30 Dezember 2013

Clarisse und Walter

Auf den Bruchteil einer Sekunde genau, flogen Heiterkeit, Trauer, Zorn und Angst, Lieben und Hassen, Begehren und Überdruß durch Walter und Clarisse hindurch. Es war ein Einswerden, ähnlich dem in einem großen Schreck, wo hunderte Menschen, die eben noch in allem verschieden gewesen sind, die gleichen rudernden Fluchtbewegungen ausführen, die gleichen sinnlosen Schreie ausstoßen, in der gleichen Weise Mund und Augen aufreißen, von einer zwecklosen Gewalt gemeinsam vor- und zurückgerissen werden, links und rechts gerissen werden, brüllen, zucken, wirren und zittern. Aber es hatte nicht die gleiche, stumpfe, übermächtige Gewalt, wie sie das Leben hat, wo solches Geschehen sich nicht so leicht ereignet, dafür aber alles Persönliche widerstandslos auslöscht. Der Zorn, die Liebe, das Glück, die Heiterkeit und Trauer, die Clarisse und Walter im Flug durchlebten, waren keine vollen Gefühle, sondern nicht viel mehr als das zum Rasen erregte körperliche Gehäuse davon. Sie saßen steif und entrückt auf ihren Sesselchen, waren auf nichts und in nichts und über nichts oder jeder auf, in und über etwas anderes zornig, verliebt und traurig, dachten Verschiedenes und meinten jeder das Seine; der Befehl der Musik vereinigte sie in höchster Leidenschaft und ließ ihnen zugleich etwas Abwesendes wie im Zwangsschlaf der Hypnose. Jeder dieser beiden Menschen spürte es in seiner Weise. Walter war glücklich und erregt. Er hielt, wie das die meisten musikalischen Menschen tun, diese wogenden Wallungen und gefühlsartigen Bewegungen des Inneren, das heißt den wolkig aufgerührten körperlichen Untergrund der Seele für die einfache, alle Menschen verbindende Sprache des Ewigen. Es entzückte ihn, Clarisse mit dem starken Arm des Urgefühls an sich zu pressen. Er war an diesem Tag früher aus seinem Büro nach Hause gekommen als sonst. Er hatte mit der Katalogisierung von Kunstwerken zu tun gehabt, die noch die Form großer, ungebrochener Zeiten trugen und eine geheimnisvolle Willenskraft ausströmten. Clarisse war ihm freundlich begegnet, sie war nun in der ungeheuren Welt der Musik fest an ihn gebunden. Es trug alles an diesem Tag ein geheimes Gelingen in sich, einen lautlosen Marsch, wie wenn Götter auf dem Wege sind. »Vielleicht ist heute der Tag?« dachte Walter. Er wollte Clarisse ja nicht durch Zwang zu sich zurückbringen, sondern zu innerst aus ihr selbst sollte die Erkenntnis aufsteigen und sie sanft zu ihm herüberneigen. Das Klavier hämmerte schimmernde Notenköpfe in eine Wand aus Luft. Obgleich dieser Vorgang in seinem Ursprung ganz und gar wirklich war, verschwanden die Mauern des Zimmers, und es erhob sich an ihrer Stelle das goldene Gewände der Musik, dieser geheimnisvolle Raum, in dem Ich und Welt, Wahrnehmung und Gefühl, Innen und Außen auf das Unbestimmteste ineinanderstürzen, während er selbst ganz und gar aus Empfindung, Bestimmtheit, Genauigkeit, ja aus einer Hierarchie des Glanzes geordneter Einzelheiten besteht. An diesen sinnlichen Einzelheiten waren die Fäden des Gefühls befestigt, die sich aus dem wogenden Dunst der Seelen spannen; und dieser Dunst spiegelte sich in der Präzision der Wände und kam sich selbst deutlich vor. Wie puppige Kokons hingen die Seelen der beiden Menschen in den Fäden und Strahlen. Je dicker eingewickelt und breiter ausgestrahlt sie wurden, desto wohliger fühlte sich Walter, und seine Träume nahmen so sehr die Gestalt eines kleinen Kindes an, daß er hie und da begann, die Töne falsch und zu gefühlig zu betonen. Aber ehe das kam und bewirkte, daß ein durch den goldenen Nebel schlagender Funke gewöhnlichen Gefühls die beiden wieder in irdische Beziehung zu einander brachte, waren Clarissens Gedanken von den seinen schon der Art nach so verschieden, wie es zwei Menschen nur zuwege bringen können, die mit zwillingshaften Gebärden der Verzweiflung und Seligkeit nebeneinander hinstürmen. In flatternden Nebeln sprangen Bilder auf, verschmolzen, überzogen einander, verschwanden, das war Clarissens Denken; sie hatte darin eine eigene Art; oft waren...
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 38: Clarisse und ihre Dämonen

