet.

Und Athene gedachte der vielen Leiden Odysseus',

Welchen Kalypso hielt, und sprach zu der Götter Versammlung:

Vater Zeus und ihr andern unsterblichen seligen Götter,

Künftig befleißige sich keiner der zepterführenden Herrscher,

Huldreich, mild und gnädig zu sein und die Rechte zu schützen,

Sondern er wüte nur stets und frevle mit grausamer Seele!

Niemand erinnert sich ja des göttergleichen Odysseus

Von den Völkern, die er mit Vaterliebe beherrschte!

Sondern er liegt in der Insel, mit großem Kummer belastet,

In dem Hause der Nymphe Kalypso, die mit Gewalt ihn

Hält, und wünschet umsonst, die Heimat wiederzusehen;

Denn es gebricht ihm dort an Ruderschiffen und Männern,

Über den breiten Rücken des Meeres ihn zu geleiten.

Jetzo beschlossen sie gar des einzigen Sohnes Ermordung,

Wann er zur Heimat kehrt; er forscht nach Kunde vom Vater

In der göttlichen Pylos und Lakedaimon der großen.

Ihr antwortete drauf der Wolkenversammler Kronion:

Welche Rede, mein Kind, ist deinen Lippen entflohen?[502]

Hast du nicht selber den Rat in deinem Herzen ersonnen,

Daß heimkehrend jenen Odysseus Rache vergelte?

Aber Telemachos führe mit Sorgfalt, denn du vermagst es,

Daß er ohne Gefahr sein heimisches Ufer erreiche

Und die Freier im Schiffe vergebens wieder zurückziehn.

Sprach's und redete drauf zu seinem Sohne Hermeias:

Hermes, meiner Gebote Verkündiger, melde der Nymphe

Mit schönwallenden Locken der Götter heiligen Ratschluß

Über den leidengeübten Odysseus! Er kehre von dannen

Ohne der Götter Geleit und ohne der sterblichen Menschen!

Einsam, im vielgebundenen Floß, von Schrecken umstürmet,

Komm er am zwanzigsten Tage zu Scherias fruchtbaren Auen,

In das glückliche Land der götternahen Phaiaken!

Diese werden ihn hoch wie einen Unsterblichen ehren,

Und ihn senden im Schiffe zur lieben heimischen Insel,

Reichlich mit Erz und Golde beschenkt und prächtigen Kleidern,

Mehr als jemals der Held von Ilion hätte geführet,

Wär er auch ohne Schaden mit seiner Beute gekommen.

Also gebeut ihm das Schicksal, die Freunde wiederzuschauen,

Und den hohen Palast und seiner Väter Gefilde!

Also sprach Kronion. Der rüstige Argosbesieger

Eilte sofort und band sich unter die Füße die schönen

Goldnen ambrosischen Sohlen, womit er über die Wasser

Und das unendliche Land im Hauche des Windes einherschwebt.

Hierauf nahm er den Stab, womit er die Augen der Menschen

Zuschließt, welcher er will, und wieder vom Schlummer erwecket. [...]

(Homer: Odyssee 5. Gesang)


Auf den Befehl von Zeus hat Kalypso nach sieben Jahren, die er bei ihr verbracht hat, ungern Odysseus freigegeben und ihn dabei unterstützt, sich ein Floß zu bauen. 
Als Poseidon bemerkt hat, dass Odysseus unterwegs ist, akzeptiert er notgedrungen Zeus' Entscheidung, beschließt aber, es Odysseus möglichst schwer zu machen und erweckt fürchterliche Stürme, so dass das Floß untergeht und Odysseus sich nur schwimmend unter Zurücklassung seiner Kleidung an den Strand retten kann. Dort legt er sich in einem Gebüsch zum Schlafen.
Nausikaa, die Tochter des Königs der Phäaken, wird von Athene im Traum dazu bestimmt, mit ihren Gefährtinnen an den Strand zu gehen, um dort Wäsche zu waschen.

Aber da sie nunmehr sich rüstete, wieder zur Heimfahrt

Anzuspannen die Mäuler und ihre Gewande zu falten,

Da ratschlagete Zeus' blauäugichte Tochter Athene,

Wie Odysseus erwachte und sähe die liebliche Jungfrau,

Daß sie den Weg ihn führte zur Stadt der phaiakischen Männer.

Und Nausikaa warf den Ball auf eine der Dirnen;

Dieser verfehlte die Dirn und fiel in die wirbelnde Tiefe,

Und laut kreischten sie auf. Da erwachte der edle Odysseus,

Sitzend dacht er umher im zweifelnden Herzen und sagte:

Weh mir! zu welchem Volke bin ich nun wieder gekommen?

Sind's unmenschliche Räuber und sittenlose Barbaren

Oder Diener der Götter und Freunde des heiligen Gastrechts?

Eben umtönte mich ein Weibergekreisch, wie der Nymphen,

Welche die steilen Häupter der Felsengebirge bewohnen

Und die Quellen der Flüsse und grasbewachsenen Täler!

