03 Juni 2020

Christian Bommarius: 1949. Das lange deutsche Jahr

Christian Bommarius: 1949. Das lange deutsche Jahr, 2018

Unmittelbare Folgen der Währungsreform im Juni 1948.

August 1948
"Die extremen Preissteigerungen nach der Währungsreform führen [...] zu teilweise gewalttätigen Protesten. Am 2. August stürmen aufgebrachte Hausfrauen in München die Verkaufsstände auf dem Viktualienmarkt. [...] in einigen Städten - zum Beispiel in Lübeck - werden lokale Käuferstreiks organisiert." (S.38)

Januar 1949
Elisabeth Selberts Antrag zur Gleichberechtigung von Mann und Frau im Parlamentarischen Rat. Sie hat "die Frauen  zum Einsatz in eigener Sache aufgerufen, und überall hatte sie mit ihrem Appell Erfolg [...] 40 000 Metallarbeiterinnen aus der britischen Zone und 90 000 Frauen des Gewerkschaftbunds Württemberg-Baden [...] Die wichtigsten Unterstützerinnen hat Selbert in ihre unmittelbaren Umgebung mobilisiert - die Ehefrauen der Bonner Abgeordneten." (S.113)

"Der liberale Abgeordnete Thomas Dehler hatte Selbert an die absehbaren Konsequenzen ihres Antrags erinnert: "Dann ist das Bürgerliche Gesetzbuch verfassungswidrig." Nichts anderes wünscht Elisabeth Selbert. Am 18. Januar nimmt der Hauptausschuss Selberts Antrag ohne Gegenstimmen an: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt." (S.114)
"Nicht zuletzt Selbers Erfolg wird Jahre lang dafür sorgen, dass regelmäßig neue Auflagen des Palandt mit überarbeiteter Kommentierung erscheinen. Denn es tritt ein, was Thomas Dehler befürchtet und Elisabeth Selbert verlangt hat: Das Grundrecht der Gleichberechtigung macht große Teile des bürgerlichen Rechts verfassungswidrig." (S.114)

Der Treibstoffverbrauch der Deutschen ist entschieden zu hoch. Ab Januar gilt die Kraftfahrzeug-Benutzungsverordnung, die Fahrten mit Kraftfahrzeugen zu Ausflugs-, Erholungs- und Vergnügungsfahrten verbietet. Das betrifft mehr Motorrad- als PKW- Fahrer – von diesen sind nicht einmal 500.000 unterwegs, von jenen fast 1 Million und das Verbot trifft vor allem Männer. [...] Die missbräuchliche Verwendung von Kraftfahrzeugen wird künftig mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren und mit Geldstrafen bis zu 100.000 DM bedroht. Als Missbrauch gelten Besuchsfahrten aller Art, aber auch Fahrten an Sonn- und Feiertagen. (S. 114/115)

Heinrich Hartmann: "Ab 1946 verhinderte dann insbesondere der Landesdirektor für Justiz, Erziehung und Kunst des Landes Südwürttemberg-Hohenzollern, der SPD-Politiker Carlo Schmid, eine Verhaftung Hartmanns. Schmid widersetzte sich damit den Entnazifizierungsbestimmungen und setzte gegenüber Henri Humblot, einem Mitglied der französischen Militärregierung von Württemberg-Hohenzollern, durch, Hartmanns Rolle im NS-System nicht publik zu machen und „äußerste Geheimhaltung“ zu wahren.

Ab 1946 versuchte Hartmann die Idee eines „Arbeitsdiensts“ für die Jugend neu anzugehen. Um, so Hartmann wörtlich, „dem schrecklichen Verwahrlosungsprozess vieler Jugendlicher“ entgegenzuwirken, „müssen wir uns jetzt … für die Jugend auf der Landstraße … einsetzen“. Hartmann sprach ab April 1946 mehrere hundert ehemalige HJ-Führer an, um diese für eine solche Organisation zu gewinnen, und sammelte diese im „Schwalldorfer Kreis“. Die französischen Behörden verhafteten am 8. April 1948 einige Mitglieder der Gruppe. Wie seinerzeit für Hartmann setzte sich Carlo Schmid nun für deren Freilassung ein, die er nach einigen Monaten bei der französischen Militärregierung auch erwirken konnte. Diese Freilassung nahm Hartmann dann gegenüber den Alliierten zum Anlass, die Entlassung aller inhaftierten HJ-Führer zu fordern. [...]

