24 November 2013

Die Vorweihnachtszeit aus der Sicht eines Mannes

Wenn man das Urteil des Herrn Hummel als gemeingültig betrachten darf, ist leider auch den Männern, welche die Ehre eines Hauses zu vertreten haben, die Begeisterung dieser Wochen nicht vollständig entwickelt. 
»Glauben Sie mir, Gabriel,« sagte Herr Hummel an einem Dezemberabend, während er einem Jungen nachblickte, der mit Brummteufeln umging, »in dieser Zeit verliert der Mann seine Bedeutung; er ist nichts als Geldspind, in dem sich der Schlüsselbart vom Morgen bis zum Abend dreht. Die beste Frau wird unverschämt und phantastisch, alles Familienvertrauen schwindet, eines geht scheu an dem andern vorüber, die Hausordnung wird mit Füßen getreten, die Nachtruhe gewissenlos ruiniert; wenn gegessen werden soll, läuft die Frau auf den Markt, wenn die Lampe ausgelöscht werden soll, fängt die Tochter eine neue Stickerei an. Und ist die lange Not ausgestanden, dann soll man sich gar noch freuen über neue Schlafschuhe, welche einen Zoll zu klein sind, und bei denen man später die grobe Schusterrechnung zu bezahlen hat, und über eine Zigarrentasche von Perlen, die platt und hart ist wie eine gedörrte Flunder. Endlich zu allerletzt, nachdem man goldene Funken gespuckt hat wie eine Rakete, fordern die Fragen noch, daß man auch ihnen selbst durch eine Schenkung sein Gemüt erweist. Nun, die meinigen habe ich mir gezogen.« »Ich habe doch auch Sie selbst gesehen,« wandte Gabriel ein, »mit Paket und Schachtel unter dem Arm.« »Dies ist wahr,« versetzte Herr Hummel, »eine Schachtel ist unvermeidlich. Aber, Gabriel, das Denken habe ich mir abgeschafft. Denn das war das Niederträchtige bei der Geschichte. Ich gehe jedes Jahr zu derselben Putzmacherin und sage: ›eine Haube für Madame Hummel.‹ Und die Person sagt: ›zu dienen, Herr Hummel,‹ und die Architektur steht reisefertig vor mir. Ich gehe ferner jedes Jahr zu demselben Kaufmann und sage: ›ein Kleid für meine Tochter Laura, so und so teuer, ein Taler Spielraum nach oben und unten,‹ und das Kleid liegt preiswürdig vor mir. Im Vertrauen, ich habe den Verdacht, daß die Frauen hinter meine Schliche gekommen sind und sich die Sachen vorher selbst aussuchen, denn es ist immer alles sehr nach ihrem Geschmack, während in früheren Jahren Widersetzlichkeit stattfand. Jetzt haben sie die Mühe, den Plunder auszuwählen, und am Abend müssen sie noch heucheln wie die Katzen, auseinanderfalten und anprobieren, sich erstaunt stellen und mein ausgezeichnetes Geschick loben. Das ist meine einzige Genugtuung bei dem ganzen Kindervergnügen. Aber sie ist dürftig, Gabriel.«

Gustav Freytag: Die verlorene Handschrift

20 November 2013

Der stumme Prophet VII - der Revolutionsführer

Nach drei langen Monaten, die ihm wie Jahre erschienen waren, kam er in Kursk wieder mit Berzejew zusammen. »Sooft ich dich wiedersehe«, sagte Berzejew, »erscheinst du mir anders! Das war schon damals so, als wir uns auf der Flucht immer wieder trennen mußten. Man könnte sagen, du veränderst dein Gesicht noch schneller als deinen Namen.« Seit seiner Rückkehr nach Rußland trug Friedrich jenes Pseudonym, unter dem er Artikel in den Zeitungen veröffentlicht hatte. Er gestand es nicht einmal Berzejew, daß er im stillen seinen neuen Namen liebte wie eine Art von Rang, den man sich selbst verleiht. Er liebte ihn als den Ausdruck seiner neuen Existenz. Er liebte die Kleidung, die er jetzt trug, die Wendungen, die in seinem Gehirn und auf seiner Zunge lagen und die er unermüdlich hersagte und niederschrieb; denn er fand eine Wollust gerade in der Wiederholung. Hundertmal schon hatte er vor den Soldaten dasselbe gesagt. Hundertmal schon hatte er in Flugblättern das gleiche geschrieben. Und jedesmal erfuhr er, daß es bestimmte Worte gab, die sich niemals abnutzten und etwa den Glocken glichen, die immer den alten Klang erzeugten, aber auch immer einen neuen Schauder, weil sie so hoch und unerreichbar über den Köpfen der Menschen hängen. Es gab Laute, die nicht von menschlichen Zungen geformt, sondern mitten unter die Tausende von Worten der irdischen Sprache von unbekannten Winden getragen, verweht worden waren aus überweltlichen Sphären. Es gab das Wort »Freiheit«! Ein Wort, so unermeßlich wie der Himmel, so unerreichbar einer menschlichen Hand wie ein Gestirn. Dennoch geschaffen von der Sehnsucht der Menschen, die immer wieder nach ihm griff, und getränkt von dem roten Blut Millionen Toter. Wie viele Male hatte er schon die Phrase »Wir wollen eine neue Welt!« wiederholt. Und immer war die Wendung ebenso neu wie das, was sie ausdrückte. Und immer wieder fiel sie wie ein plötzliches Licht über ein fernes Land. Es gab das Wort »Volk«. Sprach er es vor den Soldaten aus, vor diesen Matrosen und Bauern und Tagelöhnern und Arbeitern, die er für Volk hielt, so war es ihm, als hielte er einem Licht einen Spiegel entgegen, der es verstärkte. Wie hatte er sich damals, als er noch kluge Vorträge vor den jungen Arbeitern hielt, um neue und deutlichere Worte bemüht, und wie wenig gab es eigentlich zu sagen. Wie viele nutzlose Worte zählte die Sprache, solange die wenigen einfachen noch nicht ihr Recht, ihr Maß und ihre Wirklichkeit hatten. Brot war nicht Brot, solange es nicht alle aßen und solange sein Klang von dem des Hungers begleitet wurde wie ein Körper vom Schatten. Man kam mit wenigen Gedanken, ein paar Worten und einer Leidenschaft aus, die keinen Namen hatte. Sie war Haß und Liebe zugleich. Er glaubte, sie in seiner Hand zu halten wie ein Licht, mit dem man leuchtet und mit dem man ein Feuer anzündet. Vertraut war ihm der Mord geworden wie Trinken und Essen. Es gab keine andere Art des Hassens. Vernichten, vernichten! Was die Augen tot sahen, das allein war verschwunden. Erst die Leiche des Feindes war nicht mehr Feind.
(Joseph Roth: Der stumme Prophet, Kapitel 31)

