05 Juni 2020

Else Frobenius: Mit uns zieht die neue Zeit. Eine Geschichte der deutschen Jugendbewegung

Wieder hineingeschaut in Else Frobenius [Wikipedia]: Mit uns zieht die neue Zeit. Eine Geschichte der deutschen Jugendbewegung, Berlin 1927)
Gleich bleibt das Befremden über die Sprache verbunden mit dem Gefühl, dass sie wichtig ist, den Geist der Zeit wahrzunehmen.
Bemerkenswert das Gefühl, dass die Bewegung weitgehend die gesamte Jugend erfasst habe, dass eine Macht entstanden sei und dass sie auf eine Revolution hindränge.
Wichtig ist die Betonung des Gedankens, dass die Jugend sich selbst erziehen solle und dass zwischen den Knaben (Mitglieder, Scholaren) und den Jugendlichen (Bachanten - Jugendführer) als getrennten "Altersklassen (Leo Frobenius) unterschieden werden solle.

Zitate:
An die Spitze des "Ausschusses für Schülerfahrten" tritt als Vorsitzender der Schriftsteller Wolfgang Kirchbach  [...] Er will 'eine Organisation schaffen, in der die Korporationen der jungen Leute, der Führer oder Bachanten und der Knaben zwei ganz selbstständige Gruppen bilden. In erster Linie soll durch Selbständigkeit eine Selbsterziehung und Selbstzucht unter der Jugend herbeigeführt werden ...' " (S. 25)
"Der Wandervogel erhebt sich. Ein kleiner Kreis romantischer Knaben hat ihn flügge gemacht. Man sieht in ihm eine harmlose Vereinigung für Schülerwandern. Niemand weiß, dass sein Schrei ein Vorbote nahenden Wetters ist, und dass der Sturm ihn einst tragen wird. Niemand weiß, dass ihm einst Scharen von Zugvögeln folgen werden, die ihren Flug hoch zum Firmament erheben. Und dass diese Jugendgründung Teil einer Bewegung ist, die noch wie ein Funke Im Verborgenen glimmt, aber bald als gewaltiges Feuermeer auflodern und Staat und Volk Aufruhr bringen wird." (S. 29)

Mädchenwandern
Auf der Altwandervogel-Hauptversammlung in Berlin stellt 1907 die Ortsgruppe Jena den Antrag, den 'Begriff der Jugend auch auf das weibliche Geschlecht auszudehnen' (immerhin ein Fortschritt gegen die Theologen des 18. Jahrhunderts, die darüber stritten, ob die Frauenzimmer auch Menschen wären!) 'und das Mädchenwandern in den Wandervogel aufzunehmen. In der ausführlichen Begründung ist von der Notwendigkeit der sogenannten Koedukation und vom Mädchenwandern insbesondere die Rede. [...]

Der Antrag wird mit allen gegen die Jenaer Stimmen abgelehnt. Seine Gegner bilden zwei Gruppen. Die einen stehen auf dem Standpunkt: 'Wat de Bur nicht kennt, dat freet he nich.'   'Mädchenwandern' ist für sie ein revolutionärer Begriff, den sie gewohnheitsmäßig ablehnen. Die Minderheit ist nicht überzeugt von dem gleichen Wert und der gleichen Art der Geschlechter innerhalb des Wandervogels,/ fürchtet eine ungesunde Entstellung des Wandervogelstils, der in allererster Linie Selbsthilfe der Jungen ist und wendet sich gegen die Gefahr der Verweichlichung, Zerfahrenheit und Blasiertheit, die beim Zusammenwandern entstehen könnte.
Oft ist es reines, ehrliches Knabenempfinden, das sich gegen die Mädchen sträubt, wenn es zum Beispiel heißt:
'Eine der größten Schwierigkeiten auf diesem Weg weiterzukommen, ist das Wandern mit Mädchen geworden. Gerade im Zusammensein mit ihnen ist es schwer, sich selbst treu zu bleiben, ehrlich der zu sein, der man ist. Man erliegt dann so leicht dem Wunsch, zu imponieren, mehr zu scheinen. Man redet nicht frei von der Leber herunter, sondern immer so, dass es so aussehen soll, als ob man weiß Gott was für ein Kerl sei. Wer es einmal erlebt hat auf mehrtägiger Fahrt oder am Abend nach einem ermüden den Klotzmarsch, auf einer Nachtfahrt, wie man ganz anders aus sich heraus geht, wie man sich selbst entdeckt und auch die heimlichen Gedanken dem Freund anvertraut, der erkennt mit Bedauern, Scham, wie er doch meist Theater spielt Mädchen gegenüber. Und das sind nicht die Schlechtesten, sondern die, die ernstlich suchen und streben. Solange wir diese innere Selbstständigkeit nicht errungen haben, sollten wir unter uns bleiben. [...]' " (S.67/68)

"Die Führung des D.B. [Deutscher Bund] geht jedoch an Heidelberg über, und Hans Breuer wird Bundesleiter. [...] Breuer macht für den inneren Ausbau Vorschläge, die schon die ganze Entwicklungslinie des Mädchenwanderns bis heute vorzeichnen:/
'Verzicht auf große Distanzmärsche dagegen starke Bevorzugung der Landheime; die für Mädchen recht schwierige Frage des abendlichen Quartiermachens fällt dadurch auch fort. [...] Im Gegensatz zu den Buben, wo es auf Tatkraft, Willens- und Charakterbildung ankommt, wird man den Aufenthalt in freier Natur mehr der Vertiefung des Gemüts- und Gefühlslebens weihen ... Die seichte Gleichmacherei, welche das Mädchenwandern mit Gewalt in einen Bubenschema hineinpressen will, soll keine Heimat bei uns finden ... " (S. 69/70)

"Die freie deutsche Jugend gibt den Idealen, die im Wandervogel noch nicht zu bewussten Zielsetzungen geworden sind, gedankliche Form und gestaltet sie zum gemeinsamen Bekenntnis der Jugendbewegung." (S. 99)
Um die Jahrhundertwende entstehen in allen Kulturländern Jugendverbände. Der Grund mag ein doppelter sein. Die zunehmende Sonderung der Klassen, die eine Arbeiterbewegung, eine Frauenbewegung und Berufsbewegungen zeitigt, muss folgerichtig auch zu einer Jugendbewegung führen.
Andererseits liegt in der allgemeinen Mechanisierung des Lebens eine Vermännlichung, eine Intellektualisierung des Seins, bei der die Jugend zu kurz kommt. So ist es erklärlich, dass ihr Eigenleben in eigenen Verbänden gepflegt werden soll. Auch die Erwachsenen erkennen das an." (S. 100)

Frobenius verweist auf die Entstehung sozialistischer und sozialdemokratische Jugendgruppen in einer ganzen Reihe von europäischen Staaten. (S.101)
[dazu vgl. Geschichte der International Union of Socialist Youth]



Alles Grundsätzliche und weiterführende Links finden sich in dem ersten Artikel von 2007. Sieh auch: Bündische Jugend und Wolf Meyen, Wandervogel und "Die Akten ..."

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