31 August 2007

Vogel Chol

Als Eva im Paradies von der verbotenen Frucht gegessen hatte, gab sie auch allen Tieren etwas davon zu essen.
Nur der Vogel Chol weigerte sich. So blieb er unsterblich.
Er lebt 1000 Jahre. Dann kommt ein Feuer, das ihn und sein Nest verbrennt. Doch aus der Asche lebt er wieder auf.

König David

König David gönnte sich kaum Schlaf.
Über seinem Bett hing eine Harfe, die jede Nacht um Mitternacht von selbst zu spielen anfing.
Dann stand David auf, widmete sich der Gotteslehre und schrieb seine Psalmen.

30 August 2007

Wie die 10 Gebote zu den Juden kamen

Als die 10 Gebote fertig waren, kamen die Engel auf die Erde, um sie den Menschen anzubieten.
Zuerst kamen sie zu den deutschen Rittern und Edelfrauen.
Hier haben wir die 10 Gebote, eine gute Lebenslehre.
Lasst hören!
Das erste Gebot: Du sollst nicht töten!
Was, wir sollen absagen edlem Kampf und Streit, nimmermehr!

Dann kamen sie zu den Russen.
Hier haben wir die 10 Gebote, eine gute Lebenslehre.
Lasst hören!
Das erste Gebot: Du sollst dich nicht betrinken!
Was, wir sollen vom Wodka lassen, der unserem Leben Lust und Freude schenkt, nimmermehr!

Dann kamen sie zu den Juden.
Hier haben wir die 10 Gebote, eine gute Lebenslehre.
Lasst hören!
Das erste Gebot: ...
Halt! Bevor ihr weiterredet, sagt erst, ob es etwas kostet!
Etwas kosten, nein, wieso auch? Sie sind ein Geschenk von Gott.
Dann ist alles klar. Gebt her!

So kamen die Juden zu den 10 Geboten.


Mein Bruder schuldet ihnen seit drei Jahren Geld für einen Anzug.
Ah, endlich will er bezahlen!
Das weiß ich nicht. Ich wollte bloß fragen, ob Sie zu den gleichen Konditionen für mich arbeiten wollen.


Was hast du für einen schönen Anzug! Was hat er gekostet?
Was heißt "hat er gekostet"? Er kostet noch.


Lehrer: Wie vermehren sich die Linden?
Schüler: Das speziell weiß ich nicht.


Lehrer: Schaut, wie herrlich der liebe Gott den See hat zufrieren lassen!
Moritz: Kunststück! Im Winter.

29 August 2007

Jüdische Sagen 2

"Semael, der Engel, der Schlange Reiter, ging zu Eva ein, und sie ward schwanger und gebar den Kain. Sie blickte in sein Angesicht, und siehe, er glich nicht den Irdischen, sondern den Himmlischen; ..."

"Als der Herr die Welt erschaffen hatte, war die Erde breit und eben. Aber da stand Kain auf und tötete seinen Bruder Abel; und Abels Blut gärte im Innern der Erde. Da verfluchte der Herr die Erde, und sie ward uneben, und Berge und Höhen traten aus ihr hervor."

"Da sprach Seth: Adam war mein Vater.
Wer aber war Adams Vater, fragte wiederum Enos.
Sprach Seth: Nicht hatte Adam einen Vater, noch hatte er eine Mutter, sondern Gott hat ihn aus dem Acker geknetet.
Da ging Enos fort und nahm einen Klumpen Erde und machte ein Bild daraus [...] da kam der Satan und schlüpfte in die Erdgestalt. Und Enos' Geschlecht folgte dem Satan, und des Herrn Name wurde entweiht."
(bin Gorion: Jüdische Sagen)

Haikus

Die Neujahrsgabe:
Vom Kind am Busen nichts als -
die beiden Händchen.
Issa

Zum Fest der Blumen
ging an der Mutter Hand
das blinde Kind.

Für alle Türen
Ist der Dreck der Holzschuhe
der Frühlingsanfang.
Issa

Beim Jahresabschied
verbarg das weiße Haar ich
vor meinen Eltern
Etsujin

28 August 2007

Jüdische Sagen 1

"Der Herr sprach zu der Schrift: Wir wollen einen Menschen machen, daß er unserem Bilde gleiche. Und die Schrift erwiderte dem Herrn: Herr der Welten! Dein ist das All, aber der Mensch, den du schaffen willst, seiner Tage werden nicht viele sein auf Erden, und voll Gram wird sein Herz sein, und gewisslich wird er der Sünde verfallen; so du nun nicht mit ihm Langmut übest, ist es wohl besser, er käme gar nicht auf die Welt. Da sprach der Herr: Heiße ich denn umsonst ein Gott, der Langmut übt und barmherzig ist?
Und Gott fing an, die Erde zu sammeln für Adams Leib an einem reinen Orte geschah dies, der Nabel der Welt war es; und er formete ihn und richtete ihn zu, aber es war noch kein Odem und keine Seele in dem Menschen. Was tat der Herr? Er blies ihm einen lebendigen Odem ein und gab ihm eine Seele [...]
Der Mensch stand da und war herrlich anzuschauen als ein Bild Gottes; da sahen ihn die Geschöpfe und fürchteten sich vor ihm, denn sie dachten, dies wäre ihr Schöpfer. Und sie kamen alle zu ihm und bückten sich vor ihm. Da sprach der Mensch zu ihnen: Ihr seid zu mir gekommen und wollet euch vor mir bücken, wohlauf, lasset uns zusammen gehen, mich und euch, wir wollen gehen und uns in Stolz und Stärke kleiden und über uns zum König machen, der uns alle schuf, gleich wie ein Volk sich einen zum König macht. Denn wahrlich immer ruft das Volk sich einen König aus, nicht aber ruft der König selbst sich zum König aus.
Und Adam schritt voran und rief zuerst den Herrn als König aus, und nach ihm kamen alle Geschöpfe und schrien: Der Herr ist König und herrlich geschmückt!"

