30 Dezember 2012

100 Jahre Universität Göttingen: Das Fest der Bürger

"In der Voraussicht, daß die Einladungen zum Banket des Königs nur wenige Frauen und Töchter aus dem Bürgerstande treffen würden, welche seit Wochen thätig gewesen waren, für den Schmuck der Stadt an diesen Festtagen zu arbeiten, hatte ein Comité jüngerer Leute, zu dem der Candidat der Advocatur, Bruno Baumann, gehörte, einen Subscriptionsball veranstaltet, der in denselben Räumen wie der Königsball stattfinden sollte. Die Unternehmer hatten mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen, mit der akademischen Bureaukratie, welche ihre paar Sessel und andere Utensilien nicht dem profanen Publikum überlassen wollte, mit der Polizei, welche eine Menge unnützer Präventivmaßregeln zu treffen sich verpflichtet glaubte, mit dem Stallmeister Ayerer, welcher die »Boutike« von seiner offenen Reitbahn so früh wie möglich entfernt und den Tanzsalon in den Winterreitsaal verwandelt zu sehen wünschte. Als alle diese Dinge überwunden waren, hatte der Magistratsdirector Ebel die Herablassung, sich und noch ein Magistratsmitglied an die Spitze des Comité stellen zu lassen und der Sache den Charakter einer von der Stadt gegebenen Festlichkeit zu vindiciren. Die jungen Unternehmer übersahen die Tragweite einer solchen Aenderung, sie sollten aber schon nach wenigen Stunden die Bedeutung fühlen. Der Subscriptionsball sollte um acht Uhr seinen Anfang nehmen. Da zu dem gestrigen Königsballe eine einfache Pastorentochter gar nicht, noch weniger eine sonstige »Landviole« eine Einladung bekommen hatte, so war der Zudrang zur Subscription noch am Tage des Balles selbst ungemein groß. [...]
Der Beginn des Balles war auf acht Uhr bestimmt, um zehn Uhr sollte soupirt werden, allein eine Menge tanzlustiger Damen hatte sich schon eine halbe Stunde vor dieser Zeit eingefunden, um einen passenden Platz zu finden, oder weil man es mit den Freundinnen verabredet hatte. Auch die jungen Herren, die damals noch nicht so tanzfaul waren wie heute, waren Schlag acht Uhr sämmtlich am Platze. Man hatte zwar nicht, wie am gestrigen Tage, zwei Musikcorps, sondern nur den Stadtmusikus, verstärkt durch einige Violinen und Clarinetten des mündener Jägercorps, dagegen aber hatte man die ganze große Reitbahn als einen Tanzsalon, und wer diesen durchwalzte, der hatte etwas Tüchtiges geleistet. Nun schlug es acht Uhr, schlug acht ein Viertel, ein Halb, das Tanzcomité war vollständig versammelt, bis auf den einen, den Chef der Stadt, den Würdenträger des Subscriptionsballes.
Endlich gegen drei Viertel acht Uhr erschien er in der vollen Würde seines Amtes, aber ohne seine Damen, die noch eine halbe Stunde auf sich warten ließen. Das galt für vornehm. Wie lang den jungen tanzlustigen Leuten die Stunde von acht bis neun wurde, ist unmöglich zu beschreiben. Die tanzlustigen Damen versuchten auf alle mögliche Weise das Tanzcomité zu veranlassen, den Tanz beginnen zu lassen, und die »Aufforderung zum Tanz« von Weber, die man zu Vertreibung der Zeit aufspielen ließ, dämpfte das Feuer nicht, sondern verstärkte es.
»Dreihundert oder vierhundert Mann können doch unmöglich darauf warten«, hieß es, »bis es der Magistratsdirectorin und ihren beiden Fräulein Töchtern gefällt, mit ihrer Toilette fertig zu werden?« Auch außerdem versprach es langweilig, steif zu werden. Die beiden Geschlechter saßen oder standen bis auf wenige Ausnahmen getrennt; die Damen auf den etwas erhöhten Tribünen hatten schon von vornherein angefangen, sich nach Ständen zu sondern. Den Platz unter dem Orchester hatten die Magistratsdamen eingenommen, daneben hatten sich die Frauen der königlichen Beamten, die sich höher dünkten, besonders gruppirt, eine dritte Gruppe bildeten die Frauen und Töchter der Kaufleute, Aerzte und Advocaten, dann kamen die Pastorentöchter und sonstige Landviolen, der eigentliche Bürgerstand hatte sich ganz auf die südliche Seite zurückgezogen, dem Orchester gegenüber, um sich dort wieder nach Reichthum oder sonstigen Familien- und andern Beziehungen in Gruppen zu sondern. Durch die Fürsorge der göttinger Freunde und Baumann's hatte die uns befreundete wiener Familie nebst Heloise von Finkenstein im Kreise einiger göttinger Professorenfrauen, die sich wiederum von den übrigen sonderten, nahe dem Eingange in den Banketsaal einen guten Platz gefunden.
Die Herren standen in der Mitte des Saales, viele jüngere Bürger, Angestellte, die gestern keine Berücksichtigung gefunden, vielleicht zweihundert Studenten, die mehr oder weniger eine Herzensflamme unter den Tänzerinnen hatten; man unterhielt sich von einer Menge tragikomischer Scenen vom gestrigen Königsballe. Was hatte die Tochter des Ministers des Innern, die schöne Augusta, sich gestern sagen lassen müssen? Wo hatte Graf von Schlottheim sich am Morgen gefunden? Was war aus den funfzig Flaschen Wein geworden, die eine lustige Compagnie ergaunert und, um solche vorläufig zu sichern, hinter der Mauer, an einem Orte, wo Feuerleitern oder sonstige Dinge aufbewahrt werden, verborgen hatte, um noch mehr zu acquiriren? Jeder hatte irgendein Abenteuer gehabt, auch an Liebesabenteuern, Bekanntschaftmachen, Bestellungen auf die nächsten Tage hatte es nicht gefehlt. Endlich gab der Magistratsdirector das Zeichen zum Beginn des Tanzes, die »Faustpolonaise« rauschte von dem Orchester herab, und, die Frau des Stadtsyndikus zur Seite, eröffnete er mit feierlich langsamem Hahnentritt die Polonaise. Ein Theil der schwerfälligen alten Welt, Bureaukraten und Würdenträger folgten ihm, alle mit häßlichen aufgeputzten Damen am Arme, die ihre Toiletten, welche seit einem halben Jahre Gegenstand ihrer Gedanken und Gespräche gewesen waren, nun wenigstens...[...]

Bruno Baumann schloß sich, die schöne Heloise von Finkenstein am Arme, gleichsam als Repräsentant der jungen Welt, der eine goldene Zukunft noch lächelt, der Welt des Werdenden, dem steif voranschreitenden Zopfe an. Er hatte auf dem Wege nach dem Hohenhagen mit seiner Tänzerin schon alle Touren, die man tanzen wolle, überlegt, denn er war von den Unternehmern als Vortänzer bestimmt gewesen. Nun hatte der Magistratsdirector diese Rolle übernommen und diesem schien die Polonaise in einem Umschreiten des Saales zu bestehen. Es war eine lange Colonne, die dem Würdenträger folgte. Als er wieder an seinem Platze angekommen war und im Begriff stand, die Frau des Syndikus mit einem feierlichen Diener zu ihrem Platze zu führen, stand Baumann am entgegengesetzten Ende des Saals, er kannte den Musikdirigenten gut und dieser Baumann's Art, die Polonaise zu tanzen. Bruno winkte mit dem Taschentuche. Die Musik begann in ein schnelleres Tempo zu fallen, und nun fiel er mit seiner Tänzerin von dem Zuge ab, dem er bisher gefolgt war, und durcheilte, mit schnellerm Tritt die Tänzerin um sich herumdrehend, die umgekehrte Richtung, um der alten Welt Zeit zu lassen, sich abzuthun und ihre Plätze zu finden. Seine Nachmänner folgten und bald hatte sich in dem schönen Saal ein buntes Gewirr, wie es die Polonaise erheischt, und wie die göttinger Jugend es durch Hölzke's, des Tanzlehrers, Unterricht allgemein kannte, verbreitet, jetzt bildeten alle Tänzer eine große nicht enden wollende Schlange, die sich selbst in den Schweif biß, dann fielen die Herren zur Linken, die Damen zur Rechten ab, um sich am andern Ende des Saals zu fangen, bildeten einen großen Kreis, liefen Sturm und durchbrachen die Gegenseite. Man wickelte sich zum Knäuel auf und wickelte sich ab, bildete drei große Windmühlenflügel, in deren Winkeln gewalzt wurde, legte eine Ecossaisentour ein, die jedes Tanzpaar mit den übrigen in Verbindung brachte, und vergnügte sich sehr. Der Magistratsdirector hatte das Weitertanzen verhindern wollen, er fühlte sich in seiner Amtswürde verletzt und hat Bruno Baumann diesen bösen Streich, wie er ihn nannte, nie vergessen. Aber das Eis des conventionellen Tanzes war gebrochen, der steife Ton war dahin, die Jugend hatte den Sieg davongetragen, von jetzt bis zum andern Morgen herrschte nur Lust und Frohsinn. »Ach welch ein schöner Ball«, seufzten die schönen Göttingerinnen noch einige Jahre später, »und was wäre daraus geworden, wenn der Dr. Baumann nicht die langweilige Ebel'sche Polonaise in eine lustige umgewandelt hätte!«"
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 6. Buch, 5. Kapitel

29 Dezember 2012

Das hundertjährige Jubiläum der Georgia Augusta 1837

Das Fest des Königs

"Ernst August, der sein Quartier auf der Domäne Weende aufgeschlagen, gab in den Räumen der Paulinerkirche unter dem sogenannten historischen Saale der Bibliothek an allen drei Fasttagen Diners, zu denen neben Diplomaten und hohen Herrschaften, Abgesandten auswärtiger Universitäten, göttinger Hofräthen und Professoren, auch jeden Tag an funfzig bis sechzig Studenten – aus der Zahl der Offiziere und Fahnenträger – eingeladen waren. Dem jungen Nordamerikaner als Träger des Sternenbanners traf die Einladung für den zweiten Tag. Ernst August war splendid, er ging den Gästen mit gutem Beispiele voran, und alt wie jung hatte man den Weinen der königlichen Tafel etwas reichlich zugesprochen; man konnte es den vielen Herren, »die über Leichen dinirt hatten«, wie Dahlmann sagte, im Ballsaale der Reitbahn deutlich ansehen, daß sie Gäste des Königs gewesen waren.  [...]
Studenten pflegen nun aber weder Freunde von Thee noch von Mandelmilch zu sein und von Sodawasser nur am Morgen nach einem Commerse. Man begehrte also Wein, der alte Schröder, der Hofkellermeister, weigerte sich aber lange standhaft, Wein vor Beginn des Souper zu verabfolgen; als indeß der Sohn des Hofpredigers kam und für seinen Vater um eine Flasche Wein bat, machte er eine Ausnahme und holte sogar eine Flasche Steinberger Cabinet herbei, die beste Sorte, welche Ernst August im Keller führte. Wehe, dreimal wehe dieser Ausnahme, die von vielen neidischen Augen gesehen war. Es traten nun verschiedene alte Herren an das Weinbüffet und begehrten Wein, darunter Leute bei Hofe wohlbekannt und angesehen. Man konnte ihnen nicht abschlagen, was man dem Sohne des Hofpredigers gewährt hatte. Bald trat einer nach dem andern heran und man sagte: »Wir alle sind Gäste des Königs, und was dem einen recht ist, ist dem andern billig!« Es wurde nach und nach jedem, der es forderte, eine Flasche Wein gereicht, wenn auch nicht Steinberger Cabinet, Gläser standen auf der Tafel. Da bot der Eßsalon nun einen sonderbaren Anblick, mehr als fünfhundert Personen saßen mit den Rücken gegen die Tafeln, jede mit einer Flasche Wein zu ihren Füßen oder zwischen den Beinen, das Glas in der Hand. Es wurde fortwährend eingeschenkt und nach burschikoser Manier vor- und nachgetrunken, und ob auch ein Generalsuperintendent ein freundlich saueres Gesicht machte, wenn ein Bursch, ihm unbekannt, zu ihm trat und sagte: »Altes Kamel, es kommt dir eins«, so mußte er doch Bescheid thun und nachtrinken.  [...]
Im Banketsaal wurden inzwischen die Kronleuchter angezündet, die Studenten, welche Wein- und Küchenbüffet erobert hatten, zwangen, den Säbel in der Hand, die goldbetreßten Diener und eine Menge in Uniform gesteckter Stiefelputzer und Aufwärter, aufzutragen, was zu haben war, während andererseits die Köche zu retten und zu verstecken suchten, was zu retten war, und der alte Schröder die ordinärsten Weine massenhaft auf die Tafeln schickte. [...]
Das Tanzen hatte aufgehört, man stand in Gruppen, um zu berathen, was zu thun sei, Magnificus hatte die nüchtern gebliebenen Senioren und Consenioren um sich gesammelt, um zu berathen, was geschehen könne; Baumann zog einen der letztern beiseite und gab den Rath: »Laßt die Musikbande der Dragoner von dort oben kommen, zieht in geordnetem Zuge in den Banketsaal, macht dort an drei Orten halt und laßt, während die Musik schweigt, laut verkünden: alle braven Burschen würden aufgefordert, dem Hofrath Mühlenbruch, der wegen Krankheit zu Hause geblieben und dort seinen Geburtstag feiere, ein Vivat zu bringen, und ziehen dann unter Blasen des »Gaudeamus igitur« durch den Tanzsaal im Polonaisenstil ins Freie; ich wette, kein halbes Dutzend bleibt sitzen, und wer sitzen bleibt, der wird durch die Scheuerweiber, die nöthig sein werden, hinausgescheuert und hinausgefegt.« Der Rath fand Beifall, der Cordon wurde aufgelöst, die Offiziere, die ihn gebildet hatten, zogen an der Tête des Zuges in den Banketsaal, in der Mitte wurde halt gemacht, die Musik schwieg, ein Herold forderte zu dem Zuge nach Mühlenbruch auf. Inzwischen hatten sich im Tanzsalon alle Anwesenden aus dem einen Theile in den andern gezogen, sodaß man, als die Tête und nach ihr die Musik wieder erschien, in der freien Hälfte des Saales einen halben Kreis beschreiten konnte. Die Damen, welche in dem Banketsaale wider ihren Willen bis dahin festgehalten waren, schlichen sich, als der Cordon geöffnet war, zum größern Theil in den Tanzsaal, andere wurden von ihren Tischnachbarn befreit, sobald der Zug den Tanzsalon verließ. Es waren höchst komische Gestalten, die sich hier im Zuge durch den Saal bewegten, alt und jung. Der Banketsaal wurde aber leer, er konnte gereinigt und von neuem gedeckt werden, und wenn auch manche delicate und seltene Speise verschwunden war, so war doch noch so viel übrig, um die Tanzlustigen, welche sich wieder nach dem Anfange des Tanzes sehnten, zu befriedigen. Die ältern Freunde eilten nach Hause, um zur Ruhe zu kommen, nur Hermann Baumgarten blieb zum Schutze der Damen, die bis zum Morgen tanzten."
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 6. Buch, 5. Kapitel