Am 11. Januar 1949 gründete Hartmann zusammen mit Carlo Schmid und Henri Humblot in den Räumen der Eberhard-Karls-Universität Tübingen den „Internationalen Bund für Kultur- und Sozialarbeit e.V.“, den Vorläufer des heutigen Internationalen Bundes (IB). Erklärtes Ziel war es (wie schon bei den früheren Bestrebungen Hartmanns), einen „Arbeitsdienst“ zu gründen und entwurzelten Jugendlichen eine neue Aufgabe zu geben. Hartmann sammelte ehemalige Nationalsozialisten um sich. So waren 1957 von 340 Mitarbeitern des IB 75 ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter von NS-Organisationen. 1957 ermittelte auf Grund dessen der Bundesamt für Verfassungsschutz gegen den Verein, stellte die Untersuchungen jedoch bald wieder ein." (Wikipedia)

Marion Reinhardt, die die Geschichte des Internationalen Bundes (IB) untersucht hat, "kommt zu dem Schluss, dass seitens Schmid und Humblot die Gründung des Internationalen Bunds auch ein Versuch war, ehemalige Funktionäre der Hitlerjugend in den neuen deutschen Staat zu integrieren. Während Heinrich Hartmann gezielt ehemalige HJ-Führer für die Mitarbeit im IB interessierte, sollte das ehrenamtliche Präsidium, das aus unbelasteten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens bestand, die Aufsicht haben. Reinhardt führt aus, dass damit auch die Entstehung von Untergrundbewegungen ehemaliger HJ-Funktionäre unterbunden werden sollte. Insofern sei die Gründung des IB eine Erfolgsgeschichte." (Wikipedia)


Fritz Bauer: "Einer seiner ersten Fälle als Generalstaatsanwalt in Braunschweig machte ihn auch außerhalb Deutschlands bekannt: 1952 war er der Ankläger im sogenannten Remer-Prozess. Bauer prägte dabei den Satz: „Ein Unrechtsstaat, der täglich Zehntausende Morde begeht, berechtigt jedermann zur Notwehr.“[10] Infolge dieses Prozesses wurden die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 rehabilitiert und ihr Versuch, Hitler zu töten, legitimiert. Das Gericht schloss sich Bauers Auffassung in seinem Plädoyer an, der NS-Staat sei „kein Rechtsstaat, sondern ein Unrechtsstaat“ gewesen.[11]

Im Jahr 1957 informierte Fritz Bauer den Leiter der Israel-Mission in Köln, und damit den israelischen Geheimdienst Mossad, über den Wohnort Adolf Eichmanns in Argentinien, nachdem er diesen von dem in Argentinien lebenden ehemaligen KZ-Häftling Lothar Hermann erfahren hatte.[12][13] Bauer misstraute der deutschen Justiz und Polizei – er befürchtete, man werde Eichmann von dort aus warnen – und wandte sich früh direkt an Israel. Der israelische Fotograf und Mossadagent Michael Maor fotografierte 1960 heimlich die Unterlagen von Bauer. Diese Mitteilung war ein wichtiger erster Anstoß für Eichmanns Ergreifung 1960.[14] Zum Hintergrund dieses Vorgangs gehört, dass Bauers Antrag, die deutsche Bundesregierung möge sich um die Auslieferung Eichmanns in die Bundesrepublik bemühen, von der Regierung sofort abgelehnt worden war.[15]" (Wikipedia)

Vgl. Bommarius, S.178:

April 1949

"Der Beitrag Fritz Bauers zur strafrechtlichen Aufarbeitung des NS-Unrechts als Generalstaatsanwalt in Braunschweig und in Frankfurt am Main ist kaum zu ermessen. Er liefert den entscheidenden Hinweis für die Ergreifung Adolf Eichmanns, als Chef der zentralen Leitstelle zur Organisierung der "Endlösung" einer der Hauptverantwortlichen des Holocaust, er setzt den ersten Ausschwitz-Prozess gegen 22 Angeklagte vor dem Landgericht Frankfurt am Main im Dezember 1963 durch, er thematisiert die Verbrechen der Wehrmacht und die Beteiligung des Auswärtigen Amtes an der Ermordung von sechs Millionen Juden. Heftiger als die 68er und Jahre vor ihnen bringt Fritz Bauer die Verhältnisse zum Tanzen, in der Justiz, aber auch und vor allem in der Gesellschaft. Er wird der bedeutendste Generalstaatsanwalt in der Geschichte der Bundesrepublik." (1949. Das lange deutsche Jahr, S.178)

Mai 1949:

"[...] Die erzreaktionären Professoren beherrschen die Verhältnisse. Man habe sie, ihrer 'alldeutschen und prohitlerschen' Gesinnung sicher, nicht gezwungen, in die Partei einzutreten oder zumindest ihnen das Hervortreten erspart. Der junge, liberale und anständige Privatdozent hingegen habe vor der Wahl gestanden, entweder jeder Schikane sich auszusetzen oder wenigstens pro forma in irgendeinen NS-Verein einzutreten. Da nun ein solcher Mann nach seiner so genannten Entnazifizierung, um wieder lesen zu dürfen, erst von der Universität erneut angefordert werden müsse, lehnten ihn dann die reaktionären Herren als Rache gegen seine anständige Gesinnung mit der Begründung ab, er sei Parteigenosse gewesen. Unter dem Titel Nazi würden also auf den Universitäten vornehmlich deren Gegner verfolgt:'Das ist so verrückt, dass man eine ganze Zeit braucht, um sich hinein zu finden.' " (S.182 - Bommarius referiert hier Max Horkheimer)

Dezember 1949

Wolfgang Hedler (S.290/91)