Bin ich hier etwa nahe bei redenden Menschenkindern?

Auf! ich selber will hin und zusehn, was es bedeute!

Also sprach er und kroch aus dem Dickicht, der edle Odysseus,

Brach mit der starken Faust sich aus dem dichten Gebüsche

Einen laubichten Zweig, des Mannes Blöße zu decken,

Ging dann einher wie ein Leu des Gebirgs, voll Kühnheit und Stärke,

Welcher durch Regen und Sturm hinwandelt; die Augen im Haupte

Brennen ihm; furchtbar geht er zu Rindern oder zu Schafen

Oder zu flüchtigen Hirschen des Waldes; ihn spornet der Hunger

Selbst in verschlossene Höf', ein kleines Vieh zu erhaschen:

Also ging der Held, in den Kreis schönlockiger Jungfraun

Sich zu mischen, so nackend er war; ihn spornte die Not an.


Nausikaa wagt sich als einzige, mit Odysseus zu sprechen, sie gewährt ihm Gastfreundschaft, versorgt ihn mit Kleidung und lädt ihn ein, in den Palast der Königs der Phäaken zu kommen. Dort wird er eingeladen, an dem Festmahl teilzunehmen, bei dem ein Sänger auftritt.

Daß wir den Fremdling zuvor in meinem Saale bewirten.

Niemand weigere sich! Ruft auch den göttlichen Sänger,

Unsern Demodokos her; denn ihm gab Gott überschwenglich

Süßen Gesang, wovon auch sein Herz zu singen ihn antreibt.

Also sprach er und ging. Die Zeptertragenden alle

Folgten ihm; und der Herold enteilte zum göttlichen Sänger. [...]

Jetzo kam auch der Herold und führte den lieblichen Sänger,

Diesen Vertrauten der Muse, dem Gutes und Böses verliehn ward;

Denn sie nahm ihm die Augen und gab ihm süße Gesänge.

Und Pontonoos setzt' ihm den silberbeschlagenen Sessel

Mitten unter den Gästen an eine ragende Säule,

Hängte darauf an den Nagel die lieblichklingende Harfe

Über des Sängers Haupt und führt' ihm die Hand, sie zu finden.

Vor ihn stellte der Herold den schönen Tisch und den Eßkorb

Und den Becher voll Weins, zu trinken, wann ihm beliebte.

Und sie erhoben die Hände zum leckerbereiteten Mahle. [...]

Lieblich rauschte die Harfe; dann hub der schöne Gesang an.

Ares' Liebe besang und Aphroditens der Meister,

Wie sich beide zuerst in Hephaistos' prächtiger Wohnung

Heimlich vermischt. Viel schenkte der Gott und entehrte des hohen

Feuerbeherrschers Lager. Doch plötzlich bracht ihm die Botschaft

Helios, der sie gesehn in ihrer geheimen Umarmung.

Aber sobald Hephaistos die kränkende Rede vernommen,

Eilet' er schnell in die Esse, mit rachevollen Entwürfen,

Stellt' auf den Block den gewaltigen Amboß und schmiedete starke,

Unauflösliche Ketten, um fest und auf ewig zu binden.

Und nachdem er das trügliche Werk im Zorne vollendet,

Ging er in das Gemach, wo sein Hochzeitbette geschmückt war,

Und verbreitete rings um die Pfosten kreisende Bande;

Viele spannt' er auch oben herab vom Gebälke der Kammer,

Zart wie Spinnengewebe, die keiner zu sehen vermöchte

Selbst von den seligen Göttern, so wunderfein war die Arbeit!

Und nachdem er den ganzen Betrug um das Lager verbreitet,

Ging er gleichsam zur Stadt der schöngebaueten Lemnos,

Die er am meisten liebt' von allen Ländern der Erde.

Ares schlummerte nicht, der Gott mit goldenen Zügeln,

Als er verreisen sahe den kunstberühmten Hephaistos.

Eilend ging er zum Hause des klugen Feuerbeherrschers,

Hingerissen von Liebe zu seiner schönen Gemahlin.

Aphrodite war eben vom mächtigen Vater Kronion

Heimgekehrt und saß. Er aber ging in die Wohnung,

Faßte der Göttin Hand und sprach mit freundlicher Stimme:

Komm, Geliebte, zu Bette, der süßen Ruhe zu pflegen!

Denn Hephaistos ist nicht daheim; er wandert vermutlich

Zu den Sintiern jetzt, den rauhen Barbaren in Lemnos.

Also sprach er, und ihr war sehr willkommen die Ruhe.

Und sie bestiegen das Lager und schlummerten. Plötzlich umschlangen

Sie die künstlichen Bande des klugen Erfinders Hephaistos,

Und sie vermochten kein Glied zu bewegen oder zu heben.

Aber sie merkten es erst, da ihnen die Flucht schon gehemmt war.

Jetzo nahte sich ihnen der hinkende Feuerbeherrscher.

