Alexander Solschenizyn: August Vierzehn
https://www.zeit.de/1972/31/solschenizyn-august-vierzehn/komplettansicht
Zitate:
"Übrigens, eines war Isakij angenehm: aus irgendeinem Grund unterschied ihn die Dorfmeinung von den anderen Studenten und nannte ihn – gleichfalls spottend – Narodnik. Wer ihn auch als erster den Namen angehängt haben und wie ist dazu auch gekommen sein möchte – jedenfalls nun ihn alle und jeder Narodnik. Es gab in Russland schon längst keine Narodniki mehr, aber Isakij, obwohl er nie gewagt hätte, es laut zu gestehen, verstand sich wohl selbst eben als Narodnik– der sein Studium für das Volk betreibt und zu dem Volk zurückgeht mit dem Buch, mit dem Wort und mit Liebe.
Aber selbst in der eigenen Familie war diese Rückkehr fast unmöglich. Die Anschauungen die sich Isakij zu eigen gemacht hatte, nach der Lehre des Grafen Tolstoij, gründeten in Wahrheit und Gewissen – und im Umgang mit der Familie führten sie in die Lüge. Denn es war unmöglich, dem Vater klarzumachen, dass der Gottesdienst eine Farce sei, eine Herabwürdigung des Glaubens – bei manchen Popen sogar widerliche Verhöhnung – und dass er, Isakij , zwar in die Kirche gehe um den Vater in der Staniza keine Schande zu machen, aber am liebsten nicht hin ginge. Ebensowenig konnte Isakij, nachdem er Vegetarier geworden war, dem Vater und den Verwandten klarmachen, dass dies ein Gewissensentschluss sei: Lebendes soll man nicht töten, deshalb soll man es auch nicht essen – Hohn und Sport hätte es in der Familie und in der Staniza gegeben. Darum log Isakij: fleischlose Kost sei die neueste medizinische Erfindung eines Deutschen, garantiere langes Leben, und er wollte das ausprobieren. Die Lüge drückte, quälte ihn – aber ohne sie wäre es noch schlimmer gewesen." (Alexander Solschenizyn : August Vierzehn, S. 13/14)
Über die russische Armee:
"Denn die Treppe ist so eingerichtet, dass nicht die Willensstarken, sondern die Schlappen, nicht die Klugen, sondern die Diensteifrigen auf ihr steigen. Wenn man sich streng nach Vorschrift, Direktive und Befehlen verhält und einen Misserfolg, eine Niederlage erlitten hat, aufs Haupt geschlagen wurde, den Rückzug antreten, fliehen musste – niemand wird einen Vorwurf machen! Und man selbst braucht sich nicht den Kopf zu zerbrechen: wie ist es zu der Niederlage gekommen? Aber wehe, wenn du dich über einen Befehl hinweggesetzt, wenn du nach eigener Einsicht, aus eigenem Mut gehandelt hast – dann wird man dir sogar den Erfolg nicht verzeihen, und bei einem Misserfolg machen Sie dich fertig." (S.142/43)
"Kein Korken am Korkenzieher wird ärger geschraubt als Martos durch diese Antwort! Er warf das Fernglas hin, rannte vom Speicher herunter, lief zwischen den Kiefern hin und her, die Anhöhe hinauf und hinab, schimpfte vor sich hin, verwünschte alles und konnte seinen Beinen nicht Einhalt tun. Er machte nicht den Fehler anzunehmen, seine Bitte sei tatsächlich dem Oberbefehlshaber vorgetragen und in dessen reichlich massivem Kopf nach allen Seiten erwogen worden, mit der Absicht der Initiative des unentschlossenen Klujew nichts in den Weg zu legen. Nein, hier zeigte sich Postowkijs Tintenblut und Löschblattseele, seine Angst, von der vorgestrigen Direktive abzuweichen, und seine jämmerliche Wichtigtuerei, unbefugt im Namen des Oberbefehlshabers zu sprechen." (Alexander Solschenizyn : August Vierzehn, S. 355)
General Samsonow bemüht sich einzuschlafen und betet. Da hört er eine prophetische Stimme: "Du wirst entschlafen." Er fühlt, was ihn retten kann: In den Kampf reiten, statt fruchtlos nachzudenken.
Zitat:
"Wie günstig könnte sich noch alles wenden! Welch eine Befreiung! – Nicht mehr als Gefangener des Stabes und des Telegrafenapparates im Zimmer herumsitzen zu müssen, sondern nach vorne zu reiten und zu handeln! Er hätte das schon gestern tun sollen! Ein so einfacher Gedanke! Bei dieser Gelegenheit wird er auch Knox los. Er ist nicht dumm und wäre ein guter Geschützführer geworden, stattdessen fuchtelte er mit seinem Stock in der Luft herum.
Der Oberbefehlshaber befahl, den Stab zu wecken. In Bjelostok schlafen sie lange. Der LEBENDE LEICHNAM* wird es schon merken, wenn er aufwacht – keine Verbindung, kein Samsonow, niemand mehr da, den er belehren kann.
Befreiung!
Aber sie brauchten doch noch zwei Stunden wie die Weiber. Die Stabsdienstgrade wachten langsamer auf und begriffen schwerfälliger als der Oberbefehlshaber." (S.404)
*Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe der Nordwestfront Shilinskkij
Bloß am Morgen hatte Sascha diese seltsam freudige, wild freudige, diese animalisch freudige Empfindung des SIEGES gehabt – eines Sieges über wen? … Eines Sieges wozu? Dieses tierische Gefühl hätte er sich lange nicht verziehen, wäre es in wenigen Stunden nicht von selber verflogen gewesen
Was hatte dieser Sieg ihrem Regiment eingebracht, außer der Kolonne Gefangener und eroberten Geschützen? Nichts. Und er konnte auch nichts einbringen. Er hatte die Qualen nur verlängert und neue Opfer gefordert. [...]
Es wurde die ganze Zeit heftig geschossen, aber zuweilen verdichtete sich das Geschützfeuer zu einem Gewitter. Innerlich leer, mit müdem, erschlafftem Intellekt, sich selber fremd und zuwider, hatte Sascha die Hoffnung aufgegeben, den Abend noch zu erleben. Er krümmte sich in dem nicht voll ausgebauten Graben, sich selbst für verachtend, Als Kanonenfutter, und auch jenes Kanonenfleisch verachtend, das an ihm selbst war. Was war von den anderen zu erwarten, die unentwickelte Analphabeten waren, wenn er, ein aktiv denkender Mensch, nicht mehr weiterwusste, all dem nichts entgegenzusetzen hatte, sondern in diesem flachen Loch kauerte, den Kopf zur Sicherheit zwischen den Knien, und den ganzen Tag nur darauf wartete, ob es ihn erwischte oder nicht erwischte, passiv und sogar schon ohne Lebenswillen. (S. 542)
Zudem
konnte Sascha gleich nach den ersten Minuten feststellen, dass dieser
Oberst mit seiner klaren Stirn einen Unteroffizieren sehr seltenen
Typ vertrat: er war ein, wie es schien, wirklich gebildeter und
intelligenter Mensch. Andererseits, wenn er wirklich gebildet war und
auch noch Befehlsgewalt hatte – wie konnte er dann dem dunklen,
dumpfen wilden Willen dieser unzivilisierten Reservisten aus den
finsteren Ecken Russland willfahren? Mochten Sie noch die Fahne als
etwas Wichtiges retten wollen – diesen Staatslappen, den kein
Mensch braucht und über den jeder längst lacht, sie wog wenigstens
nichts und bot Ofrosimow einen günstigen Vorwand, sich selber
schleppen zu lassen. Aber:
"Herr
Oberst! Warum einen Toten mitschleppen? Das ist doch primitiv."
Sie
gingen als erste, hören können hätte sie nur jener dritte Kopf
dicht über ihren Schultern, der, mit dem Nacken nach unten, bei
jedem Schritt schaukelte. Worotynzew antwortet er nicht.
"Was
hat was hat das mit dem modernen Krieg zu tun?" Sascha wurde
dreister./
Er
hatte lebendige, kluge Augen, vor denen eine platte Kommissparole
nicht angebracht war. Aber Worotynzew verfügte über ein Register,
das auch solche Augen blinzeln ließ:
"Der
moderne Krieg erwartet Sie an der Chaussee, Fähnich. Sie sollten
vorher überlegen, womit Sie schießen werden. Mit Ihrer Knallbüchse
werden Sie nicht viel ausrichten."
Vielleicht
war das richtig, aber es war trotzdem ein Ausweichen. (S.607/08)
[...]
"Differenzen zwischen den Parteien, sagen Sie? Die sind Schaum?"
Sascha war verblüfft, er stolperte und wand sich unter seiner
Stange. Zwei oder drei Wege der Widerlegung boten sich sofort an,
aber der beste war der Angriff: "Und die Differenzen zwischen
Nationen? Die sind kein Schaum? Wir führen doch deswegen Krieg!
Welche Differenz ist denn überhaupt wesentlich?"
"Zwischen
Anständigkeit und Unanständigkeit, Fähnrich", antwortete
Worotynzew noch knapper.(S. 608)
(Die Beerdigung des Obersten) (S.610-615)
Mein Eindruck nach der bisherigen Lektüre ist, dass Solschenizyn bewusst an die von Tolstoij mit "Krieg und Frieden" gesetzte Tradition der Verherrlichung Russlands und seiner Bevölkerung anknüpft, nur dass er nicht den ausländischen Eindringling, sondern die russische Führung der Zeit kritisiert. Dass das nicht zu seiner konsequenten Kritik des sowjetischen Regimes passt (die im Westen so gern gesehen wurde) liegt auf der Hand. Es passt aber sehr wohl zu Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch.
Besonders die Hilflosigkeit der russischen Truppen im Krieg ist atmosphärisch dicht beschrieben, daneben wird aber auch über die Unsicherheit der deutschen Seite berichtet, die sich vergeblich klar darüber zu werden versucht, was die widersprüchlichen Aktionen der Russen zu bedeuten haben.
Das rote Rad (https://de.wikipedia.org/wiki/Das_rote_Rad)