28 Dezember 2012

Johann Hermann Detmold, Freund Heines und konservativer Reichsminister

"Detmold, der künftige Reichsminister, war damals außer Hannover noch wenig bekannt, er war ein Advocat ohne Praxis, weil ihm diese zuwider war, und lebte als Junggeselle im Hause seines Vaters, des Hofmedicus, in der Duvenstraße. Detmold hatte bisher nur die »Anleitung, in drei Stunden ein Kunstkenner zu werden« geschrieben, eine Satire auf einen privilegirten Kunstkenner und Galeriebesitzer. Aber der gesunde und kräftige Witz, der in dem kleinen Buche wehte, hatte ihn zu der ersten literarischen Notabilität in Hannover gemacht, und das Publikum wollte denn in den »Hannoverischen Kunstblättern« von Osterwald nur Recensionen Detmold's über das noch neue Institut der jährlichen Kunstausstellung lesen.
Er hatte ein Jahr in Düsseldorf in der dortigen Kunstwelt gelebt, da er selbst mit Talent und Fertigkeit zeichnete, und war erst vor einiger Zeit aus Paris zurückgekommen, wo er mit Heinrich Heine die freundschaftlichen Beziehungen von Göttingen fortsetzte und für das »Morgenblatt« und den »Pariser Kunstsalon« schrieb.
Wie es gekommen, daß er, der bisher nur Abneigung gegen die Politik gezeigt hatte, der sich einem künstlerischen Dilettantismus hingab, der nur mit hannoverischen Künstlern, wie Marschner, Osterwald, Reichmann, Andree lebte und am liebsten die geistreiche Unterhaltung in der »Kutsche«, die sich damals in »Lemförde« umtaufte, beherrschte, sich auf einmal auf die Politik warf und wirklicher Centralpunkt aller Opposition gegen den Umsturz des Staatsgrundgesetzes wurde, ist vielen unbegreiflich gewesen. Die ihn näher kannten, wissen aber, daß er, der, wie Buchholz sagte: »seinem Talente nach alles Mögliche, nur nicht sentimental oder Betbruder war«, von einem Ehrgeize sondergleichen gestachelt wurde. Die vertrauten Beziehungen zu dem Stadtdirector Rumann, der bisher in Hannover eine Art Nebenregierung neben dem Ministerium gehabt und einen großen Einfluß auf den Vicekönig Herzog von Cambridge ausgeübt hatte, nun aber von Ernst August brutal behandelt wurde, mochten auch wol mitgewirkt haben.
Detmold fand in dieser politischen Thätigkeit, namentlich den Intriguen, dem alle Fäden in der Handhaben, Heilung von dem großen Weltennui, das seine Altersgenossen, wie er selbst, angesteckt von Byron, bisher empfunden hatten. Detmold, obgleich er am Tage sein Parterrestübchen und seine beiden großen Kater selten verließ, wußte doch alles, was in Hannover passirte. Es war, obgleich er keine Geschäfte führte, bei ihm morgens von elf Uhr wie in einem Taubenschlage, jedermann von der Partei des Staatsgrundgesetzes brachte ihm Nachrichten, er erfuhr, was im Cabinet, was in Schelenburg, was in der Justizkanzlei und den Stadtgerichten in Beziehung auf öffentliche Zustände verhandelt war, er kannte in Hannover jedermann, den zu kennen überall der Mühe werth war, er hatte sich mit Stüve und den sämmtlichen bedeutenden und zuverlässigen Mitgliedern der Zweiten Kammer, von der man damals noch hoffte, daß sie bald wieder berufen würde, in Verbindung gesetzt, um eine geregelte Opposition anzubahnen. Detmold kannte die Menschen, aber nicht nur oberflächlich, nach Titel und Würden und nach dem Anscheine, den sie sich selbst geben, er kannte genau ihr Wissen und Können, ihre Bestrebungen und Verbindungen, ihre Schwächen und Fehler. Diese ungemeine Kenntniß der Personen und Dinge, bei sarkastischem Witz, machte ihn denn auch zu einem gesuchten Gesellschafter, um den sich gern ein Zuhörerkreis versammelte.
Der angehende Politiker kannte auch Baumann schon als einen talentvollen und strebsamen jungen Mann und behandelte ihn mit Zuvorkommenheit. Er theilte ihm über die Verhältnisse des Landes solche Anschauungen mit, von denen er wünschte, daß sie in öffentlichen Blättern verbreitet würden; er charakterisirte die bei dem beginnenden Drama mitwirkenden hauptsächlichen Persönlichkeiten, machte ihn auf diese und jene Schrift, aus der er sich über frühere hannoverische Zustände belehren könnte, aufmerksam und verabredete endlich Korrespondenz mit ihm."
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 6. Buch, 4. Kapitel

25 Dezember 2012

Göttinger Revolution III

"Es wird sich kaum bezweifeln lassen, daß, wenn man die Leute in der Universitätsstadt ruhig hätte fortwirthschaften lassen, ohne achttausend Mann Truppen zusammenzuziehen, die sogenannte Revolution wahrscheinlich ebenso bald zerfallen wäre, als sie jetzt zu Ende gebracht wurde. Ein Leben, wie man es seit acht Tagen in Göttingen führte, läßt sich nicht wochenlang aushalten. Kein Handwerker arbeitete, auch wenn die Arbeit dringend erforderlich war, es sei denn, daß es auf Befehl des Gemeinderaths geschah und sich etwa um das Schmieden von Piken, deren einige hundert angefertigt wurden, oder um das Setzen und Drucken von Decreten und Bekanntmachungen handle. Alle Philister waren, wenn sie sich nicht auf der Wache befanden, oder zur Parade aufmarschiren mußten, vom Morgen bis zum Abend im Wirthshause, um ihr Dünnbier (Klapütt genannt) und den reinen Korn dazu zu trinken, zu politisiren und die Freunde, welche noch nicht eingeschlachtet hatten, mit den Resultaten der diesjährigen Weiß-, Knack-, Leber-, Rothwursternte näher bekannt zu machen. Diejenigen, welche erst Ende Januar oder im Februar einschlachteten, bezahlten für die Wurstlieferanten natürlich die Getränke und versprachen ihrerzeit frische Wurstlieferung. Die Hauptwachen aber auf dem Rathhause und in der Bosia sowie die Wachen an den Thoren waren weiter nichts als große Kneipen, in denen es vom Morgen bis in die Nacht lustig und guter Dinge herging, bis einer der Wachthabenden in die »Todtenkammer« gebracht werden mußte, um seinen Rausch auszuschlafen, oder sich auf die Pritsche legte, um auszuruhen. Da wurde gesungen, gezecht, Karten gespielt vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen. Was aber das Beste war, das alles ging auf Regimentsunkosten, wie man es nannte. Der wachthabende Offizier requirirte, die Beschlußnahme des Gemeinderaths, daß Requisitionen von diesem signirt und unterzeichnet werden müßten, wurde als zu weitläufig und formell nicht mehr beachtet. Man hielt es für genügend, daß die beiden Offiziere von bürgerlicher und akademischer Seite sich über das Bedürfniß der Wachtmannschaft verständigten. [...]
Diese Bons und Requisitionen hatten in den Rauchkammern der göttinger Hausfrauen binnen acht Tagen mehr Verwüstungen angerichtet als sonst die Monate vom Januar bis zum April; selbst die nur halb geräucherten Blasenwürste, die Sülzen, die für das Osterfest reservirten gesalzenen, jetzt im Rauch hängenden Schweinsköpfe wurden nicht geschont. Wenn zwei Bürgerfrauen zusammenstanden, so konnte man versichert sein, daß sie sich gegenseitig ihr Leid klagten. »Mein Mann hat heute unsere letzte Rothwurst – die Knackwurst ist schon seit drei Tagen aufgefressen – mitgenommen, die Zungenwurst im Magen, die wir sonst Pfingsten auf Mariaspring zu verzehren pflegten«, so klagte die Schusterfrau; »Gesell und Lehrling thun seit acht Tagen keinen Handschlag, essen aber das Doppelte, für die Butter wollten die Bauern aber gestern acht Groschen haben.« [...]
Während in der Stadt viele Kugeln gegossen und Patronen gemacht wurden, weil man an einen ernstlichen Kampf dachte, hielt die neugebildete Schützencompagnie auf dem Schützenhofe eine vertrauliche Versammlung, von der man alle, die man im entferntesten für compromittirt hielt, ausschloß. Dort wurde festgesetzt: Niemand soll fortan im Gemeinderathe sitzen, dem nicht das wahre Wohl und Wehe der Stadt am Herzen liege (das heißt, der nicht mit Grundeigentum angesessen sei). Kein Beschluß sollte ohne Beisein sämmtlicher Gemeinderäthe gefaßt werden können; und da diese nie zusammenzubringen waren, konnte natürlich überhaupt ein Beschluß nicht mehr gefaßt werden. Niemand dürfe bewaffnet in den Gemeinderath kommen (Herr Eberwein hatte infolge der Drohung des Dr. Rauschenplat, ihn todtzuschießen, einen Tag im Bette zubringen müssen). Der Hauptbeschluß aber lautete: Jedes Gemeinderathsmitglied darf frei seine Meinung sagen (die Beschlußfasser gingen von der Ansicht aus, daß das bisher im Gemeinderathe nicht möglich gewesen sei). Diese Beschlüsse der Schützencompagnie waren noch in der Nacht allen Wohlgesinnten der übrigen Compagnien mitgetheilt; zugleich hatten sich die Hauptführer der Contrerevolution, wenn man so sagen darf, mit dem seit acht Tagen unsichtbaren Magistrat, der Polizei und den akademischen Behörden in Verbindung gesetzt, diese ihres Schutzes versichert, und nachdem die Verständigung erfolgt war, krochen Rathsdiener, Polizeidiener und sonstige Beamte aus ihren Mauslöchern, in denen sie sich bisher verborgen gehalten. Unser Freund hatte in seiner ruhigen Straße (der Schwarze Bär ihm gegenüber kam erst nach zwanzig Jahren durch Hofrath von Siebold ins Renommée) vortrefflich geschlafen, auch den Tag vorher dem Onkel Maschinenbauer, der immer wünschte, daß er härter werden möge, voll Selbstbewußtsein die Thaten der letzten Tage gemeldet. Als er am andern Morgen nach dem Rathhause ging, um seine Functionen zu besorgen, fand er das Zimmer des Gemeinderaths von vier Mann des Schützencorps besetzt, die ihm den Eintritt weigerten, da ihm, dem Nichthausbesitzer, das Wohl der Stadt nicht am Herzen liege. Raths- und Polizeidiener brachten von Haus zu Haus eine Proclamation des Herzogs von Cambridge, welche unbedingte Unterwerfung forderte. Der Hubalkanski in Nörten ließ an alle Ecken großgedruckte Plakate anschlagen: »Ich befehlige Truppen, die ihre Schuldigkeit zu thun wissen und ihre Ehre daransetzen, ihrem Anführer bis in den Tod zu folgen.« Es war stiller in der Stadt. Die gewohnten Parademärsche der Bürgercompagnien und akademischen Garde mit Musik, der Marseillaise natürlich – fanden nicht statt. Die Weiber steckten die Köpfe zusammen und erzählten sich, daß der »Meister« stark nach Heringssalat verlange und von dem Gemeinderathe nichts mehr wissen wolle. Gottfried Schulz war froh, von den Functionen eines Schriftführers im Gemeinderathe entbunden zu sein, über die weitern Folgen machte er sich keine Besorgniß. [...]
Ein alter Herr, tief in Pelz gehüllt, stieg aus und befahl dem Postillon, sofort für neue Pferde nach Dransfeld zu sorgen. »Aber Teufelsjunge«, redete der Alte Gottfried an, »was machst du denn da für Streiche? Willst du dich an den Galgen bringen oder im Zuchthause zu Celle zehn Jahre Wolle spinnen? Ha! weißt du noch nicht, daß ein Schulz keine Revolution machen kann? Hättet ihr und alle euere Krähwinkler und Doctoren nur ein Fünkchen Verstand gehabt, so wäret ihr heute vor acht Tagen, statt hier Parademärsche abzuhalten, stracks auf Hannover gezogen, wenn auch nur mit vier- oder fünfhundert Mann. Dann hättet ihr heute, was euer Herz begehrt, denn ihr wäret zu Tausenden dort angekommen, wo alles den Kopf verloren hatte, was zum Adel und der königlichen Dienerschaft gehört. »Jetzt habt ihr nichts! Und dann müssen eine Menge Verräther unter euch sein und schlechte gemeine Subjecte im Gemeinderathe selbst, die sich auf Kosten anderer rein zu waschen suchen. Sieh Gottfried, du Buttermilchseele, Theologenblut, du blonder Sohn meines blonden Bruders, du giltst in Hannover für einen der Schlimmsten unter den Schlimmen, und zwölf Jahre Zuchthaus sind das mindeste, was dir die hannoverischen Juristen – meine Freunde, die Freigesinnten nämlich, zudictiren. Die Aristokraten sähen dich lieber am Galgen. »Man hat dein Manuscript der Ansprache an die Soldaten nach Hannover geschickt und dich dort als Haupträdelsführer angeschwärzt.« Der Neffe wollte sprechen. »Brauchst dich nicht zu entschuldigen, Junge, ich halte dich leider für zu unschuldig, will aber nicht, daß ein Schulz aus meiner Familie erst ein halb Dutzend Jahre in Untersuchungshaft, dann ein Dutzend Jahre im Zuchthause sitzt. Sollst fort von hier. Habe mir für meinen Aeltesten, der ja ebenfalls Gottfried heißt, wenn wir ihn auch Karl nennen, von Freund Rumann einen Paß nach Brüssel ausstellen lassen. Rumann hat in der Eile vergessen, daß mein Junge schwarze Haare hat wie ich, und sich dein Signalement von mir in die Feder dictiren lassen. Siehe hier den Paß, selbst die Sommersprossen in deiner weißen Fratze und der blonde Backenbart sind nicht vergessen. Stand: Ingenieur, Zweck der Reise: Maschinenbau. Das darfst du nicht vergessen. »Nun mache dich reisefertig, in einer halben Stunde fahren wir nach Kassel; den Hasenbraten, der da auf dem Tische steht, wollen wir unterwegs verzehren.« [...]
Als der Gymnasiast am andern Morgen erwachte, kam ihm die Stille auf den Straßen ganz unheimlich vor. Ohne Kaffee zu genießen, machte er sich auf, die Stadt zu durchwandern, die wie ausgestorben war. Auf dem Rathhause sah er ein halbes Dutzend alter Weiber damit beschäftigt, den großen Rathhaussaal zu scheuern, sonst war niemand dort. Er ging zum Weenderthore. In der Nacht hatte man die Verbarrikadirung hinweggeschafft, und Maurer waren beschäftigt, das eingerissene Straßenpflaster wiederherzustellen. Bürger und Studenten sah man nicht; die Kirchenglocken läuteten zum Gottesdienste, aber nur einige alte gebückte Mütter schlichen zur Kirche. Um neun Uhr rückte ein Bataillon Jäger in die Stadt und besetzte das Rathhaus und die Thorwachen. Dann zogen Dragoner ein, darauf folgten zwei leichte Feldbatterien. Bald waren alle Hauptstraßen von Soldaten gefüllt. Die Infanterie schüttete auf Commando das Pulver von den Pfannen. Die Rebellenstadt sollte sehen, daß man es ernst gemeint hatte. [...]
Die meisten Unruhestifter hatten sich durch die Flucht gerettet, nur einige waren gefangen. Drei bis vier Tage war die Stadt von sechstausend Mann Soldaten überfüllt, und die Hannoveraner wütheten, zum Theil von den Offizieren gehetzt, in ihrem eigenen Lande ärger als später die Strafbaiern in Hessen."
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 6. Buch, 3. Kapitel

