26 Juni 2020

Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen VIII

Wir finden den Baron Manfred fern von seinem stillen, grünen Revier wieder, aus dem ihn eine Familienangelegenheit von besonderer Dringlichkeit verlockt hatte. [...]
Es war ein schöner Sommerabend, als er zwischen Wiesen und nickenden Kornfeldern den bezeichneten Bergen zuritt. Ein Gewitter war über das Gebirge fortgezogen, und blitzende Tropfen hingen noch in Zweigen und Gras, aus dem ein erquickender Wohlgeruch emporstieg. Ein Holzhauer hatte ihm den Pfad nach der Einsiedelei gewiesen, die Gegend wurde immer höher, kühler und stiller, nur die Abendglocken schallten noch durch das feierliche Rauschen des Waldes aus den Tälern herauf. [...]
Durch solche Betrachtungen war er nach und nach ganz in Eifer geraten und nahm sich eben ernstlich vor, den Einsiedler durch vernünftige Überredung womöglich der Welt wieder zuzuwenden, als sein Pferd sich plötzlich scheute und heftig zur Seite sprang. Denn eine wundersame Gestalt war auf einmal zwischen den Bäumen hervorgetreten, unter denen nun auch die in den Fels gehauene, von wilden Weinranken kühl verhangene Einsiedelei nebst einem sorgfältig umzäunten Gärtchen sich zeigte. Der Eremit trug einen breiträndigen Pilgerhut, ein ungeheurer, alter Schlafpelz, der ihm überall zu weit war, rauschte im Grase hinter ihm her, während er aus einer langen Pfeife Tabak rauchte. Manfred traute seinen Augen nicht. »Wie!« rief er, »Herr Dryander – Sie also sind der Vitalis!?« – »Vitalis? Warum denn nicht?«erwiderte Dryander gelassen, »aber bleiben Sie mir mit dem dummen, wilden Pferde ein wenig vom Leibe.«
[...] Hier zog und qualmte der Zelot so heftig aus seiner Tabakspfeife, die ihm über dem Reden ausgehen wollte, daß Manfred mitten in seinem Ärger in ein lautes Gelächter ausbrach. Das steckte Dryandern an, er stimmt unaufhaltsam mit ein. Beide aber wandten sich erschrocken, als plötzlich hinter ihnen das herzhafte Lachen noch eines Dritten dareinschallte.
Ein großer, starkknochiger Mann mit gebräuntem Gesicht und wild herabhängendem Haar, eine grobe Kutte mit einem Strick um den Leib gebunden, trat aus dem Gebüsch hervor und konnte sich, noch immer lachend, gar nicht satt sehen an dem abenteuerlichen Aufzuge des Dichters. Es ergab sich nun, daß der Neuangekommene der eigentliche Besitzer der Klause sei und daß Dryander erst vor wenigen Stunden, auf seiner Fußreise vom Gewitter überrascht und ganz durchnäßt, sich hierher geflüchtet und, während der Eremit in den Wald nach Holz gegangen, es sich in dessen trockenem Pelze bequem gemacht hatte.
[...] Dryander, den der viele Kohl im Garten ärgerte, nannte ihn einen Canonicus in herbis und sprach wütend das tollste Küchenlatein, der Einsiedler antwortete ebenso und schien erst recht vergnügt in dieser barbarischen Sprachverwirrung. Dazwischen rauchte er, heftig dampfend, stinkenden Tabak aus einer kurzen ungarischen Pfeife, im Wein aber tat er wenig Bescheid, er mache ihn, sagte er, aufgeblasen und zänkisch. Er erzählte ihnen, daß er Frater Sammler in dem Kloster oben gewesen, nach dessen Aufhebung aber sich hier angesiedelt habe [...]
Manfred betrachtete, nicht ohne tiefe Wehmut, den fidelen Einsiedler, den das Leben mit allen seinen Stößen nicht hatte unterkriegen können und der nun die Frömmigkeit frisch weg wie ein löbliches Handwerk trieb. – »Es ist ganz unmöglich«, rief er endlich nach einigem Nachsinnen aus, »auch Sie sind nicht der Vitalis!«
»Oho!« erwiderte der Waldbruder, »ich und Herr Vitalis! wo denkt Ihr hin, nicht seine Schuhriemen aufzulösen, bin ich würdig und ich tät's ihm gern heut und allezeit, wenn er es litte! Nein, nein, der wohnt dort im ehemaligen Konvente.« – »Als Nachteule«, sagte Dryander, »um die Mäuse wegzuschnappen, die nach deinen Speckschwarten gehen.« – »Still«, fiel ihm der Einsiedler mit überfliegender Röte schnell ins Wort, »schnattert nicht so ungewaschen ins Zeug hinein, wenn Ihr nichts von der Geistlichkeit versteht. ›Contenti estote‹, sagte einmal ein Kapuziner in einer Komödie, die ich noch als Soldat gesehen habe, das heißt: begnügt euch mit eurem Kommißbrote, wenn ihr das Himmelsmanna nicht vertragen könnt!« – »Na, seid nur nicht gleich so grob«, lachte Dryander, den der Vorwurf heimlich wurmte.
»Abgemacht!« rief der gutmütige Klausner. »Aber vom Herrn Vitalis muß ich euch noch erzählen.« – [...] Ich tret' heraus, da steht ein schöner, wilder Jägersmann dicht vor mir. »Laudetur Jesus Christus«, sage ich. Er aber, ohne Amen zu sagen: »Was machst du da?« – »Wie Ihr seht, Herr, ich bin ein Einsiedler und bete, wenn die andern schlafen.« – »Und schläfst, wenn die andern beten, das ist alles eins!« – »Gewiß, so lösen wir einander ab auf der himmlischen Schildwacht.« – Der Jäger darauf stöbert mir in der Hütte herum, sieht mein Moosbett, das Kreuz, den Totenkopf. »Vollständige Dekoration«, sagt er, »bist du so faul, daß dich der Kahlkopf da mit seinen gefletschten Zähnen erst jeden Abend ins Gewissen beißen muß, um zu beten?« – »Herr«, erwidere ich, »Ihr werdet mir nichts weismachen, ich bin Soldat und Mönch in dem Kloster da droben gewesen und weiß wohl, daß es leichter ist, eine Festung als das Himmelreich zu erobern. Nun möcht' ich doch den Prahlhans sehen, der eine Festung ohne Bajonett, Leiter und Handwerkszeug nehmen wollte! Und Ihr wollt den Himmel, der höher liegt, stürmen, nackt und erbärmlich, wie Ihr seid, ohne Wehr und Rüstung und tägliche Übung in den Waffen? Ich sage Euch: Demut ist der Anfang und Ende, hochmütiger Mensch!« – Der Fremde sah mich groß an mit funkelnden Augen, dann stützte er auf dem Tische den Kopf in die Hand, ich meint', er betrachtete den Totenkopf, der vor ihm lag, aber er mochte wohl andere Gedanken haben. Sitz du, solange du willst, dachte ich, ich fürcht' dich nicht, ich trau' dir nicht. Damit streckt' ich mich auf meine Streu und behielt ihn in den Augen, bis sie mir am Ende zufielen.
Als ich aufwachte, waren meine Augen noch immer auf den Tisch gerichtet, aber der Jäger saß nicht mehr auf demselbigen Punkt. Als ich aber vor die Klause trat, sah ich ihn in der Morgendämmerung schon von dem alten Kloster herabkommen. Es war ein prächtiger Morgen, die Hähne krähten unten in den Dörfern, hin und her klang schon eine Morgenglocke durch die stille Luft. Auch der Fremde, nachdem er mich freundlich gegrüßt hatte, blieb stehen und sah lange ins Tal hinaus. »Sieh«, sagte er, »das ist ein Friede Gottes überall, als zögen die Engelscharen singend über die Erde! die armen Menschenkinder! Sie hören's nur wie im Traum. Müde da unten, verirrt in der Fremde und Nacht, wie sie weinend rufen und des Vaters Haus suchen, und wo ein Licht schimmert, klopfen sie furchtsam an die Tür, und es wird ihnen aufgetan, aber sie sollen den Fremden dienen um das tägliche Brot; darüber werden sie groß und alt und kennen die Heimat und den Vater nicht mehr. O wer ihnen allen den Frieden bringen könnte! Aber wer das ehrlich will, muß erst Frieden stiften in sich selbst, und wenn er darüber zusammenbräche, was tut's! – Sieh, Gesell, und das ist geistliches Recht und Tagewerk.«
Ich alter Kerl stand ganz verblüfft vor ihm, denn ich verstand schon gleich damals so viel davon, daß ich bisher eigentlich noch gar nichts verstanden hatte von meinem Metier. Vor meiner eigenen Tür wollt' ich kehren und die ewige Seligkeit für mich allein zusammenknicken, wie ein filziger Schuft, als wär's dem lieben Gott um mich allein zu tun in der Welt. – Und seht, von der Stund' ab blieb der Jäger hier auf den Bergen und wohnte im Kloster droben und machte sich gemein mit mir, wie ein getreuer Kamerad, und ist doch ein grundgelehrter Herr. »Denn du gefällst mir«, sagte er, »du machst keine Flausen mit deiner Frömmigkeit.«[...]"
(Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen 3. Buch 21. Kapitel)

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