"Adam, der erste Mensch war auch Gottes erste Schöpfung. Gott schuf die ganze Welt durch sein Wort, aber den Menschen machte er mit seinen eigenen Händen.
Am Anfang reichte Adam von der Erde bis zum Himmel. Als ihn aber die Heerscharen erblickten, erschauerten sie in Furcht [...]"
"Als der Herr an das Erschaffen der Welt ging, war sein erstes, daß er den Menschen machte, aber er formte zuerst nur seinen Leib. Schon war er dabei, ihm seinen Odem einzublasen, als er zu sich selber sprach: Wenn ich den Menschen jetzt lebendig vor mich hinstelle, so wird man ihn als Mitschöpfer der Welt ansehen. Ich will ihn noch als Erdklumpen daliegen lassen, bis ich alles erschaffen habe. [...]"
"Von den Menschen ist nur einer erschaffen worden. Warum denn nur einer? Auf daß die Gerechten nicht sagen sollten: Wir sind Kinder eines Gerechten; und auf dass die Gottlosen nicht sagen sollten: Wir sind Kinder eines Gottlosen, [...]"
"Der Herr offenbarte ihnen [den Heerscharen] nur, daß Gerechte von dem Menschen herkommen würden, er sagte ihnen aber nicht, daß auch Böse von ihm herkommen würden. Hätte er's ihnen verraten, so wäre vom Reich der Strenge die Erschaffung des Menschen nicht zugelassen worden."
"Der Herr verlieh Adam - so lesen wir - eine Übermacht, die ewig währen sollte, und wies ihm einen Raum zu, der inwendiger war denn der, darin die Engel saßen. Als aber Adam den Willen des Herrn brach und dem Willen der Schlange folgte, veränderte der Herr sein Antlitz und ließ ihn fahren. Wie er ihn jedoch von sich fortschickte, fing der Herr an zu klagen über ihn und sprach: War doch der Mensch wie unser eins, wie ein einziger in der Welt!"

"Es war Adams Leib aus Babylons Erde genommen, sein Kopf war aus der des Landes Israel, seine Glieder waren aus der Erde aller übrigen Länder gemacht.
Der Herr faßte Adam bei der Hand und führte ihn duch die Welt und sprach zu ihm: Schau, hie ist ein Acker zu bauen, hie ist ein Feld zu säen.
Jedes Land, so Adam darüber bestimmte, daß es besetzt werde, ward auch besetzt; jedes Land aber, das Adam nicht zum Wohlstand bestimmte, blieb unbewohnt.
Man sagt, die Palmenwälder Babylons seien die Urwälder aus der Zeit Adams her."

"Der Herr vertrieb Adam aus dem Garten Eden und lagerte davor die Cherubim mit dem bloßen hauenden Schwert, zu bewahren den Weg zum Baum des Lebens."
"Die Weisen Mazedoniens waren die ersten, welche die Heilkunst ausübten, [...] und als Asklepios, einer der Weisen Mazedoniens, aufstand, zog er im Lande umher und mit ihm vierzig Mann von den Schriftkennern, welche alle in den niedergeschriebenen Büchern Bescheide wußten; sie wanderten durch das Inderland nach dem Lande, das jenseits Eden gen Morgen lag, und dort eine Spur vom Baume des Lebens aufzufinden, wodurch ihr Ruhm größer würde, denn der aller Weisen im Lande.
Und es geschah, als sie an diesen Ort kamen, da fanden sie auch die heilbringenden Gewächse und auch den Baum des Lebens; wie sie aber die Hand ausstreckten, um davon zu nehmen, da zückte der Herr die Flamme des zweischneidigen Schwertes über sie, und sie loheten alle auf in den Funken des Blitzes, und keiner von ihnen entkam.
So ging die Heilkunst den Ärzten verloren, und es war ein Stillstand in der Heilkunde sechshundertdreißig Jahre lang, bis dann der König Arthasasta kam. In seinen Tagen war ein sehr weiser und verständiger Mann, der in den Büchern der Heilkunde sich auskannte [...] namens Hippokrates der Mazedonier; auch kamen dazu mal anderer Völker Weise wie Asaph der Judäer, Dioskorides der Baalathäer, Galenos, der Kaphtorite und noch viele andere Weise; die brachten die Heilkunst wieder zu Ehren, daß sie noch heutigen Tages besteht."
(bin Gorion: Die Sagen der Juden)

Jüdische Sagen berichten, dass Moses in Äthiopien (Kusch) gelebt, eine Kuschitin geheiratet, Krieg geführt und ein Zerwürfnis mit dem Pharao gehabt habe:
"Mose [...] trat die Herrschaft über das Volk der Mohren an. Siebenundzwanzig Jahre war er damals alt, und er regierte über das Land vierzig Jahre. Der Herr ließ ihn Gnade und Wohlgefallen finden in den Augen aller seiner Untertanen, und es herrschte eitel Güte zwischen Mose und Gott, zwischen Mose und seinem Volk." (bin Gorion: Die Sagen der Juden)
Der redende Fisch
Der Jude Simeon fing eines Tages einen großen fetten Fisch und freute sich schon auf das Mahl. Doch am Küchentisch hob der Fisch den Kopf und rief: "Schema Israel!", jene Worte also, die man im Sterbemoment sagen soll. Aber es war schon zu spät, der Kopf war bereits abgeschlagen und der Fisch starb. Der um Rat gefragte Rabbi meinte, es sei wohl ein "Dibbuk", eine wandelnde Seele und der Fisch gehöre daher beerdigt. Das tat Simeon und setzte ihm einen Grabstein in der oben angeführten Gestalt.

Bin Gorion hat seine Sagen weitgehend der lange Zeit rein mündlichen Überlieferung, der Aggada, und anderer rabbinischer Literatur entnommen.
In dem Kontext ist auch Ehrmanns Sagensammlung aus Talmud und Midrasch interessant.

22 August 2007

Harry Potter und Fantasy

Zweifellos kommt Harry Potter u.a. von der Fantasyliteratur her, und so werden Potterleser zum Teil vielleicht an Fantasyromane wie Herr der Ringe, Das Lied von Eis und Feuer und Das Spiel der Götter herangeführt, auch wenn Philip Roth sich wohl einige Jahre gedulden muss, bis aus einem primären Potterleser ein Leser anspruchsvoller Erwachsenenliteratur wird. (Roth hat sich – vielleicht nicht ganz ernsthaft – beklagt, die Harry-Potter-Begeisterung habe noch nicht dazu geführt, dass Literatur beliebter geworden sei.) Schließlich liest mancher auch Der menschliche Makel, ohne dadurch zu Potter zu finden.
Ich persönlich finde Preußlers Krabat zwar lesenswerter als alle Harry Potters zusammen, habe aber wieder mit Genuss den 7. Potterband gelesen, obwohl mir Human Stain (Makel) einen größeren Eindruck gemacht hat.

Inzwischen gibt es auf dem Bahnhof King's Cross auch das Gleis 9 3/4, freilich ist es hinter einer Mauer versteckt. Es kommt nur darauf an, mit dem nötigen Mut auf die Mauer zuzugehen und - natürlich - kein Muggel zu sein.