vgl. auch: J.Roth: Hiob

Der stumme Prophet VI - Schweiz

Es war schon Schweizer Boden, über den er jetzt fuhr. Keine kriegerischen Plakate an den Wänden der Bahnhöfe und keine Züge mit Uniformierten mehr. Es war, als käme er unmittelbar aus einer Schlacht, nicht nur aus einem Land, das Krieg führte. Jene friedliche Welt, nach der er sich in Sibirien gesehnt hatte, begann erst hier. Ihm war, als hätte der Frieden ein merkwürdiges und unbekanntes Gesicht und als wäre der Krieg ein selbstverständlicher und natürlicher Zustand gewesen. Während der ganzen Fahrt durch Rußland, Österreich und Deutschland hatte er sich an den Gedanken gewöhnt, daß der sichere Tod in Europa herrsche. Auf einmal, an einer Grenze, begann das gewöhnliche Leben. Es war, wie wenn er an die Grenze eines Regens gekommen wäre und gerade noch hätte sehen dürfen, wie plötzlich die Scheidung zwischen blauem und bewölktem Himmel, nasser und trockener Erde wäre. Auf einmal sah er junge Männer in Zivil, die längst eine Uniform hätten tragen müssen. Auf einmal sah er Männer von Frauen einen ruhigen Abschied nehmen, und er hörte, wie sie einander »Auf Wiedersehn!« sagten. Offenbar waren alle ihres Lebens sicher. [...]
Das ist also das Wesen der Neutralität, sagte er sich. Schon vom Zug aus fühle ich, wie der Krieg nebensächlich wird. Das Bewußtsein, daß soviel Blut fließt, begleitet nicht mehr jeden Gedanken. Ich fange an, die Gleichgültigkeit Gottes zu verstehen. Die Neutralität ist eine Art Gottähnlichkeit. [...]
Kein Zimmer zu kriegen. Deserteure und Pazifisten haben die ganze Schweiz besetzt.« [...]

Ich habe Hilde nicht geschrieben. Ich habe fortwährend an sie gedacht und sie nicht einen Augenblick sehen wollen. Wenn ich mir nicht vorgenommen hätte, um jeden Preis aufrichtig zu sein, sobald ich allein vor diesem Papier sitze, hätte mich die Scham gehindert, hier niederzuschreiben, daß ich vor die Auslage des Photographen gegangen bin, wo die ganze Zeit über ein großes Porträt Hildes ausgestellt war. Es ist nicht mehr da. Ein Oberleutnant, in Farben, hängt jetzt in der Vitrine. [...]

Aber die Dämmerung kam plötzlich, und ein scharfer, kristallener, gleichmäßiger, singender Wind verschärfte die finstere Kälte der langen Nacht und schien den Frost unaufhörlich zu schleifen, damit er noch schneidender und spitzer werde.

(Joseph Roth: Der stumme Prophet, Kapitel 27ff.)

Der stumme Prophet V - Krieg

Offiziere kamen vom Frühstück, mit klirrenden Sporen, gegürteter Taille, mit der kriegerischen Eleganz, die aus dem Offizier ein Muster der Männlichkeit macht und ihm zugleich eine Ähnlichkeit mit weiblichen Mannequins verleiht. Sie wiegten sich in den Hüften, an denen die Pistolen wie Schmuckstücke in Etuis hingen. Die Soldaten in den Straßen grüßten. Und die Offiziere erwiderten lustig und leger. Wie sie so dahingingen, zwischen grüßender Ehrfurcht, stummer Dienstbereitschaft, verliebter Ergebenheit, erinnerten sie an gefeierte Damen der Gesellschaft, die durch einen Ballsaal schreiten. [...]

Frau Tarka hatte lange gut an heimlichen Abtreibungen verdient.
Frau Tarka verlor allmählich ihre Kundschaft. Die Männer rückten ein, die Frauen wurden Pflegerinnen. Sie lernten allmählich vorsichtig sein und Schwangerschaften vermeiden. Es war Übung. Die geschlechtlichen Dinge konnten kein Geheimnis mehr bleiben. Und die Angst der Mädchen vor den Vätern wurde auch mit der Zeit geringer. [...]

Ein paar grauhaarige Männer, die Grünhut mit einem kurzen Schweigen begrüßten, sprachen von der Politik. [...]

Die Mütter der Toten trugen ihren Schmerz wie Generäle ihren goldenen Kragen, und der Tod der Gefallenen wurde eine Art Auszeichnung der Hinterbliebenen. [...]

