Wer kann aber nun dem Grasso Lucido entrinnen? Eine Volksgruppe steht auf irgendeiner Straße, eine deklamierende Stimme erschallt es aus ihrem Kreise. Wir eilen herbei: Was gibt es hier? «Il legittimo Grasso Lucido.» Ein ganz frischer, blutroter Maueranschlag dort an der Ecke - wir eilen ihn zu lesen, denn was mag es geben? «Il legittimo Grasso Lucido.» Wir sitzen im Café Ruspoli - ein Zettelträger verteilt Zettel - was gibt es? «Il legittimo Grasso Lucido.» Dieser legitime Grasso Lucido hat also auch ein unbestrittenes Recht, die Augen aller Welt auf sich zu ziehen, ja er ist nichts Geringeres als die im Jahre 185o nach Christi Geburt mit einer silbernen Medaille patentierte Glanzwichse, welche gar keine korrosiven Zumischungen von Vitriol oder andern Säuren enthält, sondern jedes beliebige Leder nicht allein im höchsten Maß geschmeidig, sondern auch in einer ganz wunderbaren und unglaublichen Weise dauerhaft macht.
Sehen wir also einer solchen Vorstellung des Grasso Lucido unter dem Obelisk vor dem Pantheon zu. Dort stehen neben einem Tisch, welcher mit blechernen Wichsbüchsen überladen ist, zwei dieser Straßensophisten und reden stundenlang in nie endendem Redefluß über die Vortrefflichkeit des Grasso Lucido. Sollte man dem größten Philosophen die Aufgabe stellen, etwas zum Lob einer Glanzwichse zu sagen, so würde er in ein paar Sätzen damit zu Ende sein; aber dieser Mann dort, in schmierigem Rock und langer Samtweste, welche beide gleichsam mit Glanzwichse überzogen sind, spricht über die Materie des Grasso Lucido ohne Aufhören mehrere Stunden fort, immer zur Sache und immer mit ganz neuen Argumenten und genialen Ansichten von dem, was eigentlich der Grasso Lucido sei, und was er für ein Verhältnis zur Ökonomie, zur menschlichen Gesellschaft, zum verschiedenartigsten Leder, zur Kultur, zur Witterung, zur Sonne und zu den Sternen habe, und welches sein Einfluß auf das menschliche Gemüt sei.
In der ersten halben Stunde fallen dem Zuhörer die Schuppen von den Augen, er wird von der Vortrefflichkeit des Grasso Lucido beinahe überzeugt; allmählich aber beginnt er die Einzigkeit und ungeheuere Wichtigkeit des Grasso Lucido zu begreifen und gerät in Verwunderung, wie er bisher ohne ihn nur habe existieren können. Immerfort aber peroriert der Sophist vor dem Pantheon. Gorgias, Protagoras und Karneades sprachen nie schöner über die Gerechtigkeit als dieser Mann über den Grasso Lucido. Er verdient, daß man ihm in Padua einen eigenen Katheder über den Grasso Lucido stifte; er selbst nennt sich bereits Professor und wahrscheinlich auch Mitglied mehrerer gelehrter Akademien, und seinen Kollegen desgleichen; denn, sagt er, seht diesen Professore, er hat elf Bände über den Grasso Lucido geschrieben. «Nicht wahr, Professore, hast du es nicht in deinem zehnten Bande auseinandergesetzt, daß dieser echte und in ganz Europa einzige Grasso Lucido eine so wunderbare Eigenschaft habe, daß er selbst das härteste Ochsenleder durchdringt und so weich macht wie ein Stück Samt?» Der Professor bejaht es, daß er dies im neunten Bande von dem Grasso Lucido geschrieben habe, und ergießt sich nun, da jener heiser geworden ist, von neuem in das Lob dieses erstaunlichen Produkts.
Er demonstriert zuerst, was der Grasso Lucido an sich sei. «Man will behaupten», sagt er, «daß in diesem Grasso Lucido vernichtende Säuren und korrosive Substanzen enthalten seien - ich frage euch nun: Kann ein lebendiger Mensch Vitriol verschlucken? Glaubt ihr wirklich, daß es einen Mann gebe, der sich mit Schwefelsäure den Magen anfüllen könne? Seht her, ich will euch den Beweis liefern, denn ich will vor euren Augen diesen Grasso Lucido essen, und er wird mir weder den Tod geben noch Übelkeit zuziehen, vielmehr einen solchen Wohlgeschmack erregen, als wäre es die allersüßeste Polenta.» Hierauf verschlingt der Professore vor aller Augen eine ziemliche Quantität von Grasso Lucido, die Zuhörer aber sind bis in die Eingeweide hinein überzeugt, daß in diesem Präparat kein Vitriol enthalten sei. «Kauft also», ruft der große Philosoph, «profitiert von diesem höchst ökonomischen, genießbaren, unschuldigen und einzigen Grasso Lucido, das Schächtelchen nur zu 13 Bajocci. Sagte ich 13? Nein, nehmt es für 12. Sagte ich 12? Seht, ich gebe es für 10.»
Um nun zu beweisen, daß der Grasso Lucido alle ledernen Dinge blank mache, und zwar ohne Anstrengung, nimmt er zuerst ein Stück Papier und wichst dasselbe mit der größten Gemächlichkeit und mit einem Lächeln des Wohlbehagens; dann ergreift er einen Jungen und wichst ihm unter beständigem Deklamieren einen Stiefel. Der Junge strahlt im Antlitz vor Freude, denn es ist ihm noch nicht passiert, daß ihm jemand die Stiefel gewichst hat, noch hat er überhaupt, solange er lebt, gewichste Stiefel getragen. «Seht», sagt der Professore, «dieser Stiefel war eben erst gleichsam der Stiefel eines Schweins, und jetzt erglänzt er wie das reinste Silber, ja, ein kaum geborenes Kind könnte ihn mit leichtester Mühe blank machen.» Der Junge geht mit einem gewichsten und einem ungewichsten Stiefel von dannen, und drei Straßen entlang läßt er kein Auge von seinem blanken Stiefel und scheint sich und sein Glück darin zu spiegeln.
(Gregorovius: Wanderjahre in Italien - Römische Figuren
Ein Sohn seiner Zeit
vor 20 Stunden
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