20 August 2007

Rummelplatz

Bräunig hat einen Roman über Bergarbeiter in der Wismut AG geschrieben, ohne die bewusste Verstrahlung der Bergarbeiter und diese als Voraussetzung für die rasche Entwicklung der sowjetischen Atombombe in den Mittelpunkt zu stellen. Dennoch fiel er in der politischen Kritik durch. Erst über 30 Jahre nach seinem Tod kam der Roman schließlich dieses Jahr heraus.

Leidige Freiheit

"Ich bitte bloß um die leidige Freiheit, bei Ihnen krank sein zu dürfen." Darum bittet Schiller vor seiner ersten Einladung bei Goethe. Es sollten trotz zunehmender Krankheit die fruchtbarsten Jahre seines Lebens folgen.
Dies, weil er den Mut gehabt hatte, auf Goethe zuzugehen. Auf Goethe, der später über die Zeit vor ihrer Begegnung sagen sollte: "die ungeheure Kluft zwischen unseren Denkweisen klaffte nur umso entschiedener". Schiller wagte es, in einem Brief (mit Goethes Worten:) "mit freundschaftlicher Hand die Summe meiner Existenz" zu ziehen. So erreicht er, dass Goethe innerhalb von drei Wochen sein Urteil völlig wandelt und - jedenfalls an Schiller - schreibt "daß uns nicht allein dieselben Gegenstände interessiren, sondern daß wir auch in der Art sie anzusehen meistens übereinkommen".
Ein bemerkenswertes Stück Einfühlung Schillers, die ihm dann drei Tage später die Einladung bringt, auf die er dann schon mit der Bitte um Gewährung der "leidigen Freiheit" reagieren kann.

Warlords

Karzai in Afghanistan, aber auch Pakistan in der Grenzregion nicht Herr im eigenen Lande. Paschtunenstämme haben die Grenzgebiete bis 20 m an die große Straße zum Khaiberpass in ihrer Hand.
Die Amerikaner arbeiten auf der Suche nach Osama bin Laden mit den Gegnern Karsais zusammen.

Zusatz:
Terrorbekämpfung (Mai 2011)

17 August 2007

Der Buchhändler von Kabul

Sehr überzeugend gestaltet Seierstad ihre Dokumentation einer Familie in Afghanistan. Der Buchhändler selbst wird als sehr aufgeschlossen und gastfreundlich, mutig und engagiert für die Bewahrung der Kultur in Afghanistan (und das Drucken von 113 Schulbüchern) dargestellt. Andererseits wird aber auch deutlich, was Männer- und Frauenrolle in Afghanistan unterscheidet. Statt einer Zweitehe kann sich der Mann, als seine Frau 50 geworden ist, eine 16jährige Zweitfrau leisten.
Die Mutter von 12 (oder 14 ?) Kindern ist bereit, einer kinderlosen Verwandten ein Kind abzutreten. Sie stillt es nur zwanzig Tage und gibt es dann her.
Die Tatsache, dass sie Wochen danach noch Milch hatte, aber kein Kind, traf sie aber so schwer, dass sie sich zum Ausgleich mit Essen zu befriedigen suchte.

15 August 2007

Franz und Dubslav - Freiheit und rote Strümpfe

So waren denn noch keine acht Tage um, als es für Dubslav feststand, daß Adelheid wieder fort müsse. Zugleich sann er nach, wie das wohl am besten zu machen sei. Das war aber keine ganz leichte Sache, da die »Kündigung« notwendig von ihr ausgehen mußte. So wenig er sich aus ihr machte, so war er doch zu sehr Mann der Form und einer feineren Gastlichkeit, als daß er's zuwege gebracht hätte, seinerseits auf Abreise zu dringen.
»Engelke«, sagte er, »du könntest in die Küche gehn und die Marie zur Buschen schicken. Die Marie weiß ja Bescheid da. Und da kann sie denn der alten Hexe sagen, lütt Agnes solle heute abend mit heraufkommen und hier schlafen und immer da sein, wenn ich was brauche.« [...]
Und so kam denn auch Agnes, aber erst sehr spät, als sich Adelheid schon zurückgezogen hatte, dabei nicht ahnend, welche Ränke mittlerweile gegen sie gesponnen waren. Auf diese Verheimlichung kam es aber gerade an. Dubslav hatte sich nämlich wie Franz Moor - an den er sonst wenig erinnerte - herausgeklügelt, daß Überraschung und Schreck bei seinem Plan mitwirken müßten. [...]
Die Nacht verging still; niemand war gestört worden. Um sieben erst kam Engelke und sagte: »Nu, lütt Deern, steih upp, is all seben.« Agnes war auch wirklich wie der Wind aus dem Bett, fuhr mit einem mitgebrachten Hornkamm, dem ein paar Zähne fehlten, durch ihr etwas gekraustes langes Blondhaar, putzte sich wie ein Kätzchen und zog dann den himmelblauen Hänger, die roten Strümpfe und zuletzt auch die Knöpfstiefel an. Gleich danach brachte ihr Engelke einen Topf mit Milchkaffee, und als sie damit fertig war, nahm sie ihr Strickzeug und ging in das große Zimmer nebenan, wo Dubslav bereits in seinem Lehnstuhl saß und auf seine Schwester wartete. Denn um acht nahmen sie das erste Frühstück gemeinschaftlich.
»So, Agnes, das is recht, daß du da bist. Hast du denn schon deinen Kaffee gehabt?«
Agnes knickste.
»Nu setz dich da mal ans Fenster, daß du bei deiner Arbeit besser sehn kannst; du hast ja schon dein Strickzeug in der Hand. Solch junges Ding wie du muß immer was zu tun haben, sonst kommt sie auf dumme Gedanken. Nicht wahr?«
Agnes knickste wieder, und da sie sah, daß ihr der Alte weiter nichts zu sagen hatte, ging sie bis an das ihr bezeichnete Fenster, dran ein länglicher Eichentisch stand, und fing an zu stricken. Es war ein sehr langer Strumpf, brandrot und, nach seiner Schmalheit zu schließen, für sie selbst bestimmt. [...]
»Und hältst deine Reden für König und Vaterland und für die alten Güter und sprichst gegen die Freiheit. Ich versteh' dich nicht mit deinem ewigen ›gegen die Freiheit‹. Laß sie doch mit ihrer ganzen dummen Freiheit machen, was sie wollen. Was heißt Freiheit? Freiheit ist gar nichts; Freiheit ist, wenn sie sich versammeln und Bier trinken und ein Blatt gründen. [...] Aber wenn erst der Buschen ihre Enkelkinder, denn die Karline wird doch wohl schon mehrere haben, ihre Knöpfstiefel und ihre roten Strümpfe tragen, als müßt' es nur so sein, ja, Dubslav, dann ist es vorbei. Mit der Freiheit, laß mich das wiederholen, hat es nicht viel auf sich; aber die roten Strümpfe, das ist was. [...]
Und in großer Erregung brach das Gespräch ab. Noch am selben Nachmittag aber verabschiedete sich Adelheid von ihrem Bruder und fuhr nach Wutz zurück.