Er sah Hilde an. Eine leichte Röte, die das Braun ihrer Wangen dunkler machte, verriet, daß sie sich als der Mittelpunkt eines Kreises von Auserlesenen fühlte, die sie anbeteten und die sie selbst verehrte, und Friedrich fragte sich, ob es einen ursächlichen Zusammenhang gab zwischen der Anbetung, die sie genoß, und der Verehrung, die sie zollte.  [...]
Kluge Offiziere hatten sich allmählich daran gewöhnt, Zivilpersonen, denen sie in der ersten Klasse begegneten, für Vorgesetzte zu halten. [...]

Und es regnete, dicht, langsam, eintönig von einem tiefen, dunkelgrauen Himmel aus Blei, der seit der Erschaffung der Welt nicht eine Stunde lang blau gewesen war. Es regnete. In einem leeren und großen Kaffeehaus, an dessen breiten Fensterscheiben patriotische und sprachreinigende Aufschriften klebten wie: »Sag nicht adieu, sondern auf Wiedersehn!« »Sprich nicht mit welscher Zunge!« neben Ansichtskarten mit fettgedruckten Versen von Theodor Körner, nahm Friedrich Platz. Eine Kellnerin brachte ihm einen hellen Kaffee, der an den Rändern rosa schimmerte. [...]

»Haben Sie immer so wenig Passagiere?« fragte er. »Fahrgäste!« verbesserte sie, ohne die Frage zu beantworten. [...]

»Verehrtes gnädiges Fräulein, ich habe nicht die Wahrheit gesprochen, als ich Ihnen erzählte, daß ich in der nächsten Woche einrücken werde. Ich werde nie einrücken. Ich bin unterwegs nach der Schweiz. Ich hatte keine Gelegenheit, Ihnen zu sagen, wie ich über diesen Krieg denke, ich will es auch gar nicht versuchen. Sie kennen genug aus meinem Leben, um zu wissen, daß ich nicht feige bin. Wenn ich Ihnen sage, daß ich nicht einrücken werde, um für Ihren Franz Joseph, die französische Kriegsindustrie, den Zaren, Kaiser Wilhelm zu kämpfen, so geschieht es nicht, weil ich für mein Leben fürchte, sondern weil ich es bewahren will für einen besseren Krieg. Seinen Ausbruch werde ich in der Schweiz abwarten. Er wird ein Krieg gegen die Gesellschaft sein, gegen die Vaterländer, gegen die Dichter und Maler, die bei Ihnen verkehren, gegen die trauten Familien, gegen die falsche Autorität der Väter und den falschen Gehorsam der Kinder, gegen den Fortschritt und gegen Ihre Emanzipation, gegen die Bourgeoisie kurz und gut. Es gibt auch noch andere, die mit mir in diesen Krieg ziehen werden. Aber nicht viele, die ein privates Schicksal so gut für ihn vorbereitet hat. Ich hätte gewiß die Familie gehaßt, auch wenn ich sie gekannt hätte. Ich hätte gewiß einer vaterländischen Phrase mißtraut, auch wenn man mich in Heimatliebe erzogen hätte. Aber meine Überzeugung ist eine Leidenschaft geworden, weil ich das bin, was Sie nach Ihrem Vokabular einen ›Heimatlosen‹ nennen. Ich werde für eine Welt in den Krieg gehn, in dem ich zu Hause sein kann. Ich schreibe Ihnen mein Bekenntnis, weil ich ihm gleich noch ein zweites hinzufügen werde. Ich liebe Sie nämlich. Oder, weil ich den Begriffen mißtraue, die uns das bürgerliche Wörterbuch zur Verfügung stellt, und den Worten, die Ihre Gesellschaft so oft mißbraucht hat: Ich glaube, Sie zu lieben. Als ich Sie zum erstenmal im Wagen sah, waren Sie gewissermaßen noch ein Bestandteil des Ziels, das ich noch nicht genau kannte, aber mir trotzdem gesetzt hatte. Sie gehörten zu den Zielen, denen ich zustrebte. Ich wollte die Macht innerhalb der Gesellschaft erobern, der Sie angehören. Früher, als ich damals gedacht hätte, hat sich mir die Ohnmacht dieser Gesellschaft enthüllt. Selbst wenn ich nicht die Überzeugung hätte, daß man eine schlechte Welt vernichten muß, selbst wenn ich nur Egoist wäre sozusagen, könnte ich mich nicht mehr um eine Macht bemühen, die eine Fiktion wäre. Obwohl ich also heute ein anderes Ziel habe als jenes, dessen Teil Sie mir einmal zu sein schienen, habe ich doch nie aufgehört, an Sie zu denken. Ich möchte Sie vergessen und hatte auch Gelegenheit genug dazu. Daß ich es aber nicht kann, scheint mir ein Beweis dafür zu sein, daß ich Sie liebe. Ich müßte also eigentlich trachten, Sie zu gewinnen. Aber dann müßte sich vorher einer von uns zum andern bekehren. Und das ist unmöglich. Ich will daher, wie man sagt, auf Sie verzichten. Ich gestehe, daß ich es Ihnen in der sehr vagen Hoffnung mitteile, Sie könnten mir einmal Gelegenheit geben, nicht den Verzicht überflüssig zu finden, aber wenigstens ihn zu bereuen. Und in dieser so unbestimmten und dennoch so tröstlichen Hoffnung küsse ich Ihre Hände, nach denen ich mich sehne. Leben Sie wohl! Ihr Friedrich«
(J. Roth: Der stumme Prophet, Kapitel 23-27)