"Bekanntheit erlangte Hedler durch einen Vortrag in der Gaststätte „Deutsches Haus“ in Einfeld (heute zu Neumünster) am 26. November 1949, in dem er die Mitglieder des deutschen Widerstands als „Vaterlandsverräter“ beschimpfte und die deutsche Kriegsschuld bestritt. Dabei sagte er: „Ob das Mittel, die Juden zu vergasen, das gegebene gewesen ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Vielleicht hätte es andere Wege gegeben, sich ihrer zu entledigen.“ Daraufhin wurde ein Strafverfahren gegen Hedler angestrengt; am 31. Januar 1950 begann am Landgericht Kiel der Prozess gegen ihn wegen Verleumdung und Verunglimpfung. Die Richter, selbst ehemalige NSDAP-Mitglieder, sprachen Hedler am 15. Februar 1950 frei, was zu einer Welle der Empörung führte.[2] Im Berufungsverfahren wurde Hedler am 20. Juli 1951 wegen „öffentlicher Beleidigung in Tateinheit mit öffentlicher Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener und mit öffentlicher übler Nachrede“ zu neun Monaten Haft verurteilt. Er legte zwar Revision beim Bundesgerichtshof ein, scheiterte damit jedoch im Mai 1952. Hedler musste sechs Monate seiner Strafe absitzen.[3]" (Wikipedia)

Zölibatsklausel (S.292/93)

"Ein verheirateter Beamter hat einen Beruf, eine verheiratete Beamtin hat zwei Berufe und kann deshalb entlassen werden." (S.292) 

Mit der Heirat muss sie aus dem Dienst scheiden und verliert auch ihre Ruhegehaltsansprüche [weil der Staat ja nur ihre Versorgung/Alimentierung sicherstellen müsse, was ja durch den Ehemann geschehe]. Und das obwohl "der Parlamentarische Rat erst vor wenigen Monaten beschlossen hat: 'Männer und Frauen sind gleichberechtigt.' "(S.292)

Lüth-Urteil S.295-97

Hans Ernst Schneider S.297-99 als Schneider  SS-Hauptsturmführer  als Hans Schwerte 

Literaturwissenschaftler, Professor und Rektor der RWTH Aachen.

"1951 lädt der Gesetzgeber 160 000 Beamte zur Rückkehr ein, die die Alliierten rausgeworfen hatten. Art. 131 Grundgesetz garantiert die Wiedereinstellung jener Beamter" (S.302), "die am 8. Mai 1945 versorgungsberechtigt waren und aus anderen als beamten- oder tarifrechtlichen Gründen keine oder keine entsprechende Versorgung mehr erhalten." (Wikipedia)


Nachwort:

Für mich völlig befremdlich ist, dass Bommarius in seinem Nachwort offenbar in Polemik gegen Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab"  (2010) eine Unterscheidung zwischen Bundesbürgern und Deutschen einführt, wobei überzeugte Demokraten Bundesbürger und die anderen alle nationalistische Deutsche seien.  

Da spricht mir die Definition eines Deutschen weit mehr an, die Herfried Münkler an fünf Identitätsmarker knüpft. Auch er führt diese Marker in polemischer Absicht gegen "Biodeutsche" ein, um deutlich zu machen, dass mancher Eingewanderte besser in die Bundesrepublik Deutschland passe als viele nationalistische Deutsche. Das geht aus folgendem Absatz hervor:

"Eine solche normative Identitätszuschreibung ändert nichts daran, dass diejenigen, die qua Geburt Deutsche sind, dies auch bleiben, wenn sie den Vorgaben dieser Zuschreibung nicht genügen. Aber sie haben dann keine Möglichkeiten mehr, diejenigen, die dieser Zuschreibung genügen und Deutsche werden wollen beziehungsweise es geworden sind, von der Zugehörigkeit auszuschließen." (Münkler: Die neuen Deutschen, 2016)

Dagegen formuliert Bommarius, um Ähnliches auszudrücken: "Ein Flüchtling, der in seiner Heimat für die Menschenrechte kämpfte und - um sein Leben zu retten - fliehen musste, ist uns, woher er auch kommt, vermutlich näher als die Großeltern, die an Schweine und Käfer dachten, wenn sie von deutschen Flüchtlingen sprachen - auch wenn der Flüchtling der Gegenwart, wie man so sagt, der deutschen Sprache nicht mächtig ist." (S.305)

Solche Art von polemischer Formulierung gegen frühere Generationen erscheint mir im Jahr 2018 völlig unangemessen.

Und ich lehne es ab, als Bundesbürger klassifiziert zu werden und somit von meinen Verwandten aus der DDR und mir nahestehenden Personen wie Thomas und Heinrich Mann, wie Fontane und Goethe geschieden zu werden. - Zugegebenermaßen wähle ich  damit ähnlich polemische Formulierungen wie Bommarius. Ich werde sie bei nächster Gelegenheit abschwächen. Aber für mein Befremden über Bommarius' Nachwort scheinen sie mir im Augenblick der richtige Ausdruck.



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