Göttinger Revolution II


"Man saß beim Thee, der in der Wohnstube der Haushälterin parterre eingenommen wurde, als plötzlich Trommelwirbel und Hörnersignal erschallten. Man rief: »Zu den Waffen! Burschen heraus, Lichter heraus!« Bald hörte man auch das Geläut der Sturmglocken. Nun war Bruno nicht mehr im Hause zu halten, er stürmte dem Neuen Markte zu, der Sammelplatz seiner Garden war hier vor dem Gymnasium. Auch an diesem Sammelplatze wie auf dem Markte vor dem Rathhause war ungeheuere Verwirrung. Die Erleuchtung aus den Fenstern der Häuser reichte nicht aus, das Dunkel auf den Plätzen zu erhellen, die einzelnen konnten, da die Plätze noch nicht fest bestimmt waren, ihre Compagnien nicht finden, die Studenten suchten ihre Divisionen, ihre Offiziere. Niemand wußte aber, was eigentlich los war, es ging nur das unbestimmte Gerücht, die Stadt werde vom Weenderthore her durch Soldaten bedroht. Die Burschenschaft, welche vor dem Geismarthore auf ihrer Kneipe, dem »Kaiser« gewesen war, kam zuerst, wohlgeordnet, auf den Markt gezogen, voran der kleine »Bonus«, als dessen Untercommandant der lange G. figurirte, damals noch in dichtem schwarzen Lockenhaar, heute ein vielberedtes Mitglied des Reichstags, Zollparlaments und Abgeordnetenhauses im grünen Käppchen. Die Division sang: »Du Schwert an meiner Linken.« Auch die Westfalen unter dem Commando des Herrn von Loë waren in Ordnung, sie sangen aber das uns von 1816 noch bekannte Windmüllerlied. Bald zogen die Divisionen der Studenten und die Bürgercompagnien (man hatte die alte Eintheilung der Stadt in acht Compagnien beibehalten) eine nach der andern zum Weenderthore. Der ganze Lärm erwies sich aber als ein blinder. Etwa hundert beurlaubte Jäger, die schon früher einberufen waren, hatten sich vor dem geschlossenen Weenderthore zusammengefunden, Einlaß begehrt und mit Gewalt gedroht. Als aber einem Offizier Einlaß gewährt war und dieser mit dem Stadtcommandanten von Poten Rücksprache genommen hatte, kehrten die Soldaten um und nahmen im Dorfe Weende Quartier.
Eine zusammengeblasene und getrommelte Menge will aber nicht umsonst aus ihrer Ruhe, aus ihren Bierstuben oder aus dem Familienkreise hervorgelockt sein. Jede Compagnie wollte sich wenigstens selbst überzeugen, daß »nichts los« sei, und während die Burschenschafter und die Westfalen schon wieder auf dem Markte angekommen waren und dort das Gaudeamus igitur angestimmt wurde, marschirten noch immer andere Compagnien nach dem Orte des Ereignisses. Der Gemeinderath, der sich auf dem Rathhause constituirt hatte, sendete Wachen an die Kirchthürme, damit nicht abermals ohne Noth und ohne Befehl Sturm geläutet würde. Es war ein empfindlich kalter Abend, und die wieder vor dem Rathhause versammelte Menge würde sich bald aufgelöst und verlaufen haben, wenn nicht ein obscurer Student das Bedürfniß gefühlt hätte, sich reden zu hören. Er schwang sich auf den Rand des großen Brunnens und wußte sich durch seine laute, klangvolle Stimme Ruhe zu verschaffen. Dann begann er: »Mitbürger, Freunde, Kampfgenossen! Die feige Soldateska hat nicht gewagt, die Vertreter der Sache der Freiheit anzugreifen! Vergeblich sind wir zu dem Kampfplatze geeilt. Da wir aber einmal hier versammelt sind, so lasset uns dem neuesten Märtyrer unserer Sache ein Vivat bringen. Ich meine unsern lieben Lehrer, den Dr. Gottfried Schulz, dessen Heft über den verruchten Deutschen Bund man eingefordert hat, den man gleich den andern Vertheidigern der Freiheit und des Rechts, die sich an unsere Spitze gestellt, unter polizeiliche Censur stellen wollte. »Hoch die Doctoren Rauschenplat, Schuster und Ahrens! Hoch Gottfried Schulz!« Der Redner verschwand vom Brunnenrande wieder unter die Menge, die laut aufschrie: »Nieder mit der Censur! Nieder mit der Polizei, auf nach Schulz!« Dann setzten die dem südlichen Ende des Marktes Näherstehenden sich die Weenderstraße hinauf nach der Kurzen Straße in Bewegung. Bruno Baumann, der inmitten des stärksten Gedränges stand, das durch sämmtliche Lehrjungen der Stadt, durch Frauenzimmer, Kinder, Straßenbuben noch vergrößert wurde, suchte sich vergeblich durch die Menge Bahn zu brechen, um den Onkel von dem, was er zu erwarten habe, im voraus zu benachrichtigen. So wurde unserm Freunde Gottfried die theuere Ehre eines langnachhallenden Vivats zutheil. Dieses Vivat lenkte die Aufmerksamkeit auf den bescheidenen, nur im Kreise weniger Studenten bekannten jungen Gelehrten, und da man nach französischem Muster einen Gemeinderath gebildet hatte, welcher an der Stelle des Magistrats und der Polizei die Stadt regierte, und am andern Tage durch Cooptation angesehener und reicher Bürger wie Zuziehung der Studiosen Stölting, Hübotter, Hentze verstärkt wurde, so kamen einige Schüler Gottfried's auf den unglücklichen Gedanken, bei dem Chef der akademischen Nationalgarde Dr. Rauschenplat darauf anzutragen, daß man auch unsern Freund in den Gemeinderath wählen möge. [...]
Dr. Rauschenplat leitete die Straßendemonstrationen, seine Führung der akademischen Garde ließ ihm nicht Zeit zu Arbeiten auf dem Rathhause. So wurde der Vorschlag ohne weiteres genehmigt und eine Deputation des Gemeinderaths begab sich in Gottfried's Wohnung, ihm anzuzeigen, daß er zum Mitgliede des Gemeinderaths gewählt sei und seine Functionen sofort anzutreten habe. Man wich nicht vom Flecke, bis er, noch im Schlafrocke, sich angekleidet hatte und mit zum Rathhause ging. Hier wurden ihm die Functionen eines zweiten Schriftführers überwiesen, denn Dr. Ahrens lag auf zwei breiten ledernen Magistratssesseln und schlief. Der Vorsitzende, Procurator Eggeling, gab dem neuen Schriftführer auf, sofort ein Schreiben an sämmtliche Magistrate des Königreichs zu verfassen, mit der Aufforderung, dem Beispiele Göttingens zu folgen und durch eine Immediateingabe an den König auf Verleihung einer freisinnigen Verfassung, Entlassung des Ministeriums Münster, Abhülfe allgemeiner Klagen und das Weitere anzutragen.. [...]
Gottfried erklärte, daß er die Anklage gar nicht kenne. Das schade nichts, hieß es vom Grünen Tische her, er möge nur den großgedruckten Anfang und das großgedruckte Ende lesen, da sei alles zusammengefaßt. [...]
Gottfried glaubte an die Wahrheit der allgemeinen Anklage, die Ausführung und Begründung derselben zu lesen hatte er nicht Zeit. Wie hätte er auch zweifeln sollen, da man ihm von allen Seiten versicherte, der Verfasser, Dr. König in Osterode, sei ein Ehrenmann, [...]
Als Gottfried sein Begleitschreiben, das nicht das tragische Pathos der Anklage theilte, concipirt hatte, ging er in das Berathungszimmer, um dasselbe signiren zu lassen. Er traf dort nur Dr. Rauschenplat, die übrigen Gemeinderathsmitglieder waren zum Frühstück in die Krone gegangen. Rauschenplat sagte: »Wozu diese bureaukratische Weitläufigkeit? Setzen Sie Ihren Namen darunter, College, als Secretär des Gemeinderaths, in dessen Auftrage. Das genügt. »Und hier« fuhr er fort, »quäle ich mich seit einer Stunde ab, eine Resolution des Gemeinderaths, die vor Ihrer Ankunft gefaßt wurde, zu redigiren, um einige Kraft hineinzubringen. Das will mir aber durchaus nicht gelingen. Das dumme Rescript des Ministeriums vom gestrigen Tage, das heute Morgen angekommen ist, hat die Hasenherzen der Philister im Gemeinderathe mit Angst und Schrecken erfüllt. Käme es auf die Herren Pfuscher und Eberwein, Tolle und Wedemeier an, so lieferten sie uns lieber heute wie morgen als Unruhestifter aus. Aber noch habe ich meine akademische Garde und die soll den Dickköpfen Respect einflößen. [...]
Gottfried weigerte sich indessen, einen Beschluß, den er nicht mit gefaßt, über den gar kein Protokoll vorlag als die vielfach modificirte und corrigirte Fassung selbst, von neuem zu redigiren. Während des ganzen ersten Tages seiner Amtsthätigkeit gelang es unserm jungen Freunde nur einmal in der Dämmerung auf eine halbe Stunde nach Hause zu eilen, um der Haushälterin zu sagen, daß sie ihm zum Abend noch etwas Essen und eine Flasche Wein auf das Rathhaus senden solle, wo ihn sein Dienst fessele. [...]
Gottfried hatte am Dienstag, als der erste Schriftführer wieder die Dienste versah, einige Stunden zu Hause zubringen und auch dort schlafen können. Die Frau Koch verlangte, er solle krank werden und sich gar nicht wieder auf dem Rathhause sehen lassen, die Dinge da paßten nicht für ihn. Die gute Frau hatte nur zu sehr recht. Mittwoch wurde er schon früh in den Gemeinderath beschieden, in welchem die eigentlichen Bürger, die zu Hause erst ihren Kaffee trinken und frühstücken mußten, fehlten. Die Privatdocenten, Studenten, die Procuratoren und die Juristen hatten das Uebergewicht. Unser Freund war beauftragt, um der Proclamation aus dem Hauptquartier Nörten ein Paroli zu biegen, eine Ansprache an die Soldaten zu entwerfen, in welcher diese aufgefordert wurden, ihre Aeltern, Geschwister, Freunde und Mitbürger nicht als Feinde zu betrachten, sondern den als den strafbarsten Feind anzusehen, der sie zu der geringsten feindlichen Handlung gegen Mitbürger, in deren Reihe sie ja bald zurücktreten würden, auffordere. Gottfried hielt die Ansprache kurz, einfach, ohne alle Phrase, und freute sich selbst, als er das Werk fertig hatte, über die Energie seiner Sprache. Der Entwurf wurde vorgelesen, fand Beifall und wanderte sofort in die Druckerei. Daß er sich dadurch eines freilich noch unvollendeten Versuchs des Verbrechens, die Armee zum Ungehorsam und zur Meuterei aufzufordern, schuldig gemacht, daran dachte der Privatdocent, der sich wenig um das Strafrecht bekümmert hatte, nicht im entferntesten. Schon nach wenig Stunden war diese Aufforderung an die Soldaten, auf einen halben Bogen mit großen Lettern gedruckt, ohne Unterschrift, in Tausenden von Exemplaren in der Stadt verbreitet und wurde am andern Tage, als gegen dreißig Deputationen aus Städten, Flecken und Dorfschaften der Umgegend erschienen, um dem Gemeinderathe ihre Sympathien auszusprechen und ihm ihre Hülfe anzubieten, diesen zur Weiterverbreitung mitgegeben. Schon wurde aber die Universitätsstadt immer mehr vom Militär umzingelt, in den nur zwei Stunden entfernten Städten waren schon vier- bis fünftausend Mann versammelt. [...]"
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 6. Buch, 3. Kapitel