Dieser kehrte zurück, bevor er Lemnos erreichte;

Denn der lauschende Gott der Sonne sagt' ihm die Tat an.

Eilend ging er zu Hause mit tief bekümmerter Seele,

Stand in dem Vorsaal still, und der rasende Eifer ergriff ihn.

Fürchterlich ruft' er aus, und alle Götter vernahmen's:

Vater Zeus und ihr andern unsterblichen seligen Götter,

Kommt und schaut den abscheulichen unausstehlichen Frevel,

Wie mich lahmen Mann die Tochter Zeus', Aphrodite,

Jetzo auf immer beschimpft und Ares den Bösewicht herzet;

Darum, weil jener schön ist und grade von Beinen, ich aber

Solche Krüppelgestalt! Doch keiner ist schuld an der Lähmung

Als die Eltern allein! O hätten sie nimmer gezeuget!

Aber seht doch, wie beid in meinem eigenen Bette

Ruhn und der Wollust pflegen! Das Herz zerspringt mir beim Anblick!

Künftig möchten sie zwar auch nicht ein Weilchen so liegen!

Wie verbuhlt sie auch sind, sie werden nicht wieder verlangen,

So zu ruhn! Allein ich halte sie fest in der Schlinge,

Bis der Vater zuvor mir alle Geschenke zurückgibt,

Die ich als Bräutigam gab für sein schamloses Gezüchte!

Seine Tochter ist schön, allein unbändigen Herzens!

Also sprach er. Da eilten zum ehernen Hause die Götter:

Poseidaon kam, der Erdumgürter; und Hermes

Kam, der Bringer des Heils; es kam der Schütze Apollon.

Aber die Göttinnen blieben vor Scham in ihren Gemächern.

Jetzo standen die Götter, die Geber des Guten, im Vorsaal,

Und ein langes Gelächter erscholl bei den seligen Göttern,

Als sie die Künste sahn des klugen Erfinders Hephaistos.

Und man wendete sich zu seinem Nachbar und sagte:

Böses gedeihet doch nicht; der Langsame haschet den Schnellen!

Also ertappt Hephaistos, der Langsame, jetzo den Ares,

Welcher am hurtigsten ist von den Göttern des hohen Olympos,

Er, der Lahme, durch Kunst. Nun büßt ihm der Ehebrecher!

Also besprachen sich die Himmlischen untereinander.

Aber zu Hermes sprach Zeus' Sohn, der Herrscher Apollon:

Hermes, Zeus' Gesandter und Sohn, du Geber des Guten,

Hättest du auch wohl Lust, von so starken Banden gefesselt,

In dem Bette zu ruhn bei der goldenen Aphrodite?

Ihm erwiderte darauf der geschäftige Argosbesieger:

O geschähe doch das, ferntreffender Herrscher Apollon!

Fesselten mich auch dreimal so viel unendliche Bande,

Und ihr Götter sähet es an und die Göttinnen alle,

Siehe, so schlief' ich doch bei der goldenen Aphrodite!

Also sprach er; da lachten laut die unsterblichen Götter.

Nur Poseidon lachte nicht mit; er wandte sich bittend

Zum kunstreichen Hephaistos, den Kriegsgott wieder zu lösen.

Und er redet' ihn an und sprach die geflügelten Worte:

Lös ihn! Ich stehe dafür: er soll, wie du es verlangest,

Vor den unsterblichen Göttern dir alles bezahlen, was recht ist.

Drauf antwortete jenem der hinkende Feuerbeherrscher:

Fordere solches nicht, du Erdumgürter Poseidon!

Elende Sicherheit gibt von Elenden selber die Bürgschaft.

Sage, wie könnt ich dich vor den ewigen Göttern verbinden,

Flöhe nun Ares fort, der Schuld und den Banden entrinnend?

Ihm erwiderte drauf der Erderschüttrer Poseidon:

Nun, Hephaistos, wofern denn auch Ares fliehend hinwegeilt,

Um der Schuld zu entgehn, ich selbst will dir dieses bezahlen!

Drauf antwortete jenem der hinkende Feuerbeherrscher:

Unrecht wär es und grob, dir deine Bitte zu weigern.

Also sprach er und löste das Band, der starke Hephaistos.

Und kaum fühlten sich beide der mächtigen Fessel entledigt,

Sprangen sie hurtig empor. Der Kriegsgott eilte gen Thrake.

Aber nach Kypros ging Aphrodite, die Freundin des Lächelns,

In den paphischen Hain, zum weihrauchduftenden Altar.

Allda badeten sie die Charitinnen und salbten

Sie mit ambrosischem Öle, das ewige Götter verherrlicht;

Schmückten sie dann mit schönen und wundervollen Gewanden.

Also sang der berühmte Demodokos. Aber Odysseus

Freute sich des Gesangs von Herzen; es freuten sich mit ihm

Alle Phaiaken, die Führer der langberuderten Schiffe.

(Homer: Odyssee 8. Gesang)