18 November 2013

Der stumme Prophet IV - Flucht

»Ich muß fliehen«, sagt Friedrich.
»Unmöglich jetzt, wir werden frei.«
»Verlaß dich auf mich, ich denke jeden Tag daran.«
In diesem Augenblick stößt Lion hastig die Türe auf. Er schwingt eine Zeitung.
Der österreichische Thronfolger ist erschossen. [...]
Sie fürchteten die Aufmerksamkeit der Spitzel eher auf sich zu lenken, wenn sie zusammenblieben. Sie beschlossen also, sich für einige Tage zu trennen, sich dann wieder zu treffen und in Etappen die Reise bis zur ersten größeren Stadt zurückzulegen. Der früher Angekommene sollte auf den anderen warten. Der später Angekommene später wegfahren. Fing man einen von ihnen, so wußte der andere, daß er sich vorläufig nicht zeigen dürfe. Sie waren jeden Augenblick bereit, der Polizei in die Arme zu fallen. Aber jeder von den beiden zitterte mehr um den andern als um sich. Die beständige Sorge befestigte ihre Freundschaft mehr, als wenn sie jede Gefahr gemeinsam hätten bestehen müssen, und schenkte ihnen der Reihe nach alle Arten und Grade der Liebe, die das Verhältnis der Freundschaft bestimmten: Sie wurden einander Väter, Brüder und Kinder. Immer, wenn sie sich nach einigen Tagen trafen, fielen sie sich in die Arme, küßten sich und lachten. Auch wenn keinem von ihnen unterwegs eine wirkliche Gefahr begegnet war, so blieb jeder doch von den Gefahren erschüttert, von denen er sich eingebildet hatte, daß sie den andern bedrohen. Und obwohl ihre Trennung den Zweck hatte, wenigstens einen vor der Verhaftung zu bewahren, nahmen sich doch beide im stillen vor, sich freiwillig zu stellen, wenn dem anderen etwas zustoßen sollte. [...]
Die Radikalen fielen den Konservativen in die Arme, und wie immer, wenn fremde Menschen sich in einer Gefahr verbinden und Gegner sich versöhnen, glaubte man auch damals an eine wunderbare Wiedergeburt des Landes, weil den Menschen das Wunder einer Verbrüderung genügt, damit sie an ein noch unwahrscheinlicheres glauben. So vertraut ist der menschlichen Natur die Feindschaft und so fremd die Versöhnung. [...]
»Wie rätselhaft«, sagte Friedrich zu Berzejew, als sie in ihrem Hotelzimmer saßen, »daß die einzelnen, aus denen doch die Masse gebildet ist, ihre Eigenschaften aufgeben, selbst ihre primären Instinkte verlieren. Der einzelne liebt sein Leben und fürchtet den Tod. Zusammen werfen sie das Leben weg und verachten den Tod. Der einzelne will nicht zum Militär gehn und Steuern zahlen. Zusammen rücken sie freiwillig ein und leeren ihre Taschen aus. Und das eine ist so echt wie das andere.«
(Joseph Roth: Der stumme Prophet, Kapitel 20, 22)

17 November 2013

Nachruf auf Doris Lessing


Doris Lessing, gefeiert als Feministin, lange Zeit für den Kommunismus aufgeschlossen, war sie sehr selbständig in ihrem Urteil und setzte sich vom Kommunismus ab. Werke einer visionären Science Fiction und doch sehr matter of fact.
Mir gefiel der zweite Teil ihrer Autobiographie (Schritte im Schatten), uneitel, selbstkritisch, selbstbewusst:
Unerbittlich wird die Frage gestellt, warum die Suche nach dem privaten Glück und das Mitleid mit den Erniedrigten und Beleidigten über mehr als ein Jahrzehnt hinweg mit dem Glauben an die welterlösende Mission der Arbeiterklasse verschmolzen.
In der Analyse privater Illusionen entzaubert Doris Lessing das "Gralsrittertum" verblendeter Intellektueller und beschreibt mit unerhörter Genauigkeit die Spannungen, die biographischen Konstellationen und den Zusammenhalt eines zugleich literarischen und politischen Milieus. Es bot im Schatten des Kalten Krieges und im Vertrauen auf die Sowjetunion den "Dogmatismus" und die Lebenswärme einer säkularen Religionsgemeinschaft. In ihr schien die Grenze von Wahrheit und Lüge klar abgesteckt, und selbst noch das verlorenste Individuum konnte sich mit dem Mantel des linken Weltgeistes umhüllen. Es war ein Milieu, das, wie vorgeführt wird, nicht nur den Heuchlern und den Zynikern der Macht, nicht nur den pubertierenden Dauerprotestlern, sondern auch manchem gebildeten Idealisten und vielen Opfern schlimmer Verhältnisse Halt und Heimat bot. [...] Im atmosphärischen Kolorit ihrer Schilderungen, die alle Nöte der Häuslichkeit, alle Ängste vor der Schreibmaschine, alle Merkwürdigkeiten nächtlicher Streifzüge und auch die Phasen alkoholisierter Verzweiflung noch einmal aufleben lassen, schließen sich diese Erinnerungen an die "Dokumentation" an, die 1986 unter dem Titel "Auf der Suche" in deutscher Übersetzung erschien. (FAZ, 4.11.97)
Die Rezension der FAZ trifft recht genau, was auch ich in Erinnerung habe, auch im Verhältnis zu ihrer Mutter und in ihrer kritischen Sicht auf ihre eigene Rolle als Mutter. - Zu hart war die Selbständigkeit erkämpft und zu sehr sah sie sich auf ihre Schriftstellerei als finanzielle und selbstidentifikatorische Basis angewiesen, um ihre Ansprüche an ihre Mutterrolle erfüllen zu können.
Sie ist eine Schriftstellerin, deren Werk mir zu großen Teilen fremd bleibt, für die ich aber eine tiefe Sympathie empfinde.

Der stumme Prophet III - Die Verbannung

Ein kleiner, rundlicher Mann mit einem schwarzen Bärtchen stand plötzlich neben Friedrich. »Schöne Nacht«, sagte er, »nicht wahr?« »Ja«, sagte Friedrich, »eine schöne Nacht.« »Ich verhafte Sie, mein lieber Kargan«, sagte der Mann freundlich. Er hatte eine rundliche, weiße, fast weibliche Hand mit kurzen Fingern. »Pascholl!« kommandierte er. Zwei Männer, die plötzlich zum Vorschein kamen, nahmen Friedrich in die Mitte. Er fühlte nur den Wind wie einen Trost aus der unermeßlichen Ferne. [...]
»Wenn ich die Menschen während der Fütterung betrachte«, sagte Friedrich zu Berzejew, einem früheren Oberleutnant, »bin ich überzeugt, daß sie nichts mehr nötig haben als eine Kugel am Bein, einen Löffel in der Rechten und ein Blechgeschirr in der Linken. Das Herz ist so nahe dem Darm, Zunge und Zähne grenzen so hart an das Gehirn, die Hände, die Gedanken niederschreiben, können so gut ein Lamm erwürgen und einen Bratspieß drehen, daß ich ratlos vor den Menschen stehe wie vor einem legendären Drachen.« »Sie sprechen wie ein Dichter«, erwiderte Berzejew, lächelte und zeigte zwischen dem schwarzen Bart zwei Reihen leuchtender Zähne, die wie ein Beweis für Friedrichs Behauptung aussahen. »Ich kann solche Worte nicht finden. Aber ich habe auch gesehn, daß der Mensch rätselhaft ist, und vor allem: daß man ihm nicht helfen kann.« Beide erschraken sie. Waren sie nicht hier, weil sie ihnen helfen wollten? Sie wandten sich voneinander ab. [...]
Nach vier Tagen wurden sie ausgeschifft, in eine große Halle geführt und einwaggoniert. Sie waren erfrischt, als sie wieder das Land betraten, und ihre Ketten hatten einen hurtigeren Klang. [...]
Die Freiheit war nicht wie ein Eigentum, das jeder einzelne verloren hatte. Sie war ein Element wie die Luft. [...]
Die Erfahrenen, die schon dort gewesen waren, begannen, die Schrecknisse dieses Kerkers zu schildern. Zuerst schauderten sie bei ihren eigenen Worten und machten die Zuhörer schaudern. Aber allmählich, während sie erzählten, wurde die Begeisterung, die sie nur aus dem Erzählen bezogen, stärker als der Inhalt ihrer Rede und die Neugier der Zuhörer größer als der Schrecken. Sie saßen da wie Kinder, die Märchen von gläsernen Palästen hören. Panfilow und Sjemienuta, zwei alte, weißbärtige Ukrainer, schilderten die Einzelzellen sogar mit einer Art Wehmut, und vergeßlich, wie das menschliche Herz ist, und weil der Weg noch allen unendlich vorkam und das Ziel trotz der Versicherungen der Erfahrenen noch ungewiß blieb, glaubten alle für ein paar kurze Stunden nicht, sie selbst führen dem Elend der Gefängnisse entgegen, sondern ganz andre, Fremde. [...]
Nur Berzejew warf nichts weg. Sein umfangreiches Gepäck trugen die Soldaten. Er konnte ihnen ein gutes Wort sagen, eine Zigarette in den Mund stecken und zuschnalzen wie Pferden. [...]
Nach dem Gesetz sollte ihr Bestimmungsort zehn Werst von einer Stadt, zehn Werst von einem Fluß und zehn Werst von einer Landstraße entfernt sein. Es gelang ihnen dennoch, an einen Fluß zu kommen, an den Fluß Kolyma. Er ist größer als der Rhein, nur drei Städte sind an ihm gelegen. Die eine hatte neun Einwohner, die andere hundert Einwohner in dreißig Militärbaracken. Friedrich, Berzejew und Lion entschlossen sich für die dritte Stadt, Sredni Kolymsk. Dort gab es weit auseinanderliegende Hütten und nur drei Häuser mit gläsernen Fenstern. Aber es war in einem Umkreis von vielen Meilen der einzige Ort mit einer Kirche, einem Turm und Glocken; Glocken, die man in der zivilisierten Welt gegossen hatte und deren Klang war wie eine Muttersprache. [...]
Mehl war unerschwinglich. In dieser Gegend konnten die Hausfrauen nur dreimal im Jahr backen. Das Brot war seltener als das Fleisch. Zum erstenmal fühlte Friedrich die unmittelbare Beziehung zwischen Sonne und Erde. Zum erstenmal verstand er den einfachen Sinn des Gebets, das man an den Himmel richtet um das tägliche Brot. An dem brotlosen Tisch, an den er sich zweimal täglich setzte, gedachte er der Bäckerläden in den lebendigen Städten. Er schloß die Augen. Er stellte sich die verschiedenen Farben des Mehls und die verschiedenen Formen der Brote vor. »Wovon träumst du?« fragte Berzejew. »Von Broten. Wenn ich mir die Welt vorstelle, von der wir abgeschlossen sind, denke ich an ganz lächerliche Dinge, z. B. flache Streichhölzer für die Westentasche und runde Pappendeckel für Biergläser, Tintenfässer, die man durch Druck aufklappen kann, Papiermesser aus Zelluloid und an ganz gewöhnliche Sachen, wie z. B. eine Ansichtskarte. [...]

Das Leben ist kurz. Sechzig Jahre Freiheit sind weniger als zehn Jahre Sibirien. [...]

(J. Roth: Der stumme Prophet , Kapitel 14-20)

Der stumme Prophet II - Hilde

Diese ganze Jugend, die noch nicht ahnte, daß sie bald in einem Weltkrieg dezimiert werden sollte, benahm sich so, als hätte sie unaufhörlich Ketten zu sprengen. Die jungen Beamten sprachen von den Gefahren, die dem alten Reich drohten, von der Notwendigkeit einer weitgehenden Autonomie der Nationen oder einer starken zentralisierenden Faust, einer Auflösung des Parlaments, einer sorgfältigeren Auswahl der Minister, einem Bruch mit Deutschland, einer Annäherung an Frankreich oder aber einer noch engeren Verbindung mit Deutschland und einer Provokation Serbiens. Die wollten den Krieg vermeiden, jene ihn heraufbeschwören, aber beide dachten, es handelte sich um einen kleinen, heiteren Krieg. Die jungen Offiziere machten für alles das langsame Avancement verantwortlich und die Dummheit des Generalstabs. Die Dozenten, von der Sanftheit junger Theologen, verbargen unter einem Schatz von Wissen einen Hunger nach Geltung und Mitgift. Die Künstler gaben zu verstehen, daß sie eine unmittelbare Beziehung zum Himmel hatten, spotteten über die Autorität, vertraten den Olymp, das Kaffeehaus und das Atelier gleichzeitig. Jeder war kühn, und doch rebellierte jeder nur gegen seinen eigenen Vater. [...]
Sie bildete sich ein, reine Kameradschaft zu halten, aber wenn ihr einer kein Kompliment machte, begann sie, an seiner Persönlichkeit zu zweifeln. Zwar hielt sie nichts von der altmodischen Liebe, aber sie brach den Verkehr mit einem Mann ab, der ihr nicht zu erkennen gab, daß er in sie verliebt sei. [...]

Sie buchte die Begegnung mit Friedrich unter ihren »merkwürdigen Erlebnissen«. Seine sichtbare Armut war eine neue Nuance in ihrem Bekanntenkreis. Sein weitreichender Radikalismus unterschied ihn von den kleinen Rebellen. Sie ging doch ein wenig aufgeregt das nächstemal in die Vorlesung.
»Ich möchte Sie begleiten«, sagte er. Natürlich, dachte sie, aber sie sagte nur: »Wenn es Ihnen Spaß macht.« Und da es regnete, stellte sie sich vor, wie sie mit ihm in sein Zimmer gehen würde oder in ein Café. Er hat aber wahrscheinlich kein Geld, überlegte sie, und von nun an hörte sie nicht mehr, was er sagte. Er versuchte auf der Straße, wo die Nässe, der Wind und die Regenschirme Verwirrung unter den Menschen stifteten, manchmal nach ihrem Arm zu greifen. Ihr Arm erwartete seine Hand. Man sieht, einen wie geringen Einfluß die Emanzipation eigentlich auf Hilde ausgeübt hatte.

Sie erreichten das kleine Café, wo er Stammgast war und wo er ohne Verlegenheit schuldig bleiben oder Geld borgen konnte. Als wäre es ihm erst soeben eingefallen, sagte er: »Wir sind naß, kommen Sie.« Sie fühlte eine leise Ahnung von dem Glück eines Mädchens, das der Geliebte ins Zimmer führt.  [...]
Sie begann: »In der Nacht schliefen wir vier in einem großen Zimmer, jeder in einer Ecke. Links am Fenster stand mein Bett. Mir gegenüber schlief die kleine Gerb. Ihr Vater war ein deutscher Finanzbeamter, aus Hessen, glaube ich. In der Nacht kam sie in mein Bett. Wir waren damals sechzehn Jahre alt. Sie erzählte mir, daß ihr Vater, ein Kadettenschüler, sie sozusagen aufgeklärt habe. Das ist doch furchtbar, nicht?« Friedrich verstand nicht, wonach sie gefragt werden wollte. »Ich glaube«, sagte er, »daß es Ihnen nicht so furchtbar vorkäme, wenn Sie bedenken wollten, daß 60 % aller proletarischen Kinder zwischen zwölf und sechzehn nicht mehr intakt sind. Haben Sie einen Begriff davon, wie es in den Massenquartieren aussieht?« Sein alter Zorn! Mit einem bitteren Eifer begann er wieder und nahm ihr jede Lust zu Geständnissen. In einem guten Pensionat, wo nur vier Mädchen in einem Zimmer schlafen, hat man keine Ahnung von einer Arbeiterwohnung. Er schilderte ihr eine. Er erklärte, was ein Bettgeher sei, ein Obdachlosenheim, das Leben der Verbannten und der politisch Verurteilten. Sie tröstete sich. Welch eine Bekanntschaft! dachte sie stolz. [...]

Sie trat in dem kleinen Kaffeehaus ein, um Friedrich zu überraschen, fand ihn nicht und hinterließ ihm eine Einladung für Samstag nachmittag.
Er kam und traf den Maler. Er kannte den auffälligen Mann schon vom Sehen. Er haßte den markanten Schädel voller Bedeutung, die breite, weiße Stirn, die buschigen Brauen, die ihr Besitzer jeden Tag zu besprengen schien wie Wiesenbeete. Sie beschatteten seine leeren Augen derart, daß in ihnen die dunkle Tiefe rästelhafter Seen zum Vorschein kam. Er haßte den tiefen, weichen und betont legeren Kragen, aus dem ein massives Doppelkinn dem Kinn wie zu dessen Unterstützung entgegenkam. Er haßte die sogenannten guten Köpfe im allgemeinen. Sie verwendeten einen großen Teil ihrer Energie darauf, noch bedeutender auszusehen, als die Natur es beabsichtigt hatte, und es war, als ob sie jeden Morgen nach dem Aufstehn ihre Talente an den Spiegel abgegeben hätten.
Hilde gab dem Maler den Vorzug. Sie nahm es Friedrich übel, daß sie seinetwegen eine schlechte Nacht verbracht hatte. Sie warf ihm vor, daß er an einem trüben und regnerischen Abend anders erscheinen konnte als an einem hellen Nachmittag. Außerdem war er jetzt verstockt und stumm. Er sah zu, wie der Maler im Laufe einer halben Stunde zehn Skizzen anfertigte, mit fliegenden Fingern und einem drohenden Blick, der von Hilde zum Papier sprang und wieder zurück. Hilde war unruhig. Obwohl sie keinen Zug zu verändern schien, gingen doch plötzlich Veränderungen unter ihrer Haut und unter ihren Zügen vor, und nur an den Augen konnte man sehen, wie ein Licht erlosch und sich wieder entzündete.

Friedrichs Stummheit brachte den Maler außer Fassung. »Ich muß Sie allein haben«, sagte er leise und so, als wollte er, daß Friedrich verstünde, er sagte ein Geheimnis. Friedrich stand auf, der Maler warf einen Blick gegen den Plafond. Er hatte die Fähigkeit, die Welt mehr mit den Brauen als mit den Augen zu sehen. Er packte mit hastiger Resignation seine Blätter zusammen. Da Hilde fürchtete, daß er beleidigt wäre, bat sie ihn zu bleiben. Aber sie ließ Friedrich gehen, und er verschwand, stumm und verstockt und mit dem Entschluß, ihr einen deutlichen Brief zu schreiben, ihr klarzumachen, daß sie ein unwürdiges, verlogenes Leben führte, daß sie anders werden müßte, daß sie mit dieser Bürgerlichkeit und dieser falschen Rebellion aufhören müßte. Alles dies schrieb er in der Hast eines Menschen, der sich vor einer nahen Gefahr retten will. Als er zur vierten Seite gelangte, überlegte er. Er wollte den Brief vernichten, aber er erinnerte sich, daß in allen Büchern Verliebte vorkamen, die Briefe zerrissen. Er hätte keinesfalls lächerlich werden wollen. Und er schickte schnell den Brief ab. [...]
Über ihnen beiden waltete schon das ewige Gesetz, das die Mißverständnisse zwischen den Geschlechtern regelt. (J. Roth: Der stumme Prophet,  Kapitel 11 ff.)

Joseph Roth: Der stumme Prophet I - Friedrich Kargan

Natürlich können Sie gleich mit der Lektüre des Romans "Der stumme Prophet" von  Joseph Roth beginnen, der einen russischen Revolutionär schildert, wie eher in der Aufgaben der Revolution aufgeht, dann das Leben kennen lernt und sich ihm dann wieder entzieht. (vollständiger Text bei Gutenberg.de)

Vielleicht aber ziehen Sie es vor, nicht einfach einer Leseempfehlung zu folgen, sondern erst noch den einen oder anderen Test zu machen. Dazu werden sie in nächster Gelegenheit hier Gelegenheit haben.
ZITATE:

"In der Silvesternacht von 1926 auf 1927 saß ich mit einigen Freunden und Bekannten in Moskau im Zimmer Numero neun des Hotels Bolschaja Moskowskaja. Für einige der Anwesenden war diese private Art, den Silvester zu feiern, die einzig mögliche. [...]
Sie konnten sich weder unter die Ausländer mischen noch unter die einheimischen Bürger, und obwohl der und jener unter ihnen seiner Idee zuliebe schon oft und lange als Beobachter fungiert hatte, hütete er sich doch mit Recht, selbst der Gegenstand einer Beobachtung zu werden. [...]
In meinem Zimmer schwebte der bekannte Zigarettendunst, den man aus den Romanen der russischen Literatur kennen dürfte. [...]
Er hatte, wie viele Menschen, die im Geheimdienst verwendet werden, den Ehrgeiz, nicht nur etwas zu wissen, sondern auch etwas länger zu wissen als die andern. [...]
In dessen Hause verbrachte Friedrich seine Kindheit. Sie verlief nicht ganz unglücklich, obwohl er in die Hände eines Wohltäters gefallen war. [...] In der Volksschule erwies er sich weit begabter als die Kinder seines Brotgebers. Deshalb ließ ihn dieser nicht weiter lernen, [...]
Offenbar wollte die Regierung die armen, arbeitslosen und nicht ungefährlichen Flüchtlinge möglichst schnell aus Österreich entfernen; aber auch die Meinung entstehen lassen, daß die russischen Deserteure mit Schiffskarten und Empfehlungen nach den Überseeländern versorgt würden – dermaßen, daß die Lust, die Armee zu verlassen, immer mehr Unzufriedene in Rußland ergreifen sollte. [...]
Er dachte an die unzähligen Grenzen des riesigen Reiches. In dieser Nacht wanderten Hunderttausende aus, sie gingen aus dem Unglück ins Unglück. Die unermeßliche, schweigende Nacht war von flüchtenden Menschen bevölkert, stumpfe, arme Gesichter, massive Rümpfe, schwere Gliedmaßen." 
(J. Roth: Prophet, Kap.1-4)

07 November 2013

Der letzte der Ungerechten

Der letzte der Ungerechten ist ein Film von Claude Lanzmann auf der Basis eines 1975 von ihm mit Benjamin Murmelstein geführten Interviews, das Lanzmann nicht in seinen Film über die Shoah aufgenommen hat. Der Film ist von Lanzmann dafür gedacht, ein besseres Verständnis für die Judenräte und ihre Rolle zu ermöglichen.
Lebhaft, mit funkelnden Augen und unerbittlicher Präzision, berichtet Murmelstein, wie er in Theresienstadt das Propagandaspiel der Nazis mitspielte und die materiellen Vorteile für die Lagerinsassen nutzte. Ein Ghetto, so seine Rechnung, das als Kulissenstadt dient, kann nicht geschlossen, also ausgelöscht werden. Sehenden Auges begab sich der Rabbiner in dieses Geflecht aus Überleben, Rettung und erzwungener Kollaboration. [...] 
Fast scheint es, als wolle Lanzmann Murmelsteins Sache, die Sache eines Gerechten, der sich selbst als den letzten der Ungerechten bezeichnete, auch physisch auf sich nehmen. Einmal sieht man ihn in eine Kaserne eintreten und auf eine schier endlose Treppe zugehen. Sie führt in Räume, in denen die ältesten Lagerinsassen unter unvorstellbaren Bedingungen dahinvegetierten. Lanzmann holt kurz Luft und geht die Treppe hoch, ohne ein einziges Mal innezuhalten. Es ist die Vergegenwärtigung des Unfassbaren durch die körperliche Präsenz eines 88-jährigen Filmemachers. (Zeit online, 23.5.13)

In einem Interview in der ZEIT vom 7.11.13 berichtet Lanzmann über eine Begegnung mit Steven Spielberg. Er hatte Spielbergs Film Schindlers Liste sehr scharf kritisiert. Bei einem Abendessen, wo man sie absichtlich weit auseinander gesetzt hatte, ging er zu Spielberg:
Ich sagte: "Ich freue mich, Ihnen die Hand zu geben." Er ergriff sie und sagte: "Sie verachten mich." Ich sage zu ihm: "Keineswegs. Ich habe nur einen wirklichen Konflikt mit ihnen. Einen ontologischen Konflikt über das, was das Kino und die Shoah miteinander machen können. Oder nicht miteinander machen können. [...] und ich habe meine Meinung über Schindlers Liste nicht geändert." Steven Spielberg war sehr sympathisch, und er hat sich dann in Cannes Der letzte der Ungerechten angeschaut. Danach hat er mir sieben Briefe geschrieben. Und er gibt mir heute recht, was meine Einwände gegen Schindlers Liste betrifft. [...] Ich habe ihm gesagt, dass wir uns letztlich sehr ähnlich sind. Wir sind zwei ängstliche Juden. Der eine zieht sich aus der Affäre, indem es bei ihm immer ein gutes Ende gibt. Und bei mir geht es immer schlecht aus. Mit dem Tod. Aber sonst sind wir gleich. Zwei jüdische Angsthasen, die Filme machen.
Über die Rolle der Judenräte informieren u.a. ein Wikipediaartikel und ein Aufsatz von Wolf Murmelstein, des Sohnes von Benjamin Murmelstein. Bei allen Bemühungen um Aufklärung über den Holocaust kommen - verständlicherweise - die Rolle der Judenräte und des jüdischen Widerstandes zu kurz. Schließlich geht es dabei nicht um deutsche Schuld. - Judenräte wie Widerstandskämpfer haben völlig gegensätzliche Antworten auf die unlösbare Frage gefunden, wie man der Ausrottungsmaschinerie des deutschen NS-Regimes begegnen soll.
Man mag über Kohls Wort von der "Gnade der späten Geburt" sagen, was man will: Man kann nur dankbar sein, wenn einem eine solche Frage nicht gestellt wird.

04 November 2013

Jodi Picoult: Schuldig

Wenn man abends zwei Stunden behagliches Lesevergnügen zu einem Gläschen Rotwein haben will, ist das Buch Jodi Picoult: Schuldig (The Tenth Circle, 2006nicht das Richtige.
Aber wenn man mal einen Pageturner braucht, damit man sieht, mein Alltagsärger ist doch relativ harmlos, dann hat es Sinn, nach diesem Buch zu greifen. 
Es geht u.a. um die fließende Grenze zwischen einverständlichem Sex und Vergewaltigung, um "kleine Lügen" zum Schutz der Privatsphäre und um Sprachlosigkeit innerhalb der Familie und darum, dass das Bedürfnis nach Liebe wie auch das Bedürfnis, eine Person zu schützen, in extreme Schwierigkeiten bringen kann. 
Jodi Picoult versteht ihr Handwerk: Die Heldin Trixie heißt Beatrice nach der Geliebten Dantes, denn ihre Mutter Laura ist erfolgreiche Universitätsprofessorin. Ihr Vater Daniel ist nicht nur unter Eskimos aufgewachsen und von ihrem Geisterglauben infiziert, sondern auch ein genialer Comiczeichner, der es versteht, über ein Schnellporträt Lauras ein Rendezvous mit dieser spröden Intellektuellen zu arrangieren. Und so wie Laura Schriftzeichen in ihrem Porträt entdeckt, können wir in den  - in den Text eingestreuten - Comiczeichnungen einen Text herausfinden. Die Auflösung lässt sich auf www.jodipicoult.com finden.

Keine hohe Literatur, doch der Text stößt durchaus Gedanken an. Und wenn man aus seiner Welt wieder auftaucht, hat man vielleicht sogar eine Katharsis erlebt.

Interview mit Jodi Picoult über The Tenth Circle
"The more I learned, the more I realized that the epic poem and the comic book genre have a lot more in common than you’d think, since they both view a man’s life as the struggle between good and evil; they both address the vast gap between whom we pretend we are and whom we truly are."

Ist "Jeff, der Schwarze" ein angemessener Titel für Theodore Dreisers Erzählung?

Im Original heißt Dreisers Erzählung über den Lynchmord an einem Schwarzen "Nigger Jeff", in der Übersetzung von Marianne Schön, Copyright 1950, "Neger Jeff". Was ist für unsere Zeit der korrekte Titel, die korrekte Übersetzung?
Dreiser beschrieb im Januar 1894 den Fall von Lynchjustiz an John Buckner. Ein oder zwei Jahre später schrieb er die (fiktionale) Erzählung "A Victim of Justice" ("Ein Opfer der Justiz"). Die veröffentlichte er nicht. 1899 schrieb er die Kurzgeschichte "Nigger Jeff", die 1901 veröffentlicht wurde. !918 schrieb er diese Geschichte um. Der Titel blieb "Nigger Jeff".
Darf man, sollte man den Titel heute anders ins Deutsche übersetzen als mit "Neger Jeff"?