Göttinger Revolution 1831 I

"In diesem Augenblick ging die Hausthür auf, Bruno stürmte die Treppe herauf und schrie aus Leibeskräften: »Vivat, Onkel, Vivat, es ist Revolution! Hast du keinen Säbel oder keine Pistole, die du mir pumpen kannst? Gegessen wird heute nichts, wir Primaner wollen auch eine Nationalgarde bilden, wie die Caroliner es in Braunschweig gethan haben.«
Frau Koch schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und seufzte: »Ach lieber Herrgott, ich habe es mir doch gleich gedacht, daß das Feuerwerk von gestern Abend am Himmel ein Unglück bringen würde.«
Der Gelehrte war erstaunt: »Nun erzähle doch, was ist denn los?«
»Wie wir aus der Klasse kamen, die des Jahrmarkts wegen um eine halbe Stunde früher geschlossen wurde, und auf dem Markte unter den Buden herumbummelten, kam auf einmal eine ganze Schar bewaffneter Bürger und Studenten, alle mit weißen Binden um den Arm, und gingen die Rathhaustreppe hinauf. Nun kam auch der kleine Hübotter mit der Hildesia aus der Bosia und bald verkündete eine Stimme von der Rathhaustreppe herab, der Magistrat habe eingewilligt, daß der Polizeicommissar Westphal entlassen werde und daß sich eine Bürgergarde und akademische Nationalgarde zur Erhaltung der Ruhe und Ordnung bilde. Das ist alles, was ich weiß. Jetzt muß ich aber wieder fort.«
»Aber Herr Doctor, dulden Sie das doch nicht«, jammerte Frau Koch, »der Bruno hat seit Morgen nichts genossen als eine Semmel und eine Tasse Kaffee, wenn er nun keinen warmen Löffel Suppe ißt, so wird der Mosjö bei dem abscheulich kalten Wetter krank. Die Revolution läuft Ihnen nicht weg, junger Mann, setzen Sie sich erst, es kommt Ihr Lieblingsgericht auf den Tisch, Sauerkraut und Pökelfleisch, Schnauzen und Ohren sogar.«
»Ja, Bruno, setze dich und erzähle ordentlich, wer steht an der Spitze und was wollen die Leute?«
»Das will ich dir sagen. Da sind die Kanzleiprocuratoren Eggeling, Kirsten und Laubinger, der Dr. Seidenstiker, der Gastwirth Ulrici, und von akademischer Seite die Privatdocenten Dr. von Rauschenplat,. Dr. Ahrens und Dr. Schuster und die Studiosen: Vater Hentze, Hübotter, Stölting, Gerding, die haben von der Rathhaustreppe aufgefordert, eine Nationalgarde zu bilden. O Onkel, du mußt mit ansehen, wie spaßhaft das auf dem Jahrmarkte aussieht, das ist ärger als im Jahrmarkte zu Plundersweil. Die Galanteriekrämer vor der Krone und alle sonstigen Verkäufer haben Angst, geplündert zu werden. Alles packt ein über Hals und Kopf und in einer Stunde werden alle Buden verschwunden sein. Nur die braunschweiger Pfefferküchlerinnen fürchten sich nicht und verkaufen frisch darauf los, immer wiederholend: ›Heeren Se mal, kaufen Se mich was ab, von uns Braunschweigern kennen Se lernen, wie man Revolution machen muß.‹ Aber Onkel, ich muß ein Gewehr haben, um vier Uhr ist Appell, da muß ich dabei sein.«
Der junge Mann nahm sich kurze Zeit zum Essen; im Hause des Onkels ein Gewehr oder einen Säbel zu finden, das mochte schwer sein, denn Gottfried hatte nie eine Schießwaffe, selten ein Rappier in der Hand gehabt; ein Gewehr mußte aber zuerst aufgetrieben werden. Dem Gymnasiasten fiel ein, daß er bei dem Vater eines Freundes eine ganze Gewehrsammlung gesehen, richtig, da mußte er hin, zu Dr. Wadsack, dem Gerichtshalter in Geismar, der auch nicht sehr fern in der Nikolaistraße wohnte.
Gottfried setzte sich hin, um seinem Vater ein langes und breites von dem Nordlicht des gestrigen Abends und sehr viel von dem »viel Lärm um Nichts«, wie er die Revolution nannte, zu schreiben.
Es wurde auch eine Proclamation vertheilt des Inhalts: »Um den durch die allgemeine Noth erzeugten Beschwerden abzuhelfen und die durch dieselben bereits entstandenen und noch drohenden Unruhen für die öffentliche Ordnung gefahrlos zu machen, sei man zu einer Nationalgarde zusammengetreten, um alle für einen und einer für alle die öffentliche Ruhe aufrecht zu erhalten. Zugleich wolle man an Se. Majestät den König unmittelbar eine unterthänigste Vorstellung richten, daß auch den Hannoveranern eine freie Verfassung mit einer durchaus frei und selbstgewählten Ständeversammlung gewährt werde.«
»Was in Kassel die Bierbrauer erzwungen, was die Braunschweiger, die Sachsen durchgesetzt, das wollen wir auch haben!« schrien die Philister und drängten sich, die von Dr. Rauschenplat aufgesetzte Proclamation zu unterzeichnen. Auch eine andere Parole wurde schon ausgegeben. »Fort mit dem Magistrat« hieß es, »wir müssen einen freigewählten Gemeindeausschuß haben.« Wer etwas hinter die Coulissen sehen konnte, der gewahrte, daß die jungen Privatdocenten ganz nach französischer Schablone arbeiteten.
Hofrath Langenbeck machte freilich noch am Abend den Versuch, die akademische Garde von der Bürgerschaft und dem politischen Treiben abwendig zu machen, allein die Studenten wollten nichts davon wissen, Polizeisoldaten des akademischen Senats zu spielen.
Am Abend wurde die Stadt erleuchtet, bewaffnete und unbewaffnete Scharen zogen mit Musik durch die helle Stadt; man sang: »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los«, und ließ sich auf dem Marktplatze von dem scharfen Ostwinde durchpusten, um die Marseillaise und Parisienne, diese bis dahin verbotenen Weisen, von den Stadtmusikanten vorspielen zu lassen. Dann wurden aber alle Kneipen voll, man mußte sich erwärmen und man politisirte, kritisirte, schimpfte, tobte über akademische und bürgerliche Polizei.
Die Wachen vor den Thoren waren von einer gemischten Mannschaft von Soldaten, Bürgern, Studenten besetzt; man trank, sang und fraternisirte die ganze Nacht hindurch, das nöthige Getränk wurde aus dem nächsten Wirthshause auf Rechnung der Stadtkasse requirirt.
Der nächste Tag war ein Sonntag; er wurde benutzt, um die Nationalgarde zu organisiren, Offiziere und Unteroffiziere, Adjutanten und einen Generalissimus zu wählen, und was die Hauptsache war, sich mit dreifarbigen breiten Bändern und Schärpen zu versehen. Da konnte man, als mittags zur Parade aufgezogen wurde, sehen, wie viel Vaterländchen Deutschland hatte, es waren so ziemlich alle siebenunddreißig Farben repräsentirt. Nur die Burschenschafter, etwa funfzig Mann, waren mit Schwarz-Roth-Gold geschmückt, ziemlich gut bewaffnet und, wie es schien, wohldisciplinirt.
Gottfried hatte das Haus nicht verlassen; er hatte dem Onkel Maschinenbauer in Hannover nach den Referaten des Gymnasiasten Baumann eine ausführliche Beschreibung der Ereignisse gemacht und die erschienene Proclamation beigelegt, da er wußte, daß der Onkel sich für solche Dinge interessire. Bruno war mehr auf den Straßen als im Hause; erst gegen Abend kehrte er wieder heim mit Büchse, Säbel und Pistole bewaffnet, die er von seinem Freunde Wadsack geliehen hatte, ganz glücklich darüber, daß er von der Gymnasialgarde zum Offizier gewählt war, und nur in Sorgen, wie er sich einen »Stürmer« mit Federbusch verschaffe."
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 6. Buch, 3. Kapitel

23 Dezember 2012

Ein studentischer Ulk 1816 in Göttingen

"Am andern Morgen, es war am 18. Januar 1816, sagten sämmtliche Stiefelwichser beim Reinigen der Kleider an, es werde mittags 12 Uhr auf dem Marktplatze an dem Volksverräther Dabelow ein öffentliches Gericht vollstreckt werden. In den Collegien flüsterte der eine dem andern zu, ob man schon wüßte, daß Dabelow's »Artikel 13«* auf öffentlichem Markte verbrannt werden solle? Die eigentlichen Corpsburschen standen zwar der Politik fern, aber jeder »Ulk« war ihnen lieb. Viele schwänzten die Collegia, um sich auf den »Ulk« durch ein ordentliches Frühstück im Rathskeller vorzubereiten und dieser wie die Bosia selbst waren so gefüllt, daß man kaum einen Schoppen Bier oder Wein haben konnte.
Schon um 11 Uhr standen Hunderte von Dienstmädchen, Schusterjungen, Stiefelwichsern auf dem Marktplatze. Die Studentenwelt war unruhig, führte etwas im Schilde, das wußte man allerorten, das hatten »Schäfer und Doris«, das durch Heinrich Heine bekannte Pedellenpaar, auch schon dem Prorector berichtet.
Der Goldaga wie der Silberaga, die Commandanten der sogenannten Schnurren (der akademischen Polizei), waren zum Prorector beordert und hatten Befehl erhalten, für die Nacht doppelte Mannschaften mit den »Bleistiften« zu versehen. Bleistifte nannte man acht Fuß lange, an dem einen Ende mit Blei gefüllte Stangen, welche die »Schnurren« mit großer Geschicklichkeit namentlich unter die nach einem Pereat oder einer Fenstermusik fliehende Schar der Studenten zu werfen wußten, sodaß etliche zur Erde fielen, um »ad wacham« geschleppt werden zu können.
Der Prorector dachte natürlich nicht daran, daß man vor der Nacht etwas unternehmen würde, das glaubten auch weder Pedelle noch Agas, und viele Schnurren gingen ihren täglichen Beschäftigungen, dem Holzsägen und Holzhacken vor den Häusern nach; denn solange die Georgia Augusta existirte, waren alle Studentenexcesse immer nur nachts oder am Spätabend vorgekommen. Die Versammlung Neugieriger auf dem Marktplatze glaubte man durch die außergewöhnliche Morgenkneiperei im Rathskeller hervorgerufen, und hielt es nach hergebrachter Gewohnheit für gerathen, solche Dinge zu ignoriren. Pedelle und Agas hatten deshalb vom Prorector die Weisung bekommen, sich auf der Weenderstraße und dem Markte überall nicht sehen zu lassen, dagegen nachzuforschen, welchem Professor oder Hofrath in der Nacht ein Pereat gebracht werden solle.
Da man hörte, die Sache gelte dem nicht sehr beliebten Dabelow, hatte man zu verstehen gegeben, die Pedellen und Schnurren sollten erst einschreiten, wenn es zu Fenstermusiken käme. Das Rathhaus in Göttingen steht noch heute, wie es seit 1371 gestanden hat, seine Zinnen und festen Erkerthürme sind nur etwas grauer geworden und die hohe Freitreppe mit der Vertheidigungsbrustwehr und ihren starken eisernen Thüren etwas baufälliger und rostiger. Davor auf einem freien der Weenderstraße zugewendeten Platze sprudelte die Fontaine des sogenannten Großen Brunnens, jetzt in neuer Einfassung, damals noch in der ältern. Hinter diesem stand zu der Zeit, von der wir reden, ein hoher hölzerner Pfahl, von dem zwei eiserne Ketten mit Handeisen herabhingen. Das war der Schandpfahl, daran wurden Diebe, liederliche Frauenzimmer, ungehorsame oder diebische Dienstboten und alle, welche aus der Stadt gestäupt wurden, eine Stunde lang der Menge zur Schau und zum warnenden Exempel ausgestellt.
Als nun von den hohen Kirchthürmen der Jakobi und Johanniskirche die Glocke zwölf schlug, da spien alle die verschiedenen Corps- und andere Kneipen ihre Insassen in langen Zügen aus, die sich von der Gronerstraße, der Geismarstraße, der Rothenstraße, der Barfüßler- und Weenderstraße zum Markte bewegten. Auch einige Collegia waren eben geschlossen, aus dem »Pandektenstalle Heise's« und dem Criminalrechte des alten »Strittig«, wie man Meister nannte, kamen allein Hunderte der fleißigen Studenten die Johannisstraße herauf zum Markte."