(Fontane: Stechlin, 39. Kapitel)

10 August 2007

Stifter: Nachsommer

Es fällt relativ leicht, die Nähe des Textes zum Kitsch zu erkennen. Die Komik mancher Formulierungen, das Gesuchte und zugleich von Wiederholungen Bestimmte der Sprache bemerken wir auch.
Und doch scheint mir auch erkennbar, dass etwas darüber hinausweist, dass der Stilwille zur geradezu manierierten Einfachheit und andererseits zur höchst künstlichen (ja uns gekünstelt erscheinenden) Gefühlsdarstellung nicht einfach nur unecht ist, auch wenn der Autor sein eigenes Leben nicht nach diesen ästhetischen Idealen zu gestalten vermochte.

"Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, dass er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen," meinte Friedrich Hebbel 1858 über diesen Roman.
Nun war die Krone Polens schon damals nichts wert. Doch langweilig ist der Roman gewiss. So langweilig, dass er mich immer wieder dazu bringt, darin zu lesen, während die meisten spannenden Bücher für Erwachsene nur für einmaliges Lesen taugen.
Mit Flauberts Madame Bovary und Baudelaires Les Fleurs du Mal, die alle 1857 erschienen, hat man den Roman als ein frühes Beispiel der Moderne gesehen.

Wasser und -

Endlich sagte sie: »Wir haben von dem Angenehmen dieses Ortes gesprochen und sind von dem edlen Steine des Marmors auf die Edelsteine gekommen; aber eines Dinges wäre noch Erwähnung zu tun, das diesen Ort ganz besonders auszeichnet.«
»Welches Dinges?«
»Des Wassers. Nicht bloß, daß dieses Wasser vor vielen, die ich kenne, gut zur Erquickung gegen den Durst ist, so hat sein Spielen und sein Fließen gerade an dieser Stelle und durch diese Vorrichtungen etwas Besänftigendes und etwas Beachtungswertes.«
»Ich fühle wie ihr«, antwortete ich, »und wie oft habe ich dem schönen Glänzen und dem schattenden Dunkel dieses lebendigen flüchtigen Körpers an dieser Stelle zugesehen, eines Körpers, der wie die Luft wohl viel bewunderungswürdiger wäre als es die Menschen zu erkennen scheinen.«
»Ich halte auch das Wasser und die Luft für bewunderungswürdig«, entgegnete sie, [...]

»Was kann euch denn an diesem Orte Schmerz erregen?« fragte sie.
»Natalie«, antwortete ich, »es ist jetzt ein Jahr, daß ihr mich an dieser Halle absichtlich gemieden habt. Ihr saßet auf derselben Bank, auf welcher ihr jetzt sitzet, ich stand im Garten, ihr tratet heraus und ginget von mir mit beeiligten Schritten in das Gebüsch.«
Sie wendete ihr Angesicht gegen mich, sah mich mit den dunklen Augen an und sagte: »Dessen erinnert ihr euch, und das macht euch Schmerz?«
»Es macht mir jetzt im Rückblicke Schmerz und hat ihn mir damals gemacht«, antwortete ich.
»Ihr habt mich ja aber auch gemieden«, sagte sie.
»Ich hielt mich ferne, um nicht den Schein zu haben, als dränge ich mich zu euch«, entgegnete ich.
»War ich euch denn von einer Bedeutung?« fragte sie.
»Natalie«, antwortete ich, »ich habe eine Schwester, die ich im höchsten Maße liebe, ich habe viele Mädchen in unserer Stadt und in dem Lande kennen gelernt; aber keines, selbst nicht meine Schwester, achte ich so hoch wie euch, keines ist mir stets so gegenwärtig und erfüllt mein ganzes Wesen wie ihr.«
Bei diesen Worten traten die Tränen aus ihren Augen und flossen über ihre Wangen herab.
Ich erstaunte, ich blickte sie an und sagte: »Wenn diese schönen Tropfen sprechen, Natalie, sagen sie, daß ihr mir auch ein wenig gut seid?«
»Wie meinem Leben«, antwortete sie.
Ich erstaunte noch mehr und sprach: »Wie kann es denn sein, ich habe es nicht geglaubt.«
»Ich habe es auch von euch nicht geglaubt«, erwiderte sie.
»Ihr konntet es leicht wissen«, sagte ich. »Ihr seid so gut, so rein, so einfach. So seid ihr vor mir gewandelt, ihr waret mir begreiflich wie das Blau des Himmels, und eure Seele erschien mir so tief wie das Blau des Himmels tief ist. [...]

»Und nun hat sich alles recht gelöset.«
»Es hat sich wohl gelöset, meine liebe, liebe Natalie.«
»Mein teurer Freund!«
Wir reichten uns bei diesen Worten die Hände wieder und saßen schweigend da.

Stifter: Der Nachsommer - Der Bund

Der Weg

An dieser Stelle sah ich jetzt, daß mir eine Gestalt, welche mir früher durch Baumkronen verdeckt gewesen sein mochte, entgegen kam, welche die Gestalt Nataliens war. [...]
»Es ist recht schön«, sprach sie, »daß wir gleichzeitig einen Weg gehen, den ich heute schon einmal gehen wollte, und den ich jetzt wirklich gehe.«

»Wie habt ihr denn die Nacht zugebracht, Natalie?« fragte ich.
»Ich habe sehr lange den Schlummer nicht gefunden«, antwortete sie, »dann kam er doch in sehr leichter, flüchtiger Gestalt. Ich erwachte bald und stand auf. Am Morgen wollte ich auf diesen Weg heraus gehen und ihn bis über die Felderanhöhe fortsetzen; aber ich hatte ein Kleid angezogen, welches zu einem Gange außer dem Hause nicht tauglich war. Ich mußte mich daher später umkleiden und ging jetzt heraus, um die Morgenluft zu genießen.« [...]