  • Walter ist ein Jugendfreund Ulrichs, ein Künstler, der dabei ist, sich im bürgerlichen Leben einzurichten. Von ihm stammt im Roman die Bezeichnung „Mann ohne Eigenschaften“, womit er Ulrich beschimpfen will.
  • Clarisse ist Walters jugendliche Ehefrau, die aber den Geschlechtsverkehr mit ihm verweigert und schließlich sogar ein Kind von Ulrich wünscht. Die Nietzsche-Verehrerin schwelgt für den Wahnsinn und ist selbst offenbar geistig nicht „normal“. Sie steht unter dem Einfluss des Lebensphilosophen Meingast, dessen Vorbild Ludwig Klages war.
Seite „Der Mann ohne Eigenschaften“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 29. Dezember 2013, 14:24 UTC. URL:http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Der_Mann_ohne_Eigenschaften&oldid=125905415 (Abgerufen: 30. Dezember 2013, 13:55 UTC)




26 Dezember 2013

Das Prinzip des unzureichenden Grundes

In diesem Augenblick wurde Ulrich durch einen Bekannten unterbrochen, der ihn unversehens ansprach. Dieser Bekannte hatte am gleichen Tag in seiner Aktenmappe, als er sie morgens vor dem Verlassen der Wohnung öffnete, in einem abseitigen Fach, unangenehm überrascht, ein Rundschreiben des Grafen Leinsdorf entdeckt, das er schon des längeren zu beantworten vergessen hatte, weil sein gesunder Geschäftssinn vaterländischen Aktionen, die von hohen Kreisen ausgingen, abhold war. »Faule Sache« hatte er wohl seinerzeit zu sich gesagt; beileibe sollte es das nicht sein, was er darüber öffentlich gesagt haben wollte, aber da, wie Gedächtnisse schon einmal sind, hatte ihm das seine einen üblen Streich gespielt, indem es sich nach dem gefühlhaften ersten inoffiziellen Auftrag richtete und die Sache nachlässig fallen ließ, statt die überlegte Entscheidung abzuwarten. Und deshalb stand in der Zuschrift, als er sie wieder öffnete, etwas, das ihm äußerst peinlich war, obgleich er es früher gar nicht beachtet hatte; es war eigentlich nur ein Ausdruck, zwei kleine Worte waren es, die sich in dem Sendschreiben an den verschiedensten Stellen wiederfanden, aber dieses Wortpaar hatte den stattlichen Mann, mit seiner Mappe in der Hand, vor dem Fortgehn mehrere Minuten Unentschlossenheit gekostet, und es hieß: der wahre.
Direktor Fischel – denn so hieß er, Direktor Leo Fischel von der Lloyd-Bank, eigentlich nur Prokurist mit dem Titel Direktor, – Ulrich durfte sich seinen jüngeren Freund aus früheren Zeiten nennen und war bei seinem letzten Aufenthalt mit seiner Tochter Gerda recht befreundet gewesen, hatte sie aber seit seiner Rückkehr nur ein einzigesmal besucht – Direktor Fischel kannte Se. Erlaucht als einen Mann, der sein Geld arbeiten ließ und mit den Methoden der Zeit Schritt hielt, ja er »erkannte ihn«, wie der Geschäftsausdruck lautet, in dem Augenblick, wo er die Eintragungen in seinem Gedächtnis prüfte, »für« einen Mann von großer Wichtigkeit, denn die Lloyd-Bank war eines jener Institute, durch die Graf Leinsdorf seine Börsenaufträge besorgen ließ. Leo Fischel konnte darum die Nachlässigkeit nicht begreifen, mit der er eine so bewegliche Einladung behandelt hatte, wie es die war, in der Se. Erlaucht einen auserlesenen Kreis von Menschen aufforderte, sich zu einem großen und gemeinsamen Werk bereit zu halten. Er selbst war eigentlich nur durch ganz besondere, später zu erwähnende Umstände in diesen Kreis einbezogen worden und alles das war der Grund, warum er, Ulrichs kaum ansichtig geworden, sich auf ihn gestürzt hatte; er hatte erfahren, daß Ulrich mit der Sache, und noch dazu in »prominenter Weise«, zu tun habe, – was eine jener unbegreiflichen, aber nicht seltenen Gerüchtsbildungen war, die das Richtige treffen, ehe es noch richtig ist, – und setzte ihm nun wie ein Terzerol die drei Fragen vor die Brust, was er sich eigentlich unter »wahrer Vaterlandsliebe«, »wahrem Fortschritt« und »wahrem Österreich« vorstelle?
Dieser, aus seiner Stimmung aufgeschreckt und doch diese fortsetzend, antwortete in der Art, wie er mit Fischel immer verkehrt hatte: »Das PDUG.«
»Das –?« Direktor Fischel buchstabierte es harmlos nach und dachte diesmal an keinen Scherz, denn solche Abkürzungen, obgleich sie damals noch nicht so zahlreich waren wie heute, kannte man von Kartellen und Spitzenverbänden, und sie strömten Vertrauen aus. Aber dann sagte er doch: »Machen Sie, bitte, keine Witze; ich bin in Eile und muß zu einer Sitzung.«
»Das Prinzip des unzureichenden Grundes!« wiederholte Ulrich. »Sie sind doch Philosoph und werden wissen, was man unter dem Prinzip des zureichenden Grundes versteht. Nur bei sich selbst macht der Mensch davon eine Ausnahme; in unserem wirklichen, ich meine damit unserem persönlichen Leben und in unserem öffentlich-geschichtlichen geschieht immer das, was eigentlich keinen rechten Grund hat.«
Leo Fischel schwankte, ob er widersprechen solle oder nicht; Direktor Leo Fischel von der Lloyd-Bank philosophierte gern, es gibt noch solche Menschen in den praktischen Berufen, aber er war wirklich in Eile; darum erwiderte er: »Sie wollen mich nicht verstehn. Ich weiß, was Fortschritt ist, ich weiß was Österreich ist, und ich weiß wahrscheinlich auch, was Vaterlandsliebe ist. Aber vielleicht vermag ich mir, was wahre Vaterlandsliebe, wahres Österreich und wahrer Fortschritt ist, nicht ganz richtig vorzustellen. Und um das frage ich Sie!«
»Gut; wissen Sie, was ein Enzym oder was ein Katalysator ist?«
Leo Fischel hob nur abwehrend die Hand.
»Das trägt materiell nichts bei, aber es setzt die Geschehnisse in Gang. Sie müssen aus der Geschichte wissen, daß es den wahren Glauben, die wahre Sittlichkeit und die wahre Philosophie niemals gegeben hat; dennoch haben die Kriege, Gemeinheiten und Gehässigkeiten, die ihretwegen entfesselt worden sind, die Welt fruchtbar umgestaltet.«
»Ein andermal!« beteuerte Fischel und versuchte, den Aufrichtigen zu spielen. »Hören Sie einfach, ich habe damit an der Börse zu tun und möchte wirklich gerne die eigentlichen Absichten des Grafen Leinsdorf kennen; worauf hat er es mit diesem Zusatz ›wahr‹ abgesehen?«
»Ich schwöre Ihnen,« erwiderte Ulrich ernst »daß weder ich noch irgend jemand weiß, was der, die, das Wahre ist; aber ich kann Ihnen versichern, daß es im Begriff steht, verwirklicht zu werden!«
»Sie sind ein Zyniker!« erklärte Direktor Fischel und eilte davon, war aber nach dem ersten Schritt noch einmal umgekehrt und hatte sich verbessert: »Ich habe erst unlängst zu Gerda gesagt, daß Sie einen großartigen Diplomaten hätten abgeben können. Ich hoffe, Sie besuchen uns bald wieder.«

Dank des genannten Prinzips besteht die Parallelaktion greifbar, ehe man weiß, was sie ist

Direktor Leo Fischel von der Lloyd-Bank glaubte, wie es alle Bankdirektoren vor dem Kriege taten, an den Fortschritt. Als ein Mann, der in seinem Fach tüchtig war, wußte er natürlich, daß man nur dort, wo man sich wirklich sehr genau auskennt, eine Überzeugung haben kann, auf die man selbst setzen möchte; die ungeheure Ausbreitung der Tätigkeiten läßt ihre Bildung anderswo nicht zu. Darum haben die tüchtigen und arbeitsamen Menschen, außer auf ihrem engsten Fachgebiet, keine Überzeugung, die sie nicht sofort preisgeben würden, wenn sie einen äußeren Druck dagegen spüren; man könnte geradezu sagen, sie sehen sich aus Gewissenhaftigkeit gezwungen, anders zu handeln, als sie denken. Direktor Fischel zum Beispiel stellte sich unter wahrer Vaterlandsliebe und wahrem Österreich überhaupt nichts vor, vom wahren Fortschritt dagegen hatte er eine persönliche Meinung, und diese war gewiß anders als die des Grafen Leinsdorf; aufgebraucht von Lombarden und Effekten oder was immer er unter sich hatte, einmal jede Woche einen Sitz in der Oper als einzige Erholung, glaubte er an einen Fortschritt des Ganzen, der irgendwie dem Bild der fortschreitenden Rentabilität seiner Bank ähneln mußte. Aber als Graf Leinsdorf auch das besser zu wissen vorgab und auf das Gewissen Leo Fischels zu wirken begann, fühlte dieser, »daß man doch nie wissen könne« (außer eben in Lombarden und Effekten), und da man zwar nicht weiß, es aber andererseits auch nicht verfehlen möchte, nahm er sich vor, bei seinem Generaldirektor ganz nebenbei anzufragen, was dieser von der Angelegenheit halte.
Als er das aber tat, hatte der Generaldirektor aus ganz ähnlichen Gründen darüber schon mit dem Gouverneur der Staatsbank gesprochen und war voll im Bilde. Denn nicht nur der Generaldirektor der Lloyd-, sondern selbstverständlich auch der Gouverneur der Staatsbank hatte vom Grafen Leinsdorf eine Einladung erhalten, und Leo Fischel, der nur ein Abteilungsleiter war, verdankte die seine überhaupt bloß den Familienbeziehungen seiner Frau, die aus der hohen Bürokratie stammte und diesen Zusammenhang niemals vergaß, weder in ihren gesellschaftlichen Beziehungen noch in ihren häuslichen Streitigkeiten mit Leo. Deshalb begnügte er sich, als er mit seinem Vorgesetzten von der Parallelaktion sprach, vielsagend den Kopf zu wiegen, was »große Sache« hieß, dereinst aber auch »faule Sache« geheißen haben konnte; das mochte unter keinen Umständen schaden, aber wegen seiner Frau hätte es Fischel wohl mehr gefreut, wenn sich die Sache als faul herausgestellt hätte.
Vorläufig hatte v. Meier-Ballot, der Gouverneur, der vom Generaldirektor zu Rate gezogen worden, jedoch selbst den besten Eindruck. Als er die »Anregung« des Grafen Leinsdorf empfing, trat er vor den Spiegel – natürlich, wenn auch nicht deshalb – und es blickte ihm daraus über Frack und Ordenskettchen das wohlgeordnete Gesicht eines bürgerlichen Ministers entgegen, in dem sich von der Härte des Gelds höchstens ganz hinten in den Augen noch etwas hielt, und seine Finger hingen wie Fahnen in der Windstille von seinen Händen herab, als hätten sie nie im Leben die hastigen Rechenbewegungen eines Banklehrlings ausführen müssen. Dieser bürokratisch überzüchtete Hochfinanzier, der mit den hungrigen, frei streifenden wilden Hunden des Börsenspiels kaum noch etwas gemeinsam hatte, sah unbestimmte, aber angenehm temperierte Möglichkeiten vor sich und hatte noch am gleichen Abend Gelegenheit, sich in dieser Auffassung zu bestärken, da er im Industriellenklub mit den früheren Ministern von Holtzkopf und Baron Wisnieczky sprach. [...]
Möglich wäre es immerhin, daß Holtzkopