Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen, Berlin 2020 (Rezensionen von Christian Modehn, Erich Garhammer (pdf) und 4 in perlentaucher sowie weitere hier)
"These: Außerhalb der Aktualität angesiedelt, handelt Theopoesie, auf den ersten Blick betrachtet, von den in der Bibliothek der Menschheit gespeicherten Versuchen, Gott oder die Götter zum Sprechen zu bringen: Entweder reden sie unmittelbar selbst oder sie werden von den Dichtern mittelbar in ihrem Tun und Denken wiedergegeben. [...] Religionen berufen sich in ihren theopoetischen Gründungsdokumenten auf mehr oder weniger elaborierte literarische Verfahren, auch wenn die begleitende Dogmatik dazu dient, diese Tatsache vergessen zu machen. Religionen sind »literarische Produkte, mit deren Hilfe die Autoren um Klienten auf dem engen Markt der Aufmerksamkeit von Gebildeten konkurrieren«."
Religiöse Aussagen werden also als Narrative gesehen und dementsprechend der Untertitel Theopoesie. (vgl. Theopoiesis. Das Verfertigen Gottes und der Religion in der nachkantischen Denkbewegung
In: Kritik der neomythischen Vernunft
Author: Linus Hauser)
Die Spätantike habe in "mediologischer Sicht erst im 19. Jahrhundert" geendet. (S.179)
S.179/80 Demokratisierung der Realitätsbeschreibung durch die Soziologie, Aufzählung von Autoren
Eine typische Formulierung. Es geht darum, dass die Soziologie vermehrt quantifizierende Methoden verwendete, um sich in der Exaktheit an die Naturwissenschaften anzunähern:
"Nichts freilich garantiert, dass die Gesellschaft sich in den an sie gesendeten Beschreibungen erkennt. Sie ist von Differenzen der Lebensstile, der Gesinnungen, der Besitzverhältnisse, der Bildungsstandards so tief zerklüftet, dass keine Botschaft "an alle" sie je erreichen kann. In dieser Lage erscheint es plausibel, anschaulichen Bildern den Rücken zu kehren und die sozialen Strukturen anhand von Zahlen, Kurven und Statistiken offenzulegen. Die metrische Soziologie verzichtet auf Alltagswissen, Intuition tacid knowledge und Lebensähnlichkeit, Um an ihrem hybriden und ausweichenden Gegenstand mit Hilfe der Zahlensprache und der Graphen Regelmäßigkeiten, Konstellationen und Strömungsrichtungen nachzuweisen, die der wahrnehmenden und teilnehmenden Beobachtung entgehen." (S. 180)
Auf den ersten 50 bis 100 Seiten wurde häufig in diesem aufzählenden, aber nicht differenzierenden, sondern verunklarendem Stil geschrieben. Bei diesem Stil, ist es schwer, Aussagen kurz zusammenzufassen, aber eine Zumutung für den Leser, inhaltlich relevante Aussagen wörtlich zu zitieren. Deshalb werde ich vermutlich vermehrt nur grobe Inhaltsangaben für länger Abschnitte liefern, wenn überhaupt.
Freilich, Sloterdijk vermag es durchaus anschaulich und prägnant zu schreiben: Das Verhältnis von Fürst und Panegyriker sei wie das vom Inhalt und der Außenhülle der Kanne: Wärme wird zurückgestrahlt. Oder: Rom sei das Silicon Valley der Redner gewesen. Freilich, stets kleidet er es so ein, dass es nicht zu leicht verstanden werden kann, z.B. so:
"Die Geschichte der erhöhenden Rede lässt sich als Geschichte des wechselseitigen Austauschs von Königslob und Gotteslob erzählen. Es waren in erster Linie die Könige, die Cäsaren, die Fürsten, die mithilfe ihrer angestellten Panegyriker das Schwungrad der erhebenden Diskurse am Laufen hielten. [...] Monarchien sind, technisch interpretiert, wie Thermoskannen gebaut: Wärmestrahlen (Machtstrahlen) werden von der Hülle reflektiert; sie verhindern über längere Zeit die Abkühlung. Daher sind gut etablierte Monarchin als Systeme der Entropie-Verzögerung zu verstehen. Solange die Königtümer in ihrem theologisch verstärkten Selbstlob-Kontinuum nachhaltig tätig waren, wirkte ihr Glanz auf ihren Bestand zurück." (S. 191/92)
oder so:
"Bis ins fünfte Jahrhundert blieb Rom das Silicon Valley der Oratoren; sie erprobten mithilfe von Kombinationen aus ciceronischen, quintilianischen, platonischen und stoischen Programmen eine Fülle an wortreichen Simulationen existenzieller Souveränität – anknüpfend an die seit dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ausgegebene Devise der Sophisten, der Mensch sei ein Wesen, dass nie in die wortlose Hilflosigkeit (griechisch amechania, Abwesenheit von Tricks und Hilfsmitteln versinken dürfe." (S. 196)
II. Teil Unter hohen Himmeln
Kap 13: Erdichtetes Zusammengehören
"Der Wirkungsraum des Dichtens, der Träumens und des Halluzinierens wie der des Rezitierens, des Imitierens, des Umformulierens und des Re-Inszenierens hingegen wird ernster genommen als bei herkömmlichen Unterscheidungen von Dichtung und Wahrheit üblich. Herodot empfand keine Scheu zu sagen, Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre Götter gegeben" (S141/42)
"Dem Wirkungsraum der primären Poesie wird besser gerecht, wer in Betracht zieht, wie dichtendes Tun vom Ursprung der Sprache her in Welterzeugungen eingebunden ist." (S.142) Sprache schafft in Begriffen Wirklichkeit, Grammatik ist Soziologie vor der Soziologie", insofern sie Akteure, Aktionen, Tatfolgen, Attibute und Ähnlichkeiten kennt. Protagoras Satz "Der Mensch ist das Maß von allem" ist mit der Polis-Gesinnung zusammen zu sehen, die den einzelnen in ein Wir einbindet. Die griechischen und römischen Kulte schaffen durch die ständigen Rituale eine Gemeinsamkeit, in die alle eingebunden sind. (S.144/45)
Weil alle das Gleiche taten, stellte sich die Frage, ob es einen Sinn habe, nicht.
"Die religiöse Dissonanz führte [...] erst im römischen Imperium erst durch das Auftreten von Juden und Christen zu unlösbaren Konflikten." (S.146) Vorher stellte das Nebeneinander viele Götter kein Problem dar, weil alle in gleichgeartete Riten eingebunden waren.
Kap. 14: Götterdämmerung und Soziophanie
Mit dem Auftreten der Gesellschaft (Soziophanie) wird in Europa das Christentum nach eineinhalb Jahrtausenden als gesellschaftsbestimmende Kraft langsam abgelöst.
Außerhalb des religiösen Raums wird das gemeinsame Befolgen von Regeln zunächst an den Sprachen deutlich. "Tatsächlich waren die ersten geschriebenen Grammatiken von Landessprachen älter als die expliziten politischen Verfassungen." (S.173) "In der Gesellschaftsdämmerung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts erwachten neue Götter [...] Volk, Nation, Handel, Industrie, Presse, Literatur, Kunst, Freiheit, Frechheit, Radikalität." (S.177)
"Die Offenbarung des Wahren und Wesentlichen geht nicht mehr von oben aus" (S.178) "Die Realität [...] schickt ihre Zeugen vor sich her. [...] Der zum Sprechen gebrachte Himmel hat die Kioske erreicht." (S179)
Kap.15: Herrlichkeit: Poesien des Lobs
"Während die biblische Genesis eine Schöpfung vorführt, die durchgehend auf monoton parallel geformten Machtworten beruhte – archetypisch: "es werde Licht und es ward Licht" [...] und somit expeditive Logokratie, die unverzügliche Herstellung von Zuständen durch Befehl, zum Inhalt hat, ausgenommen die Schaffung des Menschen die ins handwerkliche Fach überwechselt [...] neigten sich die hellenischen Vorstellungen über das Herkommen der Welt der Ewigkeitsvermutung zu; auch Aristoteles [...] ergriff für sie Partei." (S. 187)
Kap.16: Poesie der Geduld
Die frühen Formulierer der Para-Monotheismen im Zweistromland, auch Summotheismen oder Henotheismen genannt, standen vor der Aufgabe, mit der Ambivalenz des Gottes zurechtzukommen – eines Gottes, der ganz aus Mutwille, Alleskönnen und Allesdürfen besteht; er tritt zuweilen auf als Berserker, der mit dem Riesenspielzeug Katastrophe spielt.
Er streut seine Zuneigungen und Abneigungen aus wie ein Über-Krösus, der sich von seiner Fülle erleichtert.
Aus der klinischen Perspektive moderner Zeit liegt auf der Hand, dass die ersten Reichsgötterfiguren, nicht anders als ihre ranggleichen Rivalen, unter dem litten, was man eine schwere Persönlichkeitsdissoziation nennt: sie machte es ihnen unmöglich ihren Anhängern unter einem kohärenten Profil entgegenzutreten. Schon bei kleineren Kultverletzungen verloren sie die Fassung und tobten ihre Kränkungen auf infantil destruktive Weise aus. Wie man bei den Nachfolgern des römischen Augustus – Tiberius, Caligula, Claudius und Nero – den furor Caesarum sich ausprägen sah, so verrieten die Götterporträts des alten und jüngeren Orients von Marduk, Ahura Mazda, JHWH bis zu Allah eine Art furor deorum, ein Wüten im Zustand stetiger Majestätsbeleidigung, das zwischen Ordnungswidrigkeiten und Verbrechen nicht zu unterscheiden weiß: so wird Evas und Adams Biss in den falschen Apfel mit der Vertreibung aus dem Paradies geahndet – was die Sterblichkeitsstrafe impliziert –, indes Kain, der Mörder seines Bruders, unter Gottes Protektion unangetastet überleben und als Städtegründer tätig werden soll." (S.207/08)
"Der Poesie der Geduld kommen, wie die Auflösungen der Geschichten zeigen, nicht nur protostoische, sondern auch protoevangelische Qualitäten zu. Sie beantworten die Frage: Gibt es ein Leben nach dem Unglück? Da die bejahende Antwort hier nicht ausbleibt, sind die Geschichten mehr als Stücke 'weisheitlicher' Literatur. Sie weisen bereits einen Zug von Guter Nachricht auf. Doch gäbe, wer im Buch Hiob auch schon die Spur des Messianischen erkennen möchte, nicht dem Hang Überinterpretation nach? In Geschichten wie der vom duldenden Gerechten geht es nicht um das Kommen eines Erlösers, erst recht nicht darum, von den Toten aufzuerstehen. Wunderbar genug ist es, sich vom Unglück zu erholen – so wie sich der nach Jerusalem zurückgekehrte Teil des Volkes vom Unglück des Exils in Babylon erholte, dank Kyros, dem Messias, der aus Persien kam. (S. 217/18)
Kap.17: Poesien der Übertreibung: Religiöse Virtuosen und ihre Exzesse
"Nimmt man zur Kenntnis, dass die heiligen Bücher des Volkes Israel die Entrückung beziehungsweise die Himmelreise als ein nahezu stereotypes Motiv in den Berichten von Berufungen zum Prophetenamt kennen, so bei Jesaja, Jeremia und Ezechiel (die ihrerseits in der Nachfolge des Elia stehen), fällt auf die Angaben des Paulus ein verändertes Licht: Da der Briefschreiber vor dem dissidenten Teil der korinthischen Gemeinde seine Autorität als Apostel [...] zur Geltung bringen wollte, ist der Hinweis auf ein Entrückungserlebnis auch als Teil seiner Legitimationsstrategie gegenüber lokalen Skeptikern zu verstehen [...] Er stellte sich jedenfalls nicht auf eine Stufe mit den Empfängern landläufiger Charismen wie Weissagung, Dichtung, Zungenreden oder Geistheilung. Im übrigen darf nicht übersehen werden, dass auch Mohammed das jüdische Pensum der Himmelsreise summa cum laude bewältigt haben soll." (S. 226/27)
"Versteht man die verzögerten Exekutionen [Kreuzigung oder Schlimmeres] als Komparative des schweren Todes, so wäre die Steigerung zum schwersten erreicht, sobald das gedehnte Sterben unter der Folter über den Tod hinaus verlängert werden könnte. Diese Verlängerung hat das Christentum, unter Wiederverwendung altiranische Motive, durch die Institutionalisierung der Hölle mit ihrem nie erlöschenden Feuer im Imaginären verwirklicht – eine Errungenschaft, die der Islam als Religion der rigiden Zweiwertigkeit sich eifrig zu eigen machen sollte- Er war, wie das Christentum vor der Erfindung des Purgatoriums, eine Religion ohne Zwischenlösungen. [...] der Übergang vom Komparativ zum Superlativ des Leidens kann erfolgen, sobald die Forderung nach der Erhaltung der leidensfähigen Seele über den Tod hinaus als erfüllbar erklärt wird." (S.232/33)
Zur Vermeidung ewiger Höllenstrafen suchten manche Gläubige schon im irdischen Leben in äußerste Entbehrung und äußerste Qualen auf sich zu nehmen: z.B. Säulenheilige, Flagellanten, Mumifizierung bei lebendigem Leib (S.245-58)
Kap.18: Kerygma, Propaganda, Angebotsoffensiven oder: Wenn die Fiktion nicht mit sich spaßen lässt "Gemeinsam ist dem Christentum und dem Islam das kritische Intervall zwischen den prophetischen Interventionen der Neuerer bis zur Verschriftlichung ihrer Botschaften. Jesus war kaum drei Jahre lang öffentlich in Erscheinung getreten; Mohammeds Vortrags– und Cheftätigkeit soll rund 32 Jahre umspannt haben. Eine etwa gleich lange Zeit ist vermutlich bis zur Kodifizierung des Korans unter dem dritten Kalifen Uthman (gest. 656) vergangen." (S. 266)
"Ein Umstand ist nicht missverständlich: die Predigten der ersten Impulsgeber waren erfüllt von der Gewissheit, ihre Aussagen würden sich nicht im Wind des Wandels rasch zerstreuen. Die Verkünder gingen darauf aus, dass ihre Botschaften von den ersten Hörern zu neuen Hörern weitergetragen würden. Für solches Weitertragen bot die christliche Nachahmung früh den Begriff kerygma, Verkündigung, an – der Zeithorizont für diese Tätigkeit war nicht weitergespannt als bis zum Ende der lebenden Generation. Es wäre widersinnig, den ersten Anhänger in Jesu zu unterstellen, sie sollten oder wollten einen universalen 'Missions'-Auftrag erfüllen. Das 'Ende der Welt' (genauer: der Ablauf der Zeiten, aionos) von dem im nachösterlichen Taufimperativ bei Mathäus die Rede ist, mag von späteren Deutern terminiert worden sein, wie es ihnen beliebte: im Verständnis des Sprechers und der Hörer bezog er sich auf ein dicht bevorstehendes Ereignis." (S. 267/68) "Zu den Geburtsfehlern des christianismos gehört dass unaustilgbare Universalismusmissverständnis. Es war bei Paulus angelegt (oder in ihn hineingelegt) und wurde bereits von den Verfassen der Evangelien in ihre Berichte kopiert. Paulus – falls nicht auch seine Briefe auf spätere Fälschung zurückgehen – scheint in der Gewissheit gelebt zu haben, die Zeit sei knapp; folglich muss es nahe gelegt haben mit dem Verlust der meisten zu rechnen. Johannes ging soweit, das Leitmotiv der göttlichen Tragödie im Prolog seines Evangeliums auszusprechen: der Logos kam herab in die Welt, die von ihm geschaffen worden war, und die Welt erkannte ihn nicht. [...] Niemand konnte sich darüber im unklaren sein, dass nur eine kleine Minderheit der Lebenden zu den Erwählten zählen werde – wobei Griechesein, Sklavesein, Frausein nicht mehr als Gründe der Ausschließung vom auserwählten Volk zweiter Ordnung gelten durften." (S. 269/70)
"Die neuen Glaubensdoktrinen setzten eine profunde Verlegenheit in die Welt: Wer würde sich einer Heilsbewegung anschließen wollen, solange deren Prediger verfügen, die Vorfahren der Neugläubigen könnten in den jetzt geoffenbarten Heilsraum normalerweise nicht nachträglich eingemeindet werden; ja sie dürften von Glück sagen, wenn sie in einer mild klimatisierten Zone der Unterwelt, der Vorhölle, angesiedelt würden?
Als einschneidende Erwählungsreligion entworfen – 'Viele sind berufen, aber wenige auserwählt' (Matthäus 22,14) –, kann das Christentum, um vom Islam nicht zu reden, auf Dauer nicht verhehlen, dass es zur Desolidarisierung der jetzigen und künftigen von den vergangenen Generationen einlädt: 'Folge mir und lass die Toten ihre Toten begraben!' (Matthäus 8,22) Ist dies ausgesprochen, wird die Menschenwelt – traditionell als die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten aufgefasst [...] von zwei Desolidarisierungen zerklüftet: die erste trennt die wenigen Rekuperierbaren unter den früheren Toten von den zahllosen Toten zweiten Grades [...] die zweite zerspaltet die Weltpopulation der Lebenden in die der rettbaren Gläubigen und jene, die auch heute nach Ablauf ihrer Zeit aus den Büchern des Lebens gelöscht werden, weil sie den Weg des Heils nicht fanden oder ihn, obwohl bekannt gemacht, nicht gehen wollten.
Man stößt hierbei auf einen Wesenszug, der den Selbstwiderspruch des mit Erwählung gekreuzten Universalismus zum Vorschein bringt. An alle kann sich nur wenden, wer latent überzeugt ist, dass nicht alle folgen. Es verrät einen tiefgründigen Aspekt der ansonsten an Seltsamkeiten nicht armen Mormonen-Bewegung [...] wenn sie nicht nur für die Taufe Verstorbener plädierte, sondern die rückwirkende Erlösung von Angehörigen vergangener Generationen für möglich erklärte." (S. 288/89)
Angebotsoffensive Mission
"Seine bleibende Bedeutung erhielt der jesuitisch geprägte Terminus 'Mission' durch sein Potential zur Vorausprojektion. Es geschah nicht zufällig, dass er an der Schwelle zur Neuzeit konzipiert wurde. In dem zu Ende gedachten Bogen der Mission verbirgt sich, was man vom 18. Jahrhundert an 'Weltgeschichte' nennen würde. Das konjunkturelle Zusammenspiel von Missionsgeschichte und Weltgeschichte ergab sich aus dem Umstand, dass den Entdeckern, Eroberern und Emissären, den Naturwissenschaftlern und Fernhändlern aus den seefahrenden Nationen Europas von Anfang an Geistliche zur Seite gestellt waren, die auf die Ausweitung der empirischen Menschheit dank der Auffindung zahlloser peoples of colour mit einer planetarischen Dehnung ihre Sendungsbewusstsein antworteten." (S. 296)
Schillernd glänzende Formulierungen:
Ein "Charaktertypus, der sich nach Bedarf als Seefahrer, als Konquistador, als Kolonialgouverneur, als Gutsverwalter, als Soldat, als Pflanzer und Fernhändler und schließlich als Missionar ausprägen ließ." Mit dem katholischen Missionaren betrat eine Variante aktivistischer Mystiker die historische Bühne. Die geistlichen Agenten – anfangs vor allem Absolventen der jesuitischen Willensschule – gingen an ihre Aufgaben mit einen Elan, als wollten sie Alexanderzüge in der Soutane gewinnen. Man könnte glauben, die von den ägyptischem und syrischen Wüstenmönchen in Kampagnen nach innen mobilisierten Kräfte hätten sich nach einem Moratorium von nahezu zwölfhundert Jahren ins Offensive gewendet. (S.296/97)
Mit Reizwörtern und Reizbildern, z.B. "Kapitalismus" werden Pawlowsche Reflexe der Abstoßung erzielt. (S.300-302)
"Was die Theopoesien im Zeitalter national-imperialer Aussendungen betrifft, die von den katholischen, namentlich den franziskanischen, dominikanischen und jesuitischen, später auch von den protestantischen Ordenszentralen lanciert wurden, nicht zu vergessen jene, die die holländischen und britischen Ostindien-Geschäfte begleiteten, so brachten sie Globus-weit das Portrait eines kosmisch kompetenten, expansionslustigen, gemeinschaftsstiftenden und zugleich mit jeder einzelnen Seele intim verwobenen Gottes zur Geltung." (S.302)
"Theologie, die den Unterschied zwischen Eindringlichkeit und Zudringlichkeit wenig respektierte" (S.304)
Levinas "These vom unbedingten Vorrang des 'Anderen'" (S.305) So kommt es zu einer neuen Art der Erbsünde (Augustinus): "unvermeidbare Unterlassungssünde" (S.305), wenn man die Leiden der Menschen in der Ferne nicht ebenso ernst nimmt wie die in unmittelbarer Nähe. (S.305)
Vgl. bei Jaspers "metaphysische Schuld", das "Solidaritätsdefizit unter endlichen Wesen" (S.306)
Kap.19: Von Prosa und Poesie der Suche
"fast alle religiösen Sätze, Regungen und Gefühle" entstehen durch Gewohnheit. (S.307) William unterscheidet in "The Will to Believe" zwischen Glauben durch Enkulturation und "Eigenleistung des erwachsenen Gläubigen" (Sloterdijk, S.306) und sieht sie als Leistung im Unterschied zum üblichen theologischen Verständnis von Glauben als Gnadengabe Gottes.
Coleridge spricht von "the willing suspension of disbeleive" (Sloterdijk, "willentliche Außerkraftsetzung von Ungläubigkeit", S.309)
In den USA wurde Glauben als selbstverständlich angenommen. "Atheismus konnte man sich nur wie einen Hungerstreik gegen das Jenseits vorstellen" (S.310)
Von 7,7 Milliarden Menschen sind 2,3 Milliarden Christen und zwar in 30.000 "Formen rechtlich autonome Kirchentümer" (S. 312) 1,75 Milliarden Muslime (also isind über 50% der Weltbevölkerung Monotheistien) ,1,0 Milliarden sind Hinduisten 0,5 Milliarden Buddhisten, 14 Millionen Juden. Nicht zuzuordnen und damit als Atheisten bezeichnet sind 1,2 Milliarden.. De facto rechnet sicher ein Teil der angeblich Gläubigen dazu, also sind circa 20 % der Menschheit nicht gläubig..
Vom Kinderglauben her kommend "lässt sich die Annahme nicht vermeiden, es gebe auf der Erde mindestens 6 Milliarden ehemalige Animisten" (S. 314)
"Sobald das katholische Angebotsmonopol gebrochen war, strömten in den folgenden Jahrhunderten zahllose Fabrikate auf den nun zu Recht so genannten religiösen Markt – eines mehr als das andere darauf berechnet, den Stimmen der Nachfrage und den Stimmungen von Milieu und Zeitalter Ausdruck zu verleihen." (S. 315) Wer nach Gründen für die individualistische Erosion der gegenwärtigen 'Weltgesellschaft' sucht, sollte nicht bei der neo-antiliberalen Diagnose 'Geist des Kapitalismus' stehen bleiben. Der Wettbewerb um das knappe gut 'Erwählung' reicht bis ins Zeitalter der Europa prägenden Reformation zurück – und von dort in die alten metaphysischen Apotheken des Nahen Orients. (S. 316)
Die Expansion der kürzlich aus Nordamerika nach Brasilien überspringenden Pfingstkirchen spricht eine klare Sprache: es sind die Nachfragenden, die die Bewegung stark machen, indessen deren Designer importieren, wonach am Empfangsort am meisten verlangt wird: Begehrt sind rigide moralische Regeln, schlichte Dogmen, konkrete Aussichten auf sozialen Erfolg, gemeinschaftlicher Halt, Schutz der Kinder, Bindung der Männer an die Familie, Immunisierung gegen Kriminalität und Drogen und nicht zuletzt enthusiastische gemeinsame Feiern. (S. 316)
"In der europäischen Moderne folgte die religiös nachfragende Haltung der einzelnen mehr den Gesetzen der Vermischung als denen der Rechtgläubigkeit. Die Hoch-, Spät- und Nachmoderne ähnelt der hellenistischen Antike durch ihren Synkretismus. Wo sie von Elementen höherer Bildung geprägt war, sympathisierte sie mit Lehren, die nicht aus abgenutzten Traditionen stammten; sie neigte zur Skepsis gegen Kanzelgetön und Dogmatismus. Entkirchlichung und spirituelle Rezeptivität bildeten für sie keinen Widerspruch. Abstrakte Menschenfreundlichkeit war ihr Erkennungszeichen. [...] Wer so gestimmt ist, findet Gehobenes in der Literatur, Erbauliches in der Weisheit aus dem Osten, Erhabenes in klassischer Musik, Pathetisches in Staatsbegräbnissen, Absurdes bei Kierkegaard, Tröstliches in der Diskretion von Hospizseelsorgern, Numinoses vor einer Anselm-Kiefer-Wand und einen Hauch von Höchstem beim Blick von Land's End aufs offene Meer. [...] Das explizit artikulierte Nachfrageverhalten in puncto Wahrheit, Sinn und Lebensführung – in hochreligiöser Sprache: der Erlösung, der Erleuchtung, der Befreiung, der Ungebor[g]enheit – zeigt sich in den unzähligen Varianten einer Poesie der Suche. Sie gehört ins beginnende Zeitalter der Ausbrüche existentiell beunruhigter einzelner aus den Gehäusen des Herkommens, wie sie sich in der indischen Legende vom jungen Siddharta Gautama bekundet, dem überbehüteten Sohn eines vornehmen Kshatriya, eines Angehörigen der Kriegerkaste, der auf seinen vier Ausfahrten aus dem väterlichen Palast die Negativität des Daseins entdeckte. Sie trat ihm vor Augen in den Gestalten eines zerfallenden Greises, eines Fieberkranken in Agonie und eines verrottenden Leichnams; einer der Legenden vom Werden des Buddhas zufolge wurden die drei Erscheinungen dem jungen Shakyamuni von den Göttern wie Testbilder an den Wegrand gelegt, um eine Schocktherapie einzuleiten. [...] Das fünfte Hausverlassen des späteren Buddhas mündet in eine Suche ohne Wiederkehr; ihretwegen ließ er seine Frau, seinen Sohn [...] und 'die Welt' zurück." (S. 317/318)
"Zu den Hauptmerkmalen des Weges gehören: die Begegnung mit einem einzelnen, der auf den asketischen modus vivendi verweist; die Entscheidung zum Aufbruch oder Abschied (buddhistisch: 'Hausverlassen'; christlich: peregrinatio, Nachfolge; hinduistisch: sanyas Rückzug in Entsagung); die Versuch-und-Irrtum-Phase, in Form des Anschlusses an diverse Lehrer und Lehren, gefolgt von umfassenden Enttäuschungen; die große Krise, bis hin zur Erkrankung, Depression und Suizidimpuls; die Resignation, die Aufgabe der Suche; die Ankunft, das Finden, die Erleuchtung." (S. 319) "Erst wenn das vorstellende Suchen resigniert oder, um im mystischen Dialekt zu sprechen, wenn es alles 'läßt', kann das Gesuchte sich im Subjekt als dessen eigener Regungs Herd vergegenwärtigen. Das Gesuchte ist das Suchende. Die großen Ziele: Wahrheit, Gott, Sinn, Natur, Glück, Weisheit, Erlösung, Erleuchtung und so weiter liegen außerhalb des Denkspieles 'Erreichen'. Sie haben keinen anderen Ort als im Spontanitätskern der Unruhe, die sich auf die Suche gemacht hat. (S. 320)
"Die Poesie in der Suche prägen sich in Weg-Geschichten aus. Sie weisen gemeinsam das Merkmal auf, das Aufbruch und Suchbewegungen erzählbar sind, der Zustand des Suchens nach der Ankunft nicht. Da es für einen, der gefunden hat, nichts zu erzählen gibt, kann nachträglich behauptet werden, es habe von vornherein nichts zu finden gegeben." (S. 322)
Kap. 19: Von Prosa und Poesie der Suche
Individualismus
"Wer nach Gründen für die individualistische Erosion der gegenwärtigen 'Weltgesellschaft' sucht, sollte nicht bei der neo-antiliberalen Diagnose 'Geist des Kapitalismus' stehen bleiben. Der Wettbewerb um das knappe Gut 'Erwählung' reicht bis ins Zeitalter der Europa prägenden Reformation und zurück – und von dort in die alten metaphysischen Apotheken des Nahen Orients.
Mit dem Willen zum Glauben kommt der Wunsch nach bevorzugten Glaubensinhalten in den Blick – an erster Stelle die Erwähnung zum ewigen Leben; der Wunsch wurde von der Annahme gestützt, irdische Erfolge erlaubten den Erfolgreichen, auf ihre Erwähnung zu schließen. Seither bewegt sich der Strom moderner Praxis als eine Summe aus Vektoren sich selbst wahrmachenden Wunschdenkens.
Die Expansion der kürzlich aus Nordamerika nach Brasilien überspringenden Pfingstkirchen spricht eine klare Sprache: Es sind die Nachfragenden, die die Bewegung stark machen, indessen deren Designer importieren, wonach am Empfangsort am meisten verlangt wird: Begehrt sind rigide moralische Regeln, schlichte Dogmen, konkrete Aussichten auf sozialen Erfolg, gemeinschaftlicher Halt, Schutz der Kinder, Bindung der Männer an die Familie, Immunisierung gegen Kriminalität und Drogen und nicht zuletzt enthusiastische gemeinsame Feiern. Mit der Trias von Jubel, Arbeit und Struktur orientieren sich die wachsenden pfingstlichen und evangelikalen Kirchen des globalen Südens an der Nachfrage von Populationen, die aus ihren ökonomischen, sozialen, kulturellen und spirituellen Defizit kein Geheimnis machen. Ihr deutlich bekundetes Haltbedürfnis treibt eine Popkultur schlichter Formeln an." (S.316)
Die Rezension von Jörg Seidel lässt mich hoffen: "Im letzten Abschnitt zieht Sloterdijk die Fäden seiner bis dahin scheinbar schwebenden gedankensatten Assoziationen überraschend straff zusammen – hier klärt sich die Frage »wozu?« endgültig – und begründet den notwendigen Autoritätsverlust des Religiösen in der Moderne: Sich verselbständigende »Diesseitspraktiken« haben der Religion und ihren Institutionen die Kompetenzen entzogen, befriedigen mit eigenen Mitteln den numinosen Bedarf; Religion ist »der Rest, der nach dem Abzug von allem bestehen bleibt, was in die Wissenschaft, die Ökonomie, das Justizwesen, die Philosophie usw. abwandert« und eine »Beihilfe zur Auslegung des Daseins« darstellt. Der Begriff der Religionsfreiheit erhält hier eine doppelte Bedeutung: die Religion sei frei, ihre sozialen Funktionen zu entlassen, sie müsse den sozialen Ensembles keine Zusammenhaltsmotive mehr liefern – diese sind also auch frei von der Religion –, sie müßten sich zum zweiten einer neuen Konkurrenz um die Existenzdeutung stellen, namentlich der Philosophie und der Künste. Religion erringt eine »erhebende, skandalöse Nutzlosigkeit, sie ist so überflüssig wie die Musik«. Sie erlangt Luxuscharakter, ihre Institution dürfe nun den Rang einer Körperschaft des öffentlichen Rechts beanspruchen." (Hervorhebungen von Fontanefan)