Wir gingen langsam auf dem feinen Sandwege dahin, an einem Baumstamme nach dem andern vorüber, und die Schatten, welche die Bäume auf den Weg warfen, und die Lichter, welche die Sonne dazwischen legte, wichen hinter uns zurück. Anfangs sprachen wir gar nicht, dann aber sagte Natalie: »Und habt ihr die Nacht in Ruhe und Wohlsein zugebracht?«
»Ich habe sehr wenig Schlaf gefunden; aber ich habe es nicht unangenehm empfunden«, entgegnete ich, »die Fenster meiner Wohnung, welche mir eure Mutter so freundlich hatte einrichten lassen, gehen in das Freie, ein großer Teil des Sternenhimmels sah zu mir herein. Ich habe sehr lange die Sterne betrachtet. Am Morgen stand ich frühe auf, und da ich glaubte, daß ich niemand in dem Schlosse mehr stören würde, ging ich in das Freie, um die milde Luft zu genießen.«

»Es ist ein eigenes erquickendes Labsal, die reine Luft des heiteren Sommers zu atmen«, erwiderte sie.
»Es ist die erhebendste Nahrung, die uns der Himmel gegeben hat«, antwortete ich.

Stifter: Der Nachsommer - Die Entfaltung

Grasso Lucido

Wer kann aber nun dem Grasso Lucido entrinnen? Eine Volksgruppe steht auf irgendeiner Straße, eine deklamierende Stimme erschallt es aus ihrem Kreise. Wir eilen herbei: Was gibt es hier? «Il legittimo Grasso Lucido.» Ein ganz frischer, blutroter Maueranschlag dort an der Ecke - wir eilen ihn zu lesen, denn was mag es geben? «Il legittimo Grasso Lucido.» Wir sitzen im Café Ruspoli - ein Zettelträger verteilt Zettel - was gibt es? «Il legittimo Grasso Lucido.» Dieser legitime Grasso Lucido hat also auch ein unbestrittenes Recht, die Augen aller Welt auf sich zu ziehen, ja er ist nichts Geringeres als die im Jahre 185o nach Christi Geburt mit einer silbernen Medaille patentierte Glanzwichse, welche gar keine korrosiven Zumischungen von Vitriol oder andern Säuren enthält, sondern jedes beliebige Leder nicht allein im höchsten Maß geschmeidig, sondern auch in einer ganz wunderbaren und unglaublichen Weise dauerhaft macht.

Sehen wir also einer solchen Vorstellung des Grasso Lucido unter dem Obelisk vor dem Pantheon zu. Dort stehen neben einem Tisch, welcher mit blechernen Wichsbüchsen überladen ist, zwei dieser Straßensophisten und reden stundenlang in nie endendem Redefluß über die Vortrefflichkeit des Grasso Lucido. Sollte man dem größten Philosophen die Aufgabe stellen, etwas zum Lob einer Glanzwichse zu sagen, so würde er in ein paar Sätzen damit zu Ende sein; aber dieser Mann dort, in schmierigem Rock und langer Samtweste, welche beide gleichsam mit Glanzwichse überzogen sind, spricht über die Materie des Grasso Lucido ohne Aufhören mehrere Stunden fort, immer zur Sache und immer mit ganz neuen Argumenten und genialen Ansichten von dem, was eigentlich der Grasso Lucido sei, und was er für ein Verhältnis zur Ökonomie, zur menschlichen Gesellschaft, zum verschiedenartigsten Leder, zur Kultur, zur Witterung, zur Sonne und zu den Sternen habe, und welches sein Einfluß auf das menschliche Gemüt sei.

In der ersten halben Stunde fallen dem Zuhörer die Schuppen von den Augen, er wird von der Vortrefflichkeit des Grasso Lucido beinahe überzeugt; allmählich aber beginnt er die Einzigkeit und ungeheuere Wichtigkeit des Grasso Lucido zu begreifen und gerät in Verwunderung, wie er bisher ohne ihn nur habe existieren können. Immerfort aber peroriert der Sophist vor dem Pantheon. Gorgias, Protagoras und Karneades sprachen nie schöner über die Gerechtigkeit als dieser Mann über den Grasso Lucido. Er verdient, daß man ihm in Padua einen eigenen Katheder über den Grasso Lucido stifte; er selbst nennt sich bereits Professor und wahrscheinlich auch Mitglied mehrerer gelehrter Akademien, und seinen Kollegen desgleichen; denn, sagt er, seht diesen Professore, er hat elf Bände über den Grasso Lucido geschrieben. «Nicht wahr, Professore, hast du es nicht in deinem zehnten Bande auseinandergesetzt, daß dieser echte und in ganz Europa einzige Grasso Lucido eine so wunderbare Eigenschaft habe, daß er selbst das härteste Ochsenleder durchdringt und so weich macht wie ein Stück Samt?» Der Professor bejaht es, daß er dies im neunten Bande von dem Grasso Lucido geschrieben habe, und ergießt sich nun, da jener heiser geworden ist, von neuem in das Lob dieses erstaunlichen Produkts.

Er demonstriert zuerst, was der Grasso Lucido an sich sei. «Man will behaupten», sagt er, «daß in diesem Grasso Lucido vernichtende Säuren und korrosive Substanzen enthalten seien - ich frage euch nun: Kann ein lebendiger Mensch Vitriol verschlucken? Glaubt ihr wirklich, daß es einen Mann gebe, der sich mit Schwefelsäure den Magen anfüllen könne? Seht her, ich will euch den Beweis liefern, denn ich will vor euren Augen diesen Grasso Lucido essen, und er wird mir weder den Tod geben noch Übelkeit zuziehen, vielmehr einen solchen Wohlgeschmack erregen, als wäre es die allersüßeste Polenta.» Hierauf verschlingt der Professore vor aller Augen eine ziemliche Quantität von Grasso Lucido, die Zuhörer aber sind bis in die Eingeweide hinein überzeugt, daß in diesem Präparat kein Vitriol enthalten sei. «Kauft also», ruft der große Philosoph, «profitiert von diesem höchst ökonomischen, genießbaren, unschuldigen und einzigen Grasso Lucido, das Schächtelchen nur zu 13 Bajocci. Sagte ich 13? Nein, nehmt es für 12. Sagte ich 12? Seht, ich gebe es für 10.»