Der ganze Platz war schon voll Menschen. Die Straßenjugend hockte auf den Balustraden der Rathhaustreppe und auf der Umfassung des großen Brunnens, die verschiedenen Corps gruppirten sich nach der Seite, von der sie den Markt betraten. Als die Weißmützen kamen, machte man ihnen Platz.
Dabelow's Buch wurde von der Stange genommen und Hermann übergeben, der, dasselbe in die Höhe haltend, mit lauter Stimme über den Markt rief:
»Diesem Schandbuche eines niederträchtigen Fürstenknechts werde ich den Platz anweisen, der ihm allein gebührt, den Schandpfahl!«
und dann nagelte er das Buch an den Pfahl.
Georg von Schenk schrieb über das Buch mit Kreide an den Schandpfahl: »Dabelow quo peracto!« Die Menge schrie: Pereat Dabelow! und: Nach Dobelow! Polizei ließ sich nicht sehen, und so wogte denn die Masse, vermehrt durch Bürger, die von ihrer Arbeit gelaufen waren, durch einige hundert Dienstmädchen, die für die Burschen das magere Mittagsessen aus den Garküchen holten, und durch die Straßenjugend der ganzen Stadt, nach dem Meißner'schen Hause hin.
Der Weg war kurz, man brauchte sich nur vom Rathhause der Universitätsapotheke an der südlichen Seite des Rathhauses zuzuwenden, so war man am Ziele. Die Göttingia zog voran, Jungen und Frauenzimmer nahmen auf dem Johanniskirchhofe Platz, die Hauptmenge drängte sich auf dem engern Raum zwischen der Universitätsapotheke, der Scharwache und dem Scharren zusammen. Der ganze Raum zwischen Rathhaus und Scharren, wie die Zindelstraße, waren von der »Sonne« bis zur Nikolaistraße mit Menschen gefüllt. Nachdem die Menge so still wie möglich geworden war, rief Hermann:
»Pereat Dabelow, der Mann, der es wagt, die heiligen Verheißungen der Fürsten an ihre Völker zur Lüge machen zu wollen!«
Pereat! pereat! brüllte die Menge, und in demselben Augenblick flogen ein paar hundert Steine in die Fensterscheiben des Geheimen Staatsraths.
»Nun laßt uns zum Prorector ziehen, diesem ein Vivat bringen und dann ruhig auseinandergehen« – rief ein alter Bursch von Ansehen. Der neue Prorector war der nassauische Hofrath Bauer; als Erfinder der Warnungstheorie galt er, der vom jungen Strittig verteidigten Abschreckungstheorie gegenüber, schon für modern und für freisinniger als die übrigen hannoverischen Hofräthe. Bauer wohnte an der Allee, und dahin wälzte sich der Menschenstrom durch die Paulinerstraße, theils durch die Gothmar- und Prinzenstraße. Wenn auch die vordersten Burschen mit ihrem »Gaudeamus igitur« begannen, so war doch keine Uebereinstimmung in die Menge zu bringen. Hier sang eine Verbindung: »So leben wir, so leben wir alle Tage«, dort eine andere: »Und der Windmüller mahlt, wenn der Wind weht«, trotzdem daß die Sonne schien und man hätte glauben sollen, die Jugend würde sich am Tage der Schlußverse geschämt haben. Die Göttingia stimmte ihr Lieblingslied an, den Körner'schen Lobgesang auf die Lützow'sche Schar.
Dem Prorector war ein Vivat gebracht, die Jugend war hungerig geworden. Jeder eilte seinem magern Freitische zu oder auch der gemeinsamen Speiseküche.
Aber die Aufregung begann nun erst in den Kreisen der Hofräthe und Professoren zu wogen. So etwas war unerhört, am hellen Tage eine Fenstermusik und ein Pereat!
Pudel Schäfer, vormaliger wohlbestallter wetzlarischer Reichskammergerichtsdiener, der vom Reichskammergericht nie anders als in der Würde eines königlich-kaiserlichen Beamten mit »Wir« zu sprechen pflegte, hatte den Actus von der Rathhaustreppe aus angesehen und die Attentäter Hermann Baumgarten wie Georg von Schenk wohl erkannt. Pudel Doris, der Wohlbeleibte, zog sich aus dem Gedränge in die Universitätsapotheke zurück, um dort einen Magenbittern zu sich zu nehmen und sich die Anführer zu notiren. Beide berichteten dem Prorector.
Dabelow, dem Geheimrath, war mit einem Steine ein anonymer Brief in das Fenster geworfen, welcher lautete: »Machen Sie, daß Sie fortkommen, gehen Sie nach Würtemberg, der Civilverdienstorden ist Ihnen gewiß, vielleicht werden Sie sogar Premierminister!«

Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 5. Buch, 7. Kapitel

*Über den 13. Artikel der deutschen Bundes-Acte die landständischen Verfassungen betreffend, Halle 1816.

22 Dezember 2012

Der Wiener Kongress

"Wien hat seine steifen steinernen Reifröcke von sich geworfen, und der Raum, der sonst leer und öde war, hat sich mit Palästen, Theatern, Kirchen, Häusern, Straßen, Menschen gefüllt. Das Glacis zwischen Stadt und Vorstädten ist im Verschwinden, ein elegantes Wien mit herrlichen Straßen baut sich um das alte Wien herum, die Zahl seiner Einwohner hat sich verdoppelt, aber Tage wie die des Kongresses wird man in der Donaustadt nicht wiedersehen, und Tage wie die des Bundesschießens verhalten sich zu jenen Tagen von 1814 wie ein Proletarierbanket zu einem Banket im Olymp.
Die mächtigsten Fürsten Europas, hohe Herren aus allen Ländern, die schönsten Weiber der Welt, Reineke's Genossenschaft aus ganz Europa in Gestalt von Diplomaten und Ministern, Bittsteller und Wünschende ohne Zahl, sie alle waren zusammengedrängt in dem viel kleinern Wien, sie alle verfolgten dasselbe Ziel, sie alle wollten sich amusiren, sich des wiedergewonnenen Lebens freuen und daneben das alte Europa restauriren, die große Weltbeute vertheilen und zwischen groß und klein ein Gleichgewicht herstellen, damit nicht wieder einer die Weltherrschaft an sich reißen könne. Sie wollten einen Bau gründen, der Sicherheit gewähren sollte gegen die Wiederkehr einer Sündflut, wie die Französische Revolution es gewesen.
Die Möglichkeit, so zu bauen, war geschaffen durch die Leichen und das Blut des Volks, das man gegen den Tyrannen, der Europa in Ketten geschmiedet, wach gerufen hatte mit dem Versprechen der Freiheit. Aber das Volk war hier unvertreten, wo selbst Könige, Fürsten und Herren noch klein waren vor den Mächtigsten der Erde, vor Kaisern und Königen erster Größe. Das Volk war nur vertreten durch Mimen und Künstler, Sängerinnen und Tänzerinnen, Seiltänzer und Gaukler aller Art, welche die Kaiser und Könige, Fürsten und Herren und die glänzenden Frauen ergötzen sollten, vielleicht vertreten in irgendeiner Dachkammer, in der man die Kanzleien untergebracht, in dem Busen eines der Kanzlisten, eines Jakob Grimm etwa.
Es war das ein Chaos von sich widerstreitenden Ansprüchen, Wünschen, Hoffnungen, daß selbst der Herrgott es nicht der Hälfte hätte recht machen können. Wie sollten das nun die Diplomaten vollbringen? Ihre Kunst bestand zunächst darin, die heimlichen und stillen Wünsche der einzelnen zu erforschen, dann diese zu benutzen, um Verbindungen und Allianzen zu trennen, neue zu knüpfen, die Strebungen des einen geschickt gegen die des andern zu verwenden."
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 5. Buch, 6. Kapitel

21 Dezember 2012

Zach: Die Kälte der Macht II

Zachs Held Gundelach schreibt für Oskar Specht (Lothar Späth) das Buch, das diesen als Wirtschaftsvordenker erweisen soll. Dafür wird er von der laufenden Arbeit weitgehend freigestellt, merkt aber, dass er dabei wichtige Entwicklungen in der Staatskanzlei "verschläft".

Zur Belohnung für seine harte Arbeit lässt er sich eine Reise als Delegationschef in die chinesische Provinz organisieren. Jetzt ist er nicht Tross, sondern führt die offiziellen Gespräche. "Alles wie im richtigen Politikerleben." (S.335)
Bei Xi’an beim Anblick der Terrakottaarmee kommt ihm der Gedanke, "da wußte er, was ihm beim nächtlichen Anblick der Pyramiden und in der konturlosen weißen Weite der kanadischen Wildnis nur wie eine blasse Ahnung überkommen war: daß nichts, was auf Zeit und Leben setzt, Bestand hat, daß Geschichte mit dem Tod beginnt und nicht mit den Werken Lebender. Und daß von seinen wie von Oskar Spechts Bemühungen nichts übrig bleiben würde, weil sie beide werkgläubig waren und sonst nichts." (S.337)

19 Dezember 2012

Krausismo

Karl Christian Friedrich Krauses freimaurische Erklärung in: Heinrich Oppermann: Hundert Jahre
»›Ich erkenne jeden Menschen als ein vollwesentliches Vernunftwesen an, welches seiner Bestimmung nach gottähnlich und ewig, ein unvergängliches Mitglied ist des ewigen Lebens Gottes. »›Ich anerkenne alle Menschen als der Wesenheit nach und dem Leben nach völlig gleiche Wesen bei aller Verschiedenheit der Hautfarbe, der Ausbildung, bei allen Unterschieden durch Glücksumstände. »›Und ich gelobe, daß ich jeden Menschen als ein an sich jedes Guten würdiges und jedes Guten empfängliches Wesen, als eine ewige, gottähnliche, unverletzliche, ehrwürdige Vernunftperson betrachten und behandeln will, niemals aber und in keiner Hinsicht als eine seelenlose Sache, noch blos und erstwesentlich als ein Mittel zum Guten, oder als eine blos nützliche Sache, noch weniger aber als ein nach seiner ganzen Wesenheit böses und verderbtes Vernunftwesen. »›Nicht will ich mich an jemandes Leibe körperlich vergreifen, noch will ich irgendeines Menschen äußere Freiheit weiter, als das Recht gebietet, beschränken; ich will keinem ohne sein Wissen und Wollen das Geringste nehmen, nicht das Geringste seiner Sachen abändern noch ihn in der Ordnung seiner Sachen stören. [...] das Wahre als wahr annehmen nur wenn und so weit ich selbst es einsehe; ohne eigene Einsicht will ich weder etwas als wahr annehmen noch als falsch verwerfen. »›Und ich will stets meiner Erkenntniß gemäß leben.
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 5. Buch, 4. Kapitel

18 Dezember 2012

Über die moralische Versuchung durch das Sklavendaseins


Das Schiff, mit dem der Maler Hellmann nach Amerika fahren wollte, ist schon im Mittelmeer gekapert worden und er auf dem Sklavenmarkt in Tunis an einen reichen Araber verkauft worden. Durch Zufall war dessen Lieblingssklave auch Deutscher und hat nach seinem Übertritt zum muslimischen Glauben eine Vertrauensstellung erworben.  Hellmann  gewinnt seinerseits die Wertschätzung dieses Deutschen, wird von ihm zum Erben eingesetzt und kann, nachdem auch er die Religion gewechselt hat, erfolgreich um die vierzehnjährige Tochter des Herrn werben. Weil im Falle eines frühen Kindbetts ihr Leben in Gefahr wäre, soll die Hochzeit aber noch nicht sofort stattfinden. Seine zukünftige Braut schenkt ihm daher die Slavin, die ihre innigste Freundin ist und die sie wegen deren absoluter Ergebenheit nicht als Rivalin fürchtet. 

"Das Bild seiner ersten Jugendliebe, seiner Karoline, war immer mehr verblaßt, und seitdem er weder ihre kleinen Briefe mit Liebesversicherungen empfing, noch an sie schreiben konnte, war es natürlich, daß er weniger häufig an sie dachte. Seit Wochen hatte er nur an Mirza gedacht und ihr Bild mit allem möglichen Liebreiz geschmückt. Heute trat zwischen dieses Phantasiebild Fatime in voller plastischer Wirklichkeit.
Der Entflammte kannte alle Lehren des Korans, er kannte viel von den Sitten der Araber, die seinen Begierden das Wort redeten, aber er hing auch noch an europäisch-christlichen Anschauungen. Die Bedeutung des Geschenkes seiner Geliebten sah er nur halb, ihm fehlte der Begriff davon, wie arabische Frauen und Mädchen es für eine alberne Prätension halten würden, von einem Manne allein geliebt zu sein. Er hatte bisher nur die äußere Erscheinung vor Augen; der tiefere Grund derselben, daß das arabische Weib durch die Sitte so tief erniedrigt ist, daß es überall nicht zu dem Gefühle seiner Eigenwürde kommt, wurde ihm erst später klar. Er wußte, daß das Nebeneinandergeliebtwerden für die Frauen des Orients nichts Abstoßendes hat, wie daß es nichts Seltenes war, daß eine rechtmäßige Frau ihrem Manne eine sehr schöne Sklavin schenkt, sei es auch nur, um des Mannes Zuneigung von einer andern Frau oder einem Kebsweibe abzulenken, die sie haßt, oder auf die sie eifersüchtig ist."

Oppenheimer reflektiert jetzt darüber, wie sein Verhalten zu bewerten ist:

"Es mag kaum bestritten werden, daß auf die Lebensschicksale vieler Menschen außer Geburt und Geburtsland äußere Ereignisse einen so entschiedenen Einfluß üben, daß sich von einer Betätigung der menschlichen Willensfreiheit wenig wahrnehmen läßt, daß das Walten des Schicksals, oder wie wir es nennen wollen, vorwiegend das Bestimmende ist. So machte nun auch die Gefangennehmung des Malers Hellung durch die Korsaren, sein Verkauf als Gartensklave nach Zuwan einen gewaltigen, von seiner Willensfreiheit unabhängigen Eingriff in das Leben desselben. Seine Lebensweise wurde fortan abhängig von den äußern Verhältnissen und Bedingnissen, die in Afrika ihn umgaben, von dem Leben unter Mohammedanern, von dem Leben unter den glühenden Sonnenstrahlen Nordafrikas, von dem Zufalle, daß er mit einem Landsmanne zusammentraf, von der Liebe Fatime's und Mirza's. Allein derselbe war sich trotz aller Einwirkungen des Schicksals und Zufalls bei allen seinem Thun noch eines Willens und seines Wollens bewußt. Sein Uebertritt zu der Religion Mohammed's, sein Anschmiegen an orientalische Sitten und Gewohnheiten geschah keineswegs ohne Antheil seiner Selbstentscheidung. Denn wie sehr auch sein Wille durch Klima, Nahrung, Umgang mit Hinrik, Trägheit, Sinnengenuß und andere auf den menschlichen Körper und durch diesen auf den Geist selbst einwirkende Ursachen, ohne daß er sich dieser Einwirkungen bewußt geworden wäre oder davon Rechenschaft sich gegeben hätte, gereizt, geleitet, beschränkt war, sein Wollen war dadurch nicht erloschen; hätte er nur recht gewollt, das Rechte und Richtige gewollt, so würde er den Lockungen widerstanden haben. Aber daran lag es gerade: er wollte und mochte nicht widerstreben dem, was schmeichelnd ihn anzog und seine Sinne umgarnte, er war auf dem Wege, ganz zu einem orientalischen Weichlinge sich zu erniedrigen. Dem Menschen das freie Willensvermögen überhaupt bestreiten zu wollen, heißt, ihm den Geist selbst abstreiten, und wenn Heinrich Simon nach dem Berichte seines Biographen Jacobi dem Glauben angehangen hat: »Es ist von vorherein unwahrscheinlich, daß derjenige einen freien Willen haben solle, dessen Existenz selbst ohne freien Willen ist. [...]
Die Lehre Spinoza's selbst löst die Frage nach der Willensfreiheit des Menschen nicht, er vermeint: »Die menschliche Freiheit, deren sich alle rühmen, besteht darin, daß die Mengen sich ihres Willens bewußt, der Ursachen aber, von denen dieser bestimmt wird, unbewußt sind.« [...]
Im Wollen bestimmen wir unser Thun und Lassen durch eigene Kraft nach dem, was uns zukommt und frommt; unser Wollen ist dann Eins mit unserm Sollen, und erst in dieser Harmonie ist der Mensch wahrhaft frei. Zwiespalt und Widerspruch stürzt ihn in Unfreiheit. Jedoch auch aus den Abgründen vermag er sich wieder aufzurichten und vermöge der unvertilgbaren Selbstmacht des Guten sich zur Freiheit im Rechten und Guten emporzuarbeiten. Wir dürfen nur nicht vergessen, daß der Mensch nicht Gott ist, daß er nicht alle und jede, nicht die ganze Freiheit hat, daß das Gebiet seines freien Könnens und Thuns ein durch seine Endlichkeit, seine Verbindung mit der Natur beschränktes ist. Auf das Bewußtsein bei unserm Wollen kommt es in erster Reihe nicht an, denn die Reflexion des Bewußtseins tritt erst im vorgeschrittenen Zustande hinzu. Eine große Menge der Menschen verbringt das Leben, ohne auf dieser Stufe des Bewußtseins der Willensfreiheit anzulangen. Die, welche die Sonnenglut des Aequators brennt und schmilzt, die, welche über die Eisfelder der Pole streichen, werden sich mit Reflexionen über das, was in ihrer Seele vorgeht, nicht allzu sehr incommodiren. Aber nicht nur diese, auch Europa hat noch immer in jener Hinsicht mehr Buschmänner und Eskimos aufzuweisen als Philosophen, und zwar in allen Ständen, mögen sie den Knotenstock und den Besenstiel handhaben, oder das Porteépée und den Fächer führen. Die Ideenverbindungen, die uns zu diesen Reflexionen führten, ergibt ein Blick auf das Leben unsers Freundes Hellung. Er stand von jeher und nicht erst in den Dattelhainen seines afrikanischen Schlaraffenlebens mehr unter der Herrschaft seiner Gefühle und Sinne als unter der Herrschaft seines vernünftigen Selbstbewußtseins. Die äußern Umstände begünstigten in Zuwan nur die Gelegenheit, den Trieben, die am mächtigsten in ihm waren, die Zügel schießen zu lassen."

Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 5. Buch, 4. Kapitel

17 Dezember 2012

Weihnachten in den Buddenbrooks

In Thomas Manns Buddenbrooks wird nicht selten viel gegessen und es bekommt nicht allen gut, so dass Dr. Grabow einiges zu tun bekommt.
 So denkt man vielleicht, wie in vielen Haushalten sei auch bei den Buddenbrooks reichliches Essen das Charakteristischste für Weihnachten. Es sind aber Blumen.

Der Weihnachtsbaum ist "geschmückt mit Silberflittern und großen weißen Lilien". (mehr dazu)

vgl. auch Buddenbrookshaus

07 Dezember 2012

Manfred Zach: Monrepos oder Die Kälte der Macht

Als eine Kreuzung von "Yes Minister" und "Finks Krieg" (1996) könnte man Manfred Zachs "Monrepos oder Die Kälte der Macht", eine Schilderung der Vorgänge in der Baden-Württembergischen Staatskanzlei unter Filbinger und Späth bezeichnen (ebenfalls 1996 erschienen). In der Tat, etwas Satirehaftes haben ganze Passagen des Buches und  etwas von der Tragik, die den aufrechten Beamten Fink umweht, spielt auch in das Werk. Dennoch hat es seinen ganz eigenen Charakter: die Schilderung politischer Dynamik aus der Sicht eines Menschen, der froh ist, daraus ausgeschieden zu sein.
Man fühlt sich beklemmend nah, nicht nur an der Mechanik der Macht, sondern auch an dem Zwang, den sie auf die Psyche ausübt von Menschen, die sie für ihre Arbeit brauchen.

Mehr dazu in einem Interview mit Manfred Zach (Link überholt) von 2006.
Das Vorbild für Monrepos

 Fortsetzung des Artikels

02 Dezember 2012

Goethes Mutter über die Erfahrungen der Reichsstadt Frankfurt mit der französischer Besetzung 1797


Goethes Mutter schreibt in einer Zeit vor der strikten Rechtschreibnormierung. Dennoch war ihre Rechtschreibung selbst für einen Privatbrief unterdurchschnittlich normiert. Keinesfalls darf man allerdings die Rechtschreibung heutiger Goetheausgaben für die Norm halten, an der Goethe selbst sich orientierte. 
Zeichenerklärungen: f = Gulden  |: = (  :| = ) [díe damals gültige Normschreibweise]
Frankfurt war im Ersten Koalitionskrieg schon 1792 für knapp einen Monat besetzt gewesen. 1797 (Preußen hatte 1795 einen Sonderfrieden mit Frankreich geschlossen) wurde es wieder französischen Truppen besetzt, dann wieder von österreichischen Truppen befreit/besetzt. Größere Plünderungen wurden durch die beschriebene "freiwillige" Zahlung abgewendet. 

"Unser Liebes Franckfurth komt wieder nach und nach ins alte Gleiß – Gott sey ewig danck, daß unsere Verfaßung geblieben ist – davor war mir am bängsten – mit den Schulden – und was die Bürger am Ende werden beytragen müßen wird sichs auch geben – von dem Gelde das vom Kirchen und Bürger Silber ist geschlagen worden, soll Augst auch einen Convensthaler zum Andencken in seine Spaarbüsse haben – es sind doch 80 000 f zusammen getragen worden – von Maleberth – und die alte Frau Leerse haben keinen Silbernern Löffel mehr – und der Pfarrer Starck |:der nun gestorben ist:| hat sein schönes Müntzcabinet auch dazuhergegeben – genung jeder hat gethan was ihm möglich war – die ärmsten Leute haben die Patengeschencke ihrer Kinder dargebracht – auch haben die Frantzsosen gesagt so eine Einigkeit zwischen Magisterrath und Bürgerschaft wäre ihnen noch in keinem Lande in keinem Orte vorgekommen. Es wird dir bewußt seyn daß alles was mann beygetragen hat auf 6 Jahre zu 4 procent verintresirt wird – nun ginge mir es sehrsonderbahr – den 1ten Juli legte Pfeil 7200 f an mich ab die wurden denn sogleich wieder angelegt und zwar recht gut zu 5 procent – den 16ten kammen die Freitheits Männer da war nun bey mir große Noth – ich hatte nur so viel als ich zum täglichen Leben brauchte – geben mußte ich – auch hätte ich mich zu Tode geschämt und gekrämt – also Geld herbey! Aber woher! Jeder brauchte das seine vor sich selbst – ich war nicht allein in diesem Fall – Frau Schöff Schlosser – Herr Hoffrath Steitz – Jungfer Steitz und mehrre – wir schickten den Lippoldt nach Hanau – es war nichts – Endlich erbarmte sich ein unbeschnidner Jude aber zu 9 procent und nach Versatz von 3 Kayerlichen Obligationen!! Ich überlegte und da fiel mir ein – daß dieser Wucher bey mir nur 8 Monathe dauern durfte – indem ich stipulirter maßen das andre Jahr vom Hirschgräber Hauß 2000 f abgelegt bekomme – die doch wieder angelegt werden müßen – also ist der Verlust nicht groß – ich bekomme so zu sagen doppelte Intereßen – einmahl vom Hauß und von der Stadt – also nahm ich das Geld – und im May kriegt er es wieder – So habe ich mich durchgedrückt. Heute habe eine sehr gute Nachricht gehört – |: wenn sie wahr ist:| die Stadt ist vom Convent vor Neuterahl erklährt, und die Geißlen kommen in 14 Tagen wieder – das wäre herrlich. [...]
Neues pasirt hir weiter nichts – als daß die polickticker die Frantzosen jetzt nach Norden marschiren laßen – [...]
Die letzte |:Gott gebe daß sie es war:| Geschichte drohte unserer Stadt mehr Unglück und Schaden, als alles vorhergegangne – denn wir gliechen Leuten die in guter Ruhe und größter Sicherheit in tiefem Schlaf liegen – weil sie Feuer und Licht ausgelöscht glauben – so was glaubten wir auch – und wie mann eine Hand umwendete war Vorsicht und Mühe unnütz und wir waren im größten Unglück. Senator Milius brachte schon am 2ten December voriges Jahres vom Nationahl Confent die Neutralität vor unsere Stadt von Paris |:wo Er sich 6 Wochen aufgehalten hatte:| mit – die Declaration vom Confent war vortreflich zu unsern gunsten abgefaßt besonders wurden wir über den letzten Rückzug vom 8ten September 1796 sehr gelobtet und geprießen – wer hätte da nun nicht ruhig seyn sollen? Das waren wir auch – kein Mensch emigrirte – niemandt schickte etwas weg – die meisten Meßfremden |: besonders die Silberhändler von Ausspurg:| hatten ihre Buten ofen und blieben ruhig hir – die Frantzsosen waren nahe an der Stadt – wir erwarteten sie in einer Stunde – die Kayerlichen waren zu schwach um sich zu halten – wir sind Neuterahl erklährt – also ist von keinem Bompatemant die Rede – genung ich kuckte zum Fenster hinaus und wolle sie ankommen sehen – das war Mittags um 2 uhr – aufeinmahl kommt die Fritz Metzlern mit Sturm in meine Stube ruft schir auser Odem Räthin es ist Friede! Der Commendant von Milius hat einen Courir vom Bononaparte – es ist ein jubel – Gott befohlen ich muß weiter die gute Nachricht verbreiten u. s. w. Gleich daraus kommt der Burgemeister Schweitzer – und Syndicus Seger in einer Kusche um ins Frantzöische Lager zum le Feber zu fahren und Ihm zu gratuliren – wie Sie an die Hauptwache kommen – werden Sie von den Bürgern umringt die Kusche muß stillhalten – Sie versichern die gute Nachricht vom Frieden – Alt und jung schwingt die Hüte ruft Vivat es ist ein Jubel der unaussprechlich war – wem in aller Welt fält es jetzt ein an Unglück zu dencken!! Keine 6 Minuten nach dieser unbeschreiblichen Freude, kommt die Kayerliche Cavaleri zum Bockenheimerthor herein gesprengt |:so etwas muß mann gesehen haben beschreiben läßt sichs nicht:| der eine ohne Hut – dort ein Pferd ohne Reuter – und so den Bauch auf der Erde gings die Zeile hinunter – auch hörte mann schißen – alles gerithe in Erstaunen was ist das vor ein Friede so rief immer eins dem andern zu – nun zu unserer Errettung. Ein Kayerliger Leutenant hatte |: und zwar ohne Order :| die Gegenwart des Geistes in wehrender galopate den Gattern am Thor zu und die Zugbrücke auf zuziehen – ohngeachtet noch nicht alle Kayerliche in der Stadt waren – das war nun unser Glück, denn wären die Frantzosen nachgestürmt; so wäre die Masacker in der Stadt loßgegangen – und hätte ein Bürger sich nur der Sache angenommen; so war Plünderung und aller Greuel da – und am Ende hätte es geheißen wir hätten die Neutralität gebrochen – die Frantzosen Tod geschlagen u. s. w. Burgemeister Schweitzer und Seeger wurden geplündert le Feber wolte durchaus nicht glauben daß Friede wäre – Er hätte noch keinen Courir – von unserer Neutralität wüßte Er kein wort – Endlich überredete der Kayerliche Commandant den Generahl le Feber mit in die Stadt zu kommen – versicherte auf sein Ehren wort – daß Friede wäre und daß freylich der Courir nicht bey allen Generahls zugleich ankommen könte – darauf ging Er mit – der Burgemeister Schweitzer auch und mehrere vom Magisterath gingen alles in Römischen Kayser trancken – und alles endigte sich zu unserm Glück. Dem braven Leutenant – und dem Wirth im weißen Lamm in Ausburg haben wir allso unsere Rettung zu dancken – der erste macht das Thor ohne Order zu haben zu – der andre weißt dem Courir einen kürtzern Weg nach Franckfurth er kommt auf diesem weg 6 Stunden früher – Gott hat wohl schon durch geringre Mittel aus großen Nöthen geholfen – und solte mein Glaube an die Ewige Vorsehung wieder einmahl schwach werden – so will ich mir zurufen: decke an den 22ten April."

29 November 2012

Lasst mich Latein lesen!


Wie selbstverständlich noch Ende des 18. Jahrhunderts Latein gelesen wurde, entnehmen wir den Denkwürdigkeiten Varnhagen von Enses.
"Während dieser langen Krankenzeit nahmen wir mit Erstaunen in dem Vater eine wichtige Veränderung wahr. Schon vor seiner Reise war es uns aufgefallen, daß er in betreff der Franzosen kühler gestimmt war, ihren Siegen wenig Anteil mehr widmete, ihre politischen und militärischen Handlungen häufig mißbilligte. Diese Richtung trat [104] jetzt in offener Entschiedenheit hervor. Die Forderungen Frankreichs an Deutschland auf dem Rastatter Kongreß, die Unternehmungen in der Schweiz und in Italien, ja sogar Bonapartes Zug nach Ägypten erfuhren seinen scharfen Tadel. Wir entdeckten bald, daß hierin sein Freund Kirchhof lebhaft mit ihm einstimmte und daß beide, sooft sie zusammenkamen, sich in diesen Ansichten steigerten. Wir waren nicht wenig betroffen und ich ganz außer mir. Von jeher war ich gewohnt, den Vater in allen Dingen als höchste Autorität anzusehen, in Gedanken und Meinungen ihm nachzufolgen, sein Urteil und seine Handlungen als wahr und richtig anzunehmen; in diesem Falle wurde mir dies unmöglich, seine Umwandlung schien mir ein Verrat an der guten Sache, eine Untreue gegen alle Sympathien seiner früheren Zeit. Ich fühlte, daß hierin zwischen uns eine Scheidewand aufstieg, daß wir fortan getrennt seien, meine Selbständigkeit war mir auf das schmerzlichste klar. Mit ihm zu streiten konnte nicht gelingen; und weil ich ihn leidend sah, vermied ich es ganz. Es war mir lieb, daß auch Mutter und Schwester auf meiner Seite standen und wir unsre Meinungen austauschen konnten; aber ich bedurfte des Anhaltes kaum, denn ich war in mir gewiß, meine Überzeugung sei unabhängig von fremder Gewähr. In der Tat wurde sie durch die Ereignisse mehr und mehr bloßgestellt, das Glück wandte der Sache, der ich anhing, den Rücken, und wir hatten das bittre Leid, meinen Vater noch in den letzten Zeiten seines Lebens, da er schon wenig Anteil mehr an den Dingen nehmen konnte, bei den Unfällen der Franzosen in Deutschland und Italien wohlzufrieden zu sehen und jeder schlimmen Nachricht, die uns das Herz bluten machte, beistimmen zu hören; für uns um so unbegreiflicher, da die Gründe dieser Sinnesänderung nicht ausgesprochen wurden, die der früheren Ansichten aber tief in uns eingepflanzt waren und fortwirkten.
Nicht verletzend, aber doch seltsam und wunderlich, berührte uns eine andre Richtung, in welche der Vater jetzt [105] mehr als sonst einging. Ich habe schon zu erwähnen gehabt, daß ich ihm früher die Psalmen lateinisch vorlesen mußte; hiebei lag unstreitig ein Bedürfnis religiöser Erhebung zum Grunde, dem ich auch andre Bücher nach Gelegenheit dienen sah; denn die kleinen Lieblingsausgaben von des heiligen Augustinus Betrachtungen und Handbüchlein, von Boethius' Tröstungen und andre solche Schriften, die er wieder und wieder zu lesen pflegte, waren doch wohl nicht für bloß geistreiche Unterhaltung bestimmt. Mit der Krankheit nahm die Vorliebe für solche Bücher zu, Thomas a Kempis wurde fleißig gelesen und besonders Hermann Hugos »Pia desideria«. Das letztere Buch, von einem Jesuiten verfaßt, dünkte mich in Ton und Bildern beinahe kindisch, und ich war etwas betroffen, den Vater dazu herabgestimmt zu sehen. Allein es hatte damit eine besondre Bewandtnis; mit jenem Buche war seine frühste Kindheit erfreut und genährt worden, er hatte dasselbe dann völlig vergessen, und jetzt kam es ihm unerwartet wieder vor Augen. Alle Bilder der Jugend, alle lieblichen und reinen Empfindungen frommer Einfalt erwachten in ihm bei diesen einst so vertrauten Blättern, und diesem süßen Eindrucke sich hinzugeben, war auch dem festen, aufgeklärten Manne wohl erlaubt. Übrigens nahm er seine Erbauung ebensogern aus protestantischen Quellen als aus katholischen, ich sah zum Beispiel Wanckelii »Precationes piae« bis zuletzt viel in seinen Händen; nur lateinisch mußten die Bücher sein, denn einzig in diesem Elemente, so sehr wirkte die frühste Gewöhnung fort, befand er sich wahrhaft wohl. Von der Freiheit seines Geistes, der Lebendigkeit seiner Überzeugungen und der Kraft seiner Menschenliebe gab er in dieser Prüfung vielfache Proben, sowohl durch Lehren, die er mir erteilte, als durch Anordnungen, die er traf. Ein zudringlicher Bekannter, der, wiewohl selber ungläubig, doch die Äußerlichkeiten der Kirche in Anregung brachte, wurde zur Ruhe verwiesen, mit heitrem Scherze, der den schönsten Mut bezeugte.
[106] Ein Umzug von der Steinstraße nach den Kaien, der notwendig geworden war, hatte meinen Vater wenig angestrengt, die Aussicht auf den bewegten Hafen freute ihn, und bisweilen sprach er sogar noch Hoffnungen aus, die sich aber in den nächsten Wochen rasch verloren. Er zehrte sichtbar ab, in der Nacht des 5. Juni fühlte er sich plötzlich matter, rief uns an sein Bette, sprach aber nicht mehr, sondern schlummerte sanft hinüber. Den Tag, an dem er sterben würde, hatte er, nicht uns, aber dem Freunde Kirchhof, acht Tage vorher genannt. Er starb im dreiundvierzigsten Jahre. Das Begräbnis war protestantisch. Der Freund setzte seinem Andenken die Worte: »Vir probus et sapiens.«"
(Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten, Kindheit und frühe Jugend, Hamburg 1794-1800, S.103-106)

Dörnbergs Aufstand in Hessen 1808


Dörnbergs Aufstand nach Darstellung des Artikels in der Wikipedia:
"Dörnberg kehrte nach Hessen zurück, [...] Die Regierung in Kassel zweifelte nicht an seiner Loyalität, und so konnte er in geheimen Kontakt und Austausch mit Scharnhorst, Gneisenau, Schill und Katte treten und ungestört Vorbereitungen zu einem Aufstand des nördlichen Deutschland erarbeiten und zudem die Planung eines gleichzeitig ausbrechenden Krieges zwischen Frankreich und Österreich beginnen. Auf Grund der raschen politischen und militärischen Veränderungen sah er sich jedoch gezwungen, inmitten dieser Vorbereitungen am 22. April 1809 in Hessen den Aufstand gegen die französische Fremdherrschaft, obwohl schlecht vorbereitet, trotzdem beginnen zu lassen. Unterstützt wurde er durch die Schwester des ehemaligen preußischen Ministers und Reformers Freiherr vom Stein, die Äbtissin Marianne vom Stein des Stifts Wallenstein in Homberg (Efze) sowie durch Werner von Haxthausen.
Er versammelte in Homberg mehrere tausend schlecht bewaffnete und leicht ausgerüstete Bauern, die nur die Unterstützung von wenigen kriegserfahrenen Soldaten hatten, um den Aufstand losbrechen zu lassen. Auf dem Marktplatz erfolgte eine feierliche Fahnenübergabe durch die Homberger Äbtissinnen Marianne vom Stein und Charlotte von Gilsa, die nach der Überlieferung die Fahne im sog. Dörnberg-Tempel gestickt haben sollen. Das freiwillige Corps zog in Richtung Kassel. Bei Rengershausen (heute Teil Baunatals) bei der Knallhütte südlich von Kassel kam es zu einer kurzen Schlacht, die die westphälischen Regierungstruppen mit wenig Mühe gewannen. Die Toten des Dörnberg'schen Corps wurden auf dem Rengershäuser Friedhof beigesetzt."


"Dörnberg selbst bedurfte einiger Ruhe. Die Aufständischen waren jetzt beinahe sieben Stunden marschirt, viele der eifrigsten waren beinahe achtundvierzig Stunden auf den Beinen.
Während die Ermüdeten Ruhe und Erquickung auf Heuböden, in Ställen und überall suchten, wo sie Raum fanden, sprachen die andern dem Schnapse und Biere zu, das sich hier in guter Qualität vorfand.
Die ersten Ankömmlinge wurden inzwischen von den Nachfolgenden verdrängt, und Dörnberg sah die Nothwendigkeit, jetzt, wo der Tag nahte, einige militärische Ordnung in die Sache zu bringen, und gab dazu die Befehle. Die übergegangene Cavalerie, die Kürassiere, sollten als Avantgarde vorgehen; ein zuverlässiger althessischer Wachtmeister führte sie.
Dann sollten die Felsberger und alle, welche aus der nähern Umgebung Kassels waren, folgen, voran die mit Feuergewehr Bewaffneten. Die Gewehre sollten geladen werden. Das Centrum bildete die Schar der Homberger mit der gestern übergebenen Fahne, ihnen sollten die sehnlichst Erwarteten aus dem Fuldathale und von Wolfhagen sich anschließen.
Während man so die wüsten Massen in der Dunkelheit zu ordnen suchte, war General Reubel mit den aus Kassel ausgerückten Truppen schon über Zweeren hinaus vorgedrungen und rückte den Berg hinauf zur Knallhütte.
Etwa zwanzig Chevauxlegers bildeten seinen Vortrab, dann folgten zwei Compagnien Garde-Jäger, dann zwei mit Kartätschen geladene Kanonen.
Ob die Sonne schon aufgegangen war, wußte man nicht, ein dichter schwerer Nebel, der nicht gestattete, sechs Schritt weit zu sehen, lagerte auf Thal wie Höhen, als die beiden Vortrupps aufeinanderstießen, beiden unerwartet. Es wurden einige Pistolenschüsse gewechselt, und beide Vortrabreiter zogen sich zurück.
Die Nachricht, daß Truppen, in welcher Stärke wußte man nicht, heranrückten, verbreitete unter dem Insurgentenheere einen ungemeinen Schrecken und eine kaum zu bewältigende Verwirrung. Alle schon getroffenen Anordnungen fielen über den Haufen und es würde schon jetzt die Flucht eine allgemeine geworden sein, wenn Martin und die Führer nicht bemüht gewesen wären, der Masse dadurch Muth einzusprechen, daß man sagte: man wisse ja noch gar nicht, ob die Soldaten als Freunde oder als Feinde kämen, und wenn auch vorläufig unter dem Commando feindlich gesinnter Offiziere, ob sie nicht zu dem Volke übergingen.
Dörnberg rief Freiwillige vor, und als sich ein paar hundert Förster, alter Soldaten, junger Leute, mit Feuergewehren bewaffnet, vorangestellt hatten, sammelte sich der Schweif wieder hinter denselben.
Reubel hatte indessen eine Compagnie Garde-Jäger vorgehen lassen mit dem Befehle, wenn mau auf die Rebellen stoße, ein blindes Pelotonfeuer abzugeben, damit kein Blut vergossen würde. Dörnberg hatte seiner Stellung durch die Gebäulichkeit der Knallhütte und durch einige vorgefahrene Fracht- und Mistwagen einige Sicherheit zu geben versucht.
Als nun die Garde-Jäger heranrückten, und er die Leute erblickte, die er vor vierundzwanzig Stunden noch befehligt hatte, ritt er vor und winkte mit seinem Tuche wie mit den Armen, die Leute zum Uebertritt symbolisch ermahnend. Die Antwort war ein Pelotonfeuer. Als aber niemand getroffen war, glaubte das Volksheer, die Garde-Jäger wollten absichtlich auf das Volk nicht schießen.
Da ritt General Reubel vor und forderte die Insurgenten auf, sich zu ergeben. Sofern sie ihre Anführer auslieferten, wurde ihnen Begnadigung zugesagt.
Kaum war der General, der keine Antwort erhielt, zurückgeritten, als eine Salve von seiten der Aufständischen erfolgte. Die vorgegangene Jägercompagnie antwortete diesmal scharf, schwenkte zu beiden Seiten der Chaussee ab, und die beiden Kanonen protzten einen Kartätschenhagel unter die Menge.
Es hatte sich ein Morgenwind erhoben, der den Nebel von den Höhen in die Thalebene trieb, man sah sich gegenseitig, und die Aufständischen sahen nicht nur wohlgeordnete Massen von Infanterie und Cavalerie auf der Chaussee den Berg heraufrücken, sondern, was ihnen noch gefährlicher erschien, von der Seite, von der sie Zufluß erwartet, vom Fuldathale her, rückten die treu gebliebenen Marschalk'schen Kürassiere, ihre Commandeurs an der Spitze, halb in der Flanke, halb im Rücken der Insurgenten, mit gezogenem Säbel den Berg hinauf.
Nun war kein Halten mehr. Ehe die Kanonen zum zweiten mal abprotzten, zerstieb das Volksheer nach allen Seiten. Man ließ Todte und Verwundete liegen, wo sie lagen, man warf die Waffen fort und suchte in Bergablaufen nach Süden und in Erreichung des Waldes nach Westen Schutz.
Dörnberg und die Führer überzeugten sich, daß auch ihre Rettung nur in der Flucht bestehe."
(Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 3. Buch 3. Kapitel)

28 November 2012

Bollmann, die Französische Revolution und Goethes Lili


"Wer den letzten Brief Bollmann's aus Paris gelesen, der weiß, daß das nicht mehr derselbe Mann war, der in der Französischen Revolution den verheißenen Messias der Juden sah, der voll Glut und Hingebung das Evangelium der Freiheit und Gleichheit der ganzen Welt predigte, der mit Forster und seiner Therese, mit Huber und den andern Demokraten in Mainz auch eine volle Erlösung der Menschheit von aller Knechtung, von Unwissenheit und Schlechtigkeit durch die Freiheit hoffte. Wir wissen aus den von Varnhagen von Ense im ersten Bande seiner »Denkwürdigkeiten« veröffentlichten Briefen Bollmann's an die Staatsräthin Brauer und aus den in unserm Besitze befindlichen Briefen an den Vater und die Freunde aber auch ziemlich genau, wie diese Wandlung vor sich gegangen war.
Bollmann war gegen Mitte Januar 1792 nach Strasburg gekommen, wo er in der Familie des Herrn von Türkheim und seiner Gemahlin (Goethe's Lili) seine aristokratische Formen, junge Frauenzimmer, von denen er nicht wußte, ob sie mehr schön oder witzig waren, warme, freundliche Aufnahme und thätige Unterstützung in bedrängten, pecuniären Verhältnissen fand. Den Vater mochte er nicht angehen, der Onkel aus Birmingham, der schon im Januar nach Paris hatte kommen wollen, ließ nichts von sich hören, so kam ihm das freundliche Anerbieten des reichen Bankiers gelegen, und er war nicht blöde, das gebotene Darlehn anzunehmen, trug er doch das Bewußtsein in der Brust, daß die Zeit kommen würde, wo er zurückzahlen könne mit den durch eigene Kräfte verdienten Mitteln.
Unser Freund aus Hoya trat in Strasburg zum ersten mal dem politischen Parteigetriebe näher, aber es stieß ihn ab. Die Demokraten im deutschen Club, denen er sich zugesellte, waren wie heute und immer gänzlich uneinig, man gerieth öfter so heftig aneinander, daß die Wache Ruhe stiften mußte. Menschen, die nichts zu verlieren, die nicht einmal etwas zu geben hatten, da sie arm an Gedanken, desto reicher aber an Phrasen waren, drängten sich vor und die Menge fiel ihnen zu. Der Norddeutsche konnte sich kaum Gehör verschaffen, noch viel weniger sich zum Führer emporschwingen, sah die Führerschaft vielmehr in den Händen der unbedeutendsten Menschen. Er sah die Trägheit und Unwissenheit der Masse, er bemerkte als praktischer Mann früh den Fehler, den die Nationalversammlung begangen hatte, indem sie sich mit ihren eigenen Erfahrungen von der legislativen Versammlung ausschloß. Daß von 8000 activen Bürgern in Strasburg im Februar 1792 nur 400 zur Wahlurne gingen, in Paris von 60000 nur 10000, empörte ihn; er sah, wie die Erbitterung zwischen den mit 15 Sous täglich besoldeten undisciplinirten Nationalgarden und den mit 8 Sous täglich besoldeten Linientruppen letztere nothwendig dahin führen mußte, die Constitution und alle Neuerungen zu hassen und eine Stütze des Adels und Königthums zu werden."
(Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 3. Buch 1. Kapitel)

Schlaglichter auf eine Doppelhochzeit im 18. Jahrhundert


Hans Dummeier übergab vor der Menge und einem Gerichtshalter der Gräfin dem Schwiegersohn Claasing und seiner Tochter Anna seinen von der Gräfin Melusine relevirenden Meierhof – so war er in der vorher angefertigten Urkunde ausdrücklich benannt – sammt allem Zubehör, namentlich dem adelich freien Lande, welches seine Frau für ihre Dienste von der Gräfin erhalten hatte, sich eine Leibzucht für sich und seine Frau und eine Abfindung für den Sohn zweiter Ehe reservirend. Diese Leibzucht sollte nach einem Vertrage mit dem präsentirten Bräutigam der Tochter nicht aus dem Hofe selbst, sondern auf der Brinksitzerstelle des Claasing gegeben werden, und wurde dem Claasing vorbehalten, dem Sohne Dummeier's bei seiner demnächstigen Verheiratung entweder diese Brinksitzerstelle oder aber 2500 Thaler in Gold als Abfindung zu geben. Die Gutsherrschaft acceptirte den ihr präsentirten Bräutigam als meiertüchtig, genehmigte Altentheils- und Abfindungsverschreibung und händigte darauf dem neuen Hofwirthe und dessen Ehefrau eine zweite Urkunde aus, in welcher dieselben von seiten der gnädigen Gräfin wegen der Verdienste, so sich Anne Marie Dummeier um die gräfliche Familie erworben, als frei von allem gutsherrlichen Verbande, Gefällen und Diensten erklärt wurden. [...]
Nachdem der Prediger eine Pause gemacht und in ein weißes Batisttuch gehustet hatte, fuhr er in Gemäßheit der Lüneburgischen Kirchenordnung fort: »Geliebte in Christo, beide Braut und Bräutigam, damit ihr in euerm bestätigten Ehestande also leben möget, daß es Gott gefällig, euch und männiglich besser sein möge, so sollt ihr aus Gottes Wort vier Stücke hören, so Eheleuten zu wissen von nöthen sein. Zum ersten: Wer den Ehestand eingesetzt und verordnet habe, nämlich Gott selbst; denn also schreibt Moses in seinem ersten Buche, am zweiten Kapitel: Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, ich will ihm eine Gehülfin machen, die um ihn sei. Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen und er entschlief. Und nahm seiner Rippen eine und schloß die Stätte zu mit Fleisch. Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin heißen darum, daß sie vom Manne genommen ist. Darum wird ein Mann seinen Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein Ein Fleisch. [...]
»Dieser da«, ruft Marthe, denn es ist unsere alte Bekannte aus der Zeit her, wo der Eisschlitten ausgebaut war – »ist vor Gott mein Mann; er hat mir die Ehe feierlichst gelobt, und ich trage sein Kind unter meinem Busen.« »Eine Wahnsinnige!« schreit die Gräfin. »Die Filler-Marthe!« »Die Filler-Marthe!« rufen eine Menge Weiber- und Kinderstimmen im Schiffe der Kirche. Die Hochzeitsgäste sind stumm und starr, nur weichen sie immer mehr aus der Nähe des Grafen Bräutigam. Claasing aber winkt einem Gestütsknechte, der unter den Leuten der Gräfin vor der Sakristeithür stand; dieser sprang auf Marthe zu und riß sie vom Grafen los. Die gräfliche Dienerschaft leistete ihm Hülfe gegen die wie unsinnig sich Geberdende, man zerrte dieselbe der Sakristei zu. Der Bürgermeister drängte sich heran. »Ins Loch mit der liederlichen Dirne!« sagte er, »schafft sie in das alte Schloßgefängniß.«
(Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 2. Buch, 6. Kapitel)

24 November 2012

Die kalenberger Nation und der letzte Reichskammergerichtsbote in Hannover


"Jetzt ging Berlepsch das Reichskammergericht an, und dieses, o Wunder über Wunder! dieses faßte schon am 20. Juni 1797, vier Wochen nach der ersten Eingabe, den Beschluß gegen Georg III. als Herzog von Kalenberg: »bis zu des kaiserlich königlichen Gerichts weiterer Verordnung mit allem Verfahren gegen von Berlepsch einzuhalten«, wie der mitbeklagten Ritterschaft des Fürstentums Kalenberg aufgegeben ward, mit der Wahl eines neuen Land- und Schatzraths nicht weiter vorzuschreiten. Wohl war das Documentum sub Aquila ausgefertigt, allein der Reichsadler hatte schon keine Kraft mehr bei den Fürsten und Corporationen, er war flügellahm. Die kalenbergische Ritterschaft wählte am 22. Juni, an demselben Tage, an dem ihr das Decret insinuirt war, den Hofrichter von Bremer auch zum Schatz- und Landrath. Derselbe wurde von der Regierung bestätigt und in das Schatzcollegium eingeführt. [...]
Inzwischen hatte der unermüdliche Berlepsch und sein noch unermüdlicherer Anwalt Häberlin am 30. Januar 1798 von dem kaiserlichen Reichskammergerichte sowol ein mandatum sine clausula gegen Georg III., als gegen die kalenbergische Landschaft erlangt, worin den Beklagten aufgegeben wurde, gegen Berlepsch nicht factisch und willkürlich, sondern justizmäßig im Wege Rechtens zu verfahren, ihn sofort in die bekleideten Aemter und den Genuß seines Diensteinkommens einzusetzen und innerhalb gesetzter Frist Anzeige zu thun, daß dem kaiserlichen Mandate geziemend nachgelebt sei.
Wenn man ein solches Urtheil gegen die Majestät und eine Ritter- und Landschaft, die schlechthin mit Du angeredet wurde, sah, so mußte man glauben, so ein Reichsgericht sei eine herrliche Sache. Das glaubte mindestens der kaiserliche Kammergerichtsbote Heinrich Hauenschild aus Wetzlar, als er sich am 13. Februar desselben Jahres mit dem Land- und Schatzrathe Berlepsch, der die Expedition des Mandats selbst betrieben hatte, in Wetzlar in dessen Kutschwagen setzte und nach zwei Tagen wohlbehalten in München anlangte, wo ihn der Herr Schatzrath verließ und er in der ordinären Post weiter fahren mußte. Heinrich Hauenschild war schon weit im großen Römischen Reiche herumgekommen, er hatte schon manchem Grafen und Fürsten, manchem Bürgermeister und Rath Mandate des Gerichts behändigt, auf keine Reise hatte er sich aber so sehr gefreut als auf diese Reise nach Hannover. Denn es waren jetzt mehr als sechsundzwanzig Jahre vergangen, seit seine einzige Schwester, die im Dienste des Kammergerichtsraths Buff gestanden, mit der ältesten Tochter Lotte, welche nach Hannover geheirathet, fortgezogen war, und er hatte sie seitdem nicht wiedergesehen. Er war damals noch ein Junge gewesen, eben confirmirt, der bei den Herren Assessoren allerlei Dienstleistungen verrichtet. Er erinnerte sich noch sehr wohl des jungen Frankfurters, für den er so unzählige Briefe an Lotte Buff bringen mußte, des seitdem so berühmt gewordenen Goethe, er hatte auch Jerusalem gekannt, der sich todtgeschossen, und viele andere Männer, die seitdem zu hohen Ehren und Stellen gekommen waren. So kannte er auch recht wohl den Ehemann Lottens, den jetzigen Hofrath und Vicearchivarius Johann Christian Kestner.
Als Hauenschild daher einen Brief Berlepsch's an dessen Sachführer und Notar Reischauer abgegeben hatte, eilte er in die große Aegidienstraße, wo im jetzigen Cruse'schen Hause Kestner und seine Lotte wohnten. Lotte hatte damals schon so viele Kinder, als diese Geschwister gehabt, ihr ältester Sohn war seit einem Jahre als Auditor bei dem Archiv angestellt, während ihr zehntes Kind (der in Rom verstorbene Legationsrath Kestner) mit den beiden Schwestern Charlotte und Klara noch in der Kinderstube spielte.
Lotte liebte ihre treue Magd Barbara Hauenschild, die ihr von Wetzlar gefolgt, die alle ihre Kinder gepflegt, gar sehr und nahm den Bruder wohl auf, als dieser am 19. Februar gegen Abend bei ihr einsprach. Demselben wurde ein gutes Essen bereitet, eine Flasche Wein vorgesetzt, und Lotte Kestner setzte sich selbst, während er aß, mit in die Küche und ließ sich von ihrer Vaterstadt und der Lahn erzählen. Ob der alte Dom noch stehe, ob die Buche noch vorhanden, unter der sie mit Goethe und ihrem Manne so oft gespeist, wer in den letzten Jahren in ihrer Straße geboren sei, das alles mußte Hauenschild erzählen. Lotte bedauerte nichts mehr, als daß ihr Hofrath auf ein paar Tage nach Celle gereist sei in Begleitung des Auditors.
Da wurde laut und heftig an die Thür gepocht, es erschienen drei Männer mit rothen Röcken und großen dreieckigen Hüten, wie sie schon nicht mehr Mode waren, die sich als Regierungsbote Tubbe, als Kanzleibote Sprenger und als Consistorialbote Ringe kundgaben und begehrten, den sogenannten Reichskammergerichtsboten Hauenschild, der sich hier aufhalten sollte, zu sprechen.
Die Frauenzimmer, Lotte wie Hauenschild's Schwester, waren natürlich sehr erschrocken, und begab sich nun folgende Haupt- und Staatsaction in der Küche. Der Regierungsbote zog ein großes Schreiben mit Siegel und der Unterschrift des Geheimraths von Kielmannsegge hervor, stemmte die eine Hand auf den großen Bambusstock und las den Befehl der Geheimräthe, der dahin lautete: »Dem allhier sich eingefundenen Kammergerichtsboten Hauenschild werde damit zur Nachachtung bedeutet, daß das von ihm überbrachte insinuandum in Sachen u. s. w., in welchen das kaiserliche und Reichskammergericht offenkundigermaßen incompetent sei, von Se. Majestät dem Könige nicht angenommen werden könne, dermalen ihm befohlen würde, sich aller heimlichen und öffentlichen Insinuation davon, als welche ein für allemal hierdurch cassirt und für ungültig und unstatthaft erklärt werde, bei unangenehmer Verfügung zu enthalten und sich sogleich aus Seiner Majestät hiesiger Residenz hinwegzubegeben.«
Unser kaiserlicher Reichskammergerichtsbote aber warf sich in die Brust, wies auf seinen kaiserlichen Adler vor derselben und meinte, er sei doch kein Spitzbube, als welcher er hier überfallen und behandelt würde, sondern ein kaiserlicher Bediensteter, und der Kaiser stehe über Reich und Königen. Und das meinte seine Schwester Barbara erst recht, und fuhr auf den Regierungsboten Tubbe, den sie niemals hätte beleidigen mögen, los, daß diesem für seine Augen bange wurde. Lotte Kestner suchte zu begütigen und meinte, morgen komme ihr Mann wieder, und der werde das schon ausmachen, für heute sei Hauenschild ihr Landsmann, ihr Gast, und man möge hier ihn nicht weiter belästigen. Tubbe aber war in seiner Würde als Regierungsbote angegriffen, er befahl dem Hauenschild, bei Strafe sofortiger Verhaftung insinuandum und sonstige Papiere vorzulegen. Und als die ängstlich gewordene Barbara das in Riemen geschnürte Actenpacket, das neben dem Hute und Rocke des Bruders lag, hervorholte, hing Tubbe dasselbe dem Reichskammergerichtsboten um, befahl seinen Begleitern, denselben unter den Arm zu nehmen, und so führte man den Mann, der die Befehle des Kaisers und Reichs ausführen sollte, aus dem Hause zum Aegidienthore heraus. Hauenschild protestirte fortwährend, und als man in die Vorstadt kam, bat er, ihn, da er ein alter Mann sei, der in der Nacht und bei dem schlechten Wetter nicht gehen könne, daselbst zu lassen. Allein man schleppte den Reichskammergerichtsboten bei Nacht und Nebel durch Koth und Dreck bis an die Grenze des Stifts Hildesheim, wo man ihm bei Gefängnißstrafe das Kurfürstenthum zu betreten verbot. Der Reichskammergerichtsbote brachte die Nacht im Fieber auf der Landwehrschenke zu, setzte am andern Morgen ein großes Promemoria auf, daß Se. kaiserliche Majestät und das hohe Kammergericht in seiner Person in Hannover beschimpft sei, und begab sich dann nach Hildesheim, wo er durch die kaiserlichen Notare Albrecht und des statt zweier Zeugen subrequirirten Notars Firnhaber das Originalmandat vom 29. Januar 1798 der königlichen Landesregierung wie auch der kalenbergischen Landschaft durch die Post insinuiren ließ.
Da Hauenschild grubenhagensche und göttingensche Landestheile noch berühren mußte, um nach der Heimat zurückzugelangen, vertauschte derselbe vorsichtigerweise seinen kaiserlichen Livreerock mit einem bürgerlichen Kleide, und da er nicht wagte, die ordentliche Post zu benutzen, und sich fürchtete, weil er dennoch heimlich insinuirt hatte, in Haft genommen zu werden, kam er nach großen Mühseligkeiten und Beschwerden im Hessischen, im Hause Berlepsch an, wo der Gerichtshalter Seutheim und Justitiar Rausch über seine Behandlung in Hannover ein gerichtliches Protokoll aufnahmen, das sich in der »Sammlung sehr wichtiger Actenstücke in der Berlepsch'schen Sache«, so 1798 in Frankfurt und Leipzig erschienen, Seite 7–17 abgedruckt findet. Das war der letzte kaiserliche Reichskammergerichtsbote, der das Land Hannover betrat." (Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, Buch 3, 9. Kapitel)