Um nun zu beweisen, daß der Grasso Lucido alle ledernen Dinge blank mache, und zwar ohne Anstrengung, nimmt er zuerst ein Stück Papier und wichst dasselbe mit der größten Gemächlichkeit und mit einem Lächeln des Wohlbehagens; dann ergreift er einen Jungen und wichst ihm unter beständigem Deklamieren einen Stiefel. Der Junge strahlt im Antlitz vor Freude, denn es ist ihm noch nicht passiert, daß ihm jemand die Stiefel gewichst hat, noch hat er überhaupt, solange er lebt, gewichste Stiefel getragen. «Seht», sagt der Professore, «dieser Stiefel war eben erst gleichsam der Stiefel eines Schweins, und jetzt erglänzt er wie das reinste Silber, ja, ein kaum geborenes Kind könnte ihn mit leichtester Mühe blank machen.» Der Junge geht mit einem gewichsten und einem ungewichsten Stiefel von dannen, und drei Straßen entlang läßt er kein Auge von seinem blanken Stiefel und scheint sich und sein Glück darin zu spiegeln.
(Gregorovius: Wanderjahre in Italien - Römische Figuren

Kinderpredigten

Ich wollte nun meine Freunde in das Volkstheater auf die Piazza Navona führen aber ich höre die Stimme eines predigenden Kindes, und diese lockt mich in die alte schöne Basilika Ara Celi auf dem Kapitol. Dort predigen vormittags und nachmittags kleine Kinder, Buben und Mädchen, mehr als eine Woche lang bis zum Fest der Heiligen Drei Könige, an dem die Kinderpredigten endigen. Aus einem Marionettentheater ist es kein weiter Sprung zu einer Predigt kleiner Mädchen von sechs oder acht Jahren. Auch ist der Mittelpunkt dieser Schauspiele eine Puppe, eine mit Edelsteinen und flimmernder Krone reich gezierte, der heilige Bambino von Ara Celi.
In einer Kapelle dieser Kirche ist die Grotte zu Bethlehem und die Verehrung der drei Könige vom Morgenland auf das zierlichste dargestellt; es sind Wachsfiguren mit Staffagen von Schäferei und landwirtschaftlichem Zubehör. Die Jungfrau sitzt in der Grotte und hält auf ihrem Schoß den Bambino, welchem die Könige die Geschenke kniend darreichen. Draußen kniet am Pfeiler eine stattliche Figur im scharlachnen Mantel, mit türkischen Pantalons und einem Kopfbunde; anbetend hält sie die Arme zum Bambinello erhoben. Ihr gegenüber steht an dem andern Pfeiler ein großes und erhabenes Weib, welches dem knienden Halbtürken das Jesuskind zu zeigen scheint. Dieser Halbtürke ist kein anderer als der Kaiser Augustus, und das Weib ist die Sibylle. So hat man hier die Sage dargestellt, daß die Seherin dem Octavian in einer Vision das Jesuskind gezeigt habe, welches in die Welt gekommen sei, sie zu beherrschen. Sie ist eine der tiefsinnigsten Legenden des Christentums.
Der Grotte gegenüber steht auf der andern Seite des Kirchenschiffes ein Predigtpult, auf welches Kinder im Alter von sechs bis zu zehn Jahren steigen, eins nach dem andern, jedes etwa fünf Minuten lang predigend; und das geht etwa zwei Stunden vor einigen tausend Menschen so fort.
Ein kleiner hübscher Junge stieg zuerst auf das Pult, schlug ein Kreuz und fing mit Gebärden, wie Kinder handbewegend zu deklamieren pflegen, eine wohlgesetzte Predigt von dem in die Welt gekommenen Heil an. Sein Nachfolger, ein größerer Knabe im Chorhemd, verstand es noch besser. Er schrie mit komischem Pathos, donnerte seine Predigt gleich einem Kapuzinermönch herunter und gestikulierte gleich einem tragischen Schauspieler. Man sah ihm an, daß er ein angebotenes Talent zur Mimik besaß; kam in seiner Predigt das Wort Kopf vor, so faßte er nachdrucksvoll nach dem Kopfe, Auge, nach dem Auge, Ohr, nach dem Ohr. Als er einmal Harfenspiel sagte, machte er sofort mit beiden Händen die Griffe eines Harfenspielers. Diese kindliche Art, mit der Mimik die Dinge selbst in ihrer Leiblichkeit zu geben, fand den lebhaftesten Beifall bei allen Zuhörern, welche die Predigt teils andächtig aufnahmen, weil Kinder die Wahrheit sagen, teils sich an ihr vergnügten wie an einem Marionettenspiel.
Keines der Kinder war im mindesten verlegen, die meisten schienen stolz zu sein, daß sie vor Tausenden sprechen durften, und mit dem zunehmenden Sicherheitsgefühl nach überwundenem Anfang schwoll ihre Stimme immer höher und wurden ihre Gebärden immer theatralischer. Mancher Redner vor dem Parlament würde sich die Unbefangenheit eines solchen predigenden Kindes zu wünschen Ursache haben, und nur wenige möchten ein so großes, aus vielen Nationen zusammengesetztes Publikum vor sich sehen, als hier in Ara Celi sich zusammenfindet.
Auf die Knaben folgten Mädchen, zierliche kleine Fräulein mit Locken, im Federhütchen und im atlasnen Jäckchen. Sie machten einen Knix, schlugen ein Kreuz und begannen ihre Predigt. Es ist seltsam genug, zu hören, wenn ein so kleines Ding von der Sünde Adams spricht, die der Herr von uns genommen hat, von dem Glauben an das Heil und das Wort, welches Fleisch geworden ist durch Jesum Christum, und von dessen Opfertod, wodurch er die Menschheit gereinigt hat. Es ist nicht anders, als ob die Puppen auf der Montanara zu reden anfangen und die kleinen Marionettenpaladine mit dem ernstesten Pathos ungeheure Dinge sagen, zur Ehre Christi gegen die Mohren das Schwert ziehen und die gesamte Heidenschaft herausfordern, oder als ob die Marionettendämchen in Federhut und Mäntelchen in die herzbewegendsten Deklamationen ausbrechen und bei den Sternen ewige Liebe schwören.

Betrachtet man diese predigende Kinderwelt, so möchte man glauben, daß auch ihre Predigten und die Dinge, welche sie darin sagen, rnarionettenhaft sein müssen, und daß es sich hier um einen ganz kleinen Puppenkultus und kleine Gefühle handelt, die der Zuhörer mit dem Mikroskop besehen muß. Aber dem ist keineswegs so; es sind vielmehr sehr gewichtige Predigten im großen Stil, und keiner fehlt der grundgelehrte Anstrich der Zitate. Und so hört man fast ein jedes Mädchen, unter denen auch Kinder von sechs Jahren predigen, einzelne Glaubenswahrheiten durch Anführung von Kirchenvätern bekräftigen und sagen: So sagt der heilige Paulus, così dice San Bernardo, dice Sant'Agostino, und so sagt der heilige Tertullian.
Ich glaube, irgendwo steht geschrieben: «Wenn die Propheten schweigen, werden die Kinder reden, und wenn die Kinder schweigen, werden die Steine sagen: Amen!» Geschahen doch selbst Wunder in Bremen, wo die Tische anfingen zu wandeln. Aber der ernste und wahrhaft religiöse Mensch wendet sich mit Erstaunen von diesem Kinderkultus in Ara Celi und überdenkt die Metamorphosen des Christentums. Was würden Paulus und Petrus sagen, träten sie in jene Kirche und sähen sie, was aus ihrer Predigt geworden ist!
Die Kinder nun, die das Jesuskind im Schoß der Maria wie ein Püppchen anlächelten, knieten am Schluß ihrer Predigt nieder und richteten ein Gebet an den Bambinello. Ein kleines Mädchen betete also: «Allerliebstes kleines Knäblein, schlag doch deine kleinen Augen auf und wirf auf uns Sünder einen Blick der Gnade.»
(Gregorovius: Wanderjahre in Italien - Römische Figuren, S.88-90)

Juden in Rom

Und bis ins 16. Jahrhundert finden sich jüdische Leibärzte im Vatikan trotz aller Bannbullen dieses oder jenes judenfeindlichen Papstes. Als Orientalen, als Verwandte der Araber standen die Juden überhaupt in aller Welt, auch bei Fürsten und Kaisern, im höchsten Ansehen ärztlicher Wissenschaft. Samuel Sarfadi, ein spanischer Rabbiner, war Leos X. Arzt, ein grundgelehrter und beredter Mann.
Natürlich fiel ein Schimmer der päpstlichen Gnade, wenn sich der jüdische Arzt ihrer erfreute, auch auf das Judenvolk in Trastevere zurück. Aber bei der Natur des kirchlichen Regiments, welches persönlich ist, sah die römische Judenschaft ihr Los lediglich vom Charakter der jeweiligen Päpste abhängen, und diese wechselnde Behandlungsweise hielt sie in beständiger Aufregung, nährte oder erschlug ihre Hoffnung und gab sie einem fast gesetzlosen Zustande preis.
Es hatten schon viele Konzilien im frühesten Mittelalter die Trennung der Juden von den Christen anbefohlen und ihnen ein Schandabzeichen zu tragen auferlegt; dies Gebot erneute Innocenz III. im Jahre 1215, ebenso andere Päpste. Solche Edikte umgingen die Juden meistens, oder sie kauften sich davon los. Bald auch stieß ein gnädiger Papst um, was ein feindlicher verordnet hatte. Johann XXII. hatte die Juden verfolgt, endlich auch ihren Talmud untersagt und öffentlich verbrennen lassen. Innocenz VII. dagegen war ihnen gnädig, und am meisten schützte sie Martin V., ein Römer von Geburt. Er gewährte ihnen wieder das Privilegium, Ärzte sein zu können, [...]
(Wanderjahre in Italien - Der Ghetto und die Juden in Rom, S.33 - Hervorhebung von Fontanefan)

07 August 2007

Bündische Jugend

Wie weit 1927 von uns sprachlich entfernt ist, wird deutlich, wenn wir in Else Frobenius Darstellung der Jugendbewegung lesen: ich "habe versucht, als schlichter Chronist eine Geschichte der Jugendbewegung zu schreiben" und dann, wenn sie von der bündischen Jugend spricht, zu lesen: "Neues Seelentum wird geboren, das sich bündigen will in neuen Gemeinschaften, um in ihnen seine Werke zu schaffen." (S.280) "Die Vorstellung eines selbständigen deutschen Jugendlebens, das Form gewinnen soll, schreitet durch die Jugendbünde." (S.281)
Selbst wenn wie von Joachim Boeckh (im "Weißen Ritter") "eine unglaublich nüchterne Arbeit: die Politisierung der jungen Männer" gefordert wird, geschieht es mit Worten wie diesen: "Ich kann mir kein männlicheres und stolzeres Ziel für eine nicht von Idealismen und Lyrismen umnebelte Jungmannschaft vorstellen, als aus dem rohen Block unseres Staates mit unermüdlicher Hand ein gerundetes Werk herauszuschlagen" (S.285)
Zu Recht hat man bei einem Rückblick auf 100 Jahre Wandervogel von "Affinitäten zu einer rückwärtsgewandten Romantik von Volk und Heimat, Volksgenossenschaft und "blutsmäßiger" Bindung an die "Scholle" als eines Verblendungszusammenhangs, der kaum Widerstandskräfte gegen Ausgeburten wie den "germanischen Herrenmenschen" und eine auf ethnische "Säuberungen" zielende "Blut-und-Boden"-Politik enthalten konnte" gesprochen und dennoch oder gerade deswegen den Titel der Darstellung von Else Frobenius wieder aufgegriffen: "Mit uns zieht die neue Zeit"

05 August 2007

Helena und Gretchen - Annäherung in Sprache

So wie Helena sich später Faust annähert, indem sie von ihm statt des jambischen Trimeter seine reimgebundene Sprache verwendet (Z.9380ff), so verwandelt sich auch Gretchens Sprache nach dem Fund des Kästchens (Z.2783ff) von kurzen Knittelversen in längere Verszeilen (vgl. dazu den Kommentar von Albrecht Schöne: "hier wie häufig: das Metrum als Indiz einer Annäherung zwischen den Figuren").

Lektürehilfe zu Goethe Faust I:
z.B. https://lektuerehilfe.de/johann-wolfgang-von-goethe/faust-1/szenenanalyse/auerbachs-keller-in-leipzig

Zum 3. Akt von Faust II:
https://lektuerehilfe.de/faust-2/zusammenfassung/akt-3

01 August 2007

Tanzende Türme

In Ferdinand Gregorovius Wanderjahren in Italien haben mich besonders die Abschnitte zu Wallfahrten, zum Betteln aus Gefängnissen und zu den "tanzenden Türmen" interessiert.

"Kaum war ich in die wimmelnde Stadt eingetreten, als mich ein nie gesehener Anblick verwirrte. Rauschende Musik drang aus einer Seitenstraße, ein sonderbares Ungetüm kam dahergewandelt, dessen Erscheinung mich aus Campanien geradezu nach Indien versetzte. Ich sah einen hohen, grell mit Gold, Silber und Rot überkleideten Turm von Lastträgern herbeitragen; er war fünf Stockwerke hoch, aus Säulen aufgebaut, mit Frontispizen, Friesen, Nischen, Bogen, Figuren geschmückt, zu beiden Seiten mit bunten Fähnchen besteckt, mit Goldpapier, roten Decken und jeglichen Farben überzogen. Die Säulen metallglänzend rot, die Nischen goldgrundig mit den ausschweifendsten Arabesken verziert; die Figuren, Genien, Engel, Heilige, Ritter, in buntesten Kostümen; sie standen stockwerkweise übereinander, hielten Füllhörner in den Händen oder Blumenbüsche, Girlanden oder Fahnen, Alles rauschte, knitterte, flatterte in der Luft, da der Turm selber auf den Schultern von etwa dreißig Lastträgern hin und her schwankte. Es saßen in seinem untersten Stockwerk blumenbekränzte Mädchen, mitten inne ein Chor von Musikanten, mit Trompeten, Pauken, Triangeln, Zinken eine sinnverwirrende Musik erhebend.

So bewegte sich dieser Turm langsam weiter, über die Häuser der Straße wegragend und oben auf der Spitze einen sonnenstrahlenden Heiligen gen Himmel haltend; nun hörte ich auch von einer andern Seite her schallende Musik und sah über den Häusern weg hie und da noch einen, und wieder einen, und immer wieder mehrere solcher Wandeltürme hervorragen. «Mein Gott», fragte ich einen neben mir stehenden Mann, «was ist denn dieses?» Er antwortete mir in einer unverständlichen Sprache, von der ich nichts begriff als die Worte «guglia di San Paolino». «Ihr müßt wissen», bemerkte hierauf ein Neapolitaner, welcher sich zu mir wandte, «daß dies die Festobelisken für den Heiligen sind; denn als er aus der Barbarei nach Nola zurückkehrte, gingen ihm die Bürger dieser Stadt tanzend entgegen und trugen ebensolche Obelisken vor sich her. Da könnt Ihr auch die andern sehen, sie alle ziehen nach der Kathedrale, um zu tanzen.» [...]
Jedes Stockwerk hat korinthische Säulen, zwischen ihnen Nischen, darüber einen Fries. Man füllt die Nischen mit Gestalten aus; in die des untersten Stockwerks stellt man lebende Figuren: Mädchen oder Knaben, welche kurze Röcke und goldpapierene Helme tragen. In der mittleren Nische steht das Hauptbild: auf dem Obelisken der Landbauern oder Schnitter war es eine kolossale Judith in prachtvollem Gewande, das Haupt des Holofernes in der Hand erhebend; in andern Obelisken Heilige oder Schutzpatrone. Nun folgen über dem Mittelbilde und an den verschiedenartigsten Emblemen: Engel, welche Fahnen, andere, welche Harfen tragen, Genien mit Blumenkränzen und Füllhörnern. In der Mittelnische des obern Stockwerks steht ein Engel, der ein Weihrauchfaß schwingt; dann folgt die goldene Kuppel, die das Ganze krönt, oder eine lilienartige Ausschweifung, über der sich das oberste Heiligenbild abschließend erhebt. Auf dem Obelisken der Schnitter war dies der heilige Georg mit dem Malteserkreuz und einer weißen Fahne in der Hand. [...]
Die Obelisken zogen, ein jeder mit dem Musikchor im untersten Stockwerk, nach der Kathedrale. Die rauschenden Klänge, die bunte wogende Menschenmasse mit den zahllosen Fähnchen von Gold- und Silberpapier, die von Blumen und Mädchen lachenden Balkone der Häuser, die hereintaumelnden bizarren Türme, die flimmernde Sonnenglut des campanischen Himmels - dies war ein so sonderbares, grelles, schreiendes Schauspiel, daß es mich betäubte und mitten in das Heidentum zurückversetzte. Den Zug des Hauptobelisken eröffneten zwei sehr kleine, in deren Unterstock bekränzte Kinder saßen; dann folgte ein Schiff, worauf ein als Türke gekleideter Knabe saß, eine Granatblume in der Hand. Hinter diesem Schiff trug man ein großes Kriegsfahrzeug mit einem Stück Meer, das ihm als Fundament diente; die Galeere war auf das vollendetste ausgerüstet. Auf dem Bugspriet stand ein junger Mensch in maurischer Tracht, vergnüglich eine Zigarre rauchend, auf dem Steuerbord aber kniete vor einem Altar die Figur des heiligen Paulinus selber.

Sobald nun ein Obelisk vor dem Dom anlangte, begann das seltsamste Schauspiel; denn der ungeheure Turm begann zu schallender Musik zu tanzen. Vor den Trägern her schritt einer mit dem Stab, und indem er den Takt angab, bewegten sich jene im Rhythmus hin und her. Der Koloß schwankte, er schien fallen zu wollen; die Figuren bewegten sich, die Fahnen rauschten. Und so stellte sich jeder Obelisk tanzend vor dem Dome dar; dann und wann tanzte einer gegen den andern. Der Einzeltanz und Gegentanz währte etwa fünf Minuten. Hierauf blieb der Obelisk vor der Kathedrale stehen, und sobald er dort Posto gefaßt hatte, begann vor ihm ein Ringeltanz von Jünglingen und Männern. [...]
All dies heidnische Wesen vollzog sich vor dem Dom, während drinnen der Bischof von Nola in unerschütterter Seelenruhe die christliche Messe las, und die Gläubigen ungestört auf den Knien lagen."

Boswell

James Boswells Grand Tour nach Deutschland und Schweiz habe ich jetzt zum Teil nachgelesen (Boswells Große Reise. Deutschland und die Schweiz 1764. Diana Verlag, Stuttgart, Konstanz 1955), besonders sein Gespräch mit Rousseau, auf dessen Einfädelung er besonders stolz war.
Was er am 28.12.1764 an seinen Freund Temple darüber schreibt, wirft nicht nur ein Licht auf eine damalige Grand Tour, sondern auch auf die damalige Gefühlssprache und zwar deshalb, weil er sich an einer Stelle ungewöhnlich deutlich davon distanziert:

"... Nachdem ich Dir für Deine beiden Briefe vom November gedankt habe, muss ich Dir mein Herz ausschütten, das sich vor Freude und Frohlocken weitet. Nenne es Schwärmerei. Nenne es, wie Du willst, aber lass mich die Sprache führen, die allein einen entfernten Begriff davon vermitteln kann, was Boswell empfindet. Wenn ich Dir lächerlich vorkomme, liegt es an der Unzulänglichkeit der Sprache als solcher. Meine Reise durch die deutsche Hofwelt habe ich abgeschlossen. Überall fand ich große und feine Form. [...] Was für ergiebige Aussichten eröffnen sich mir damit! Mein Brief ist bereits so lang geraten, dass ich auf Ausbrüche der Begeisterung verzichte. Meine Freude kannst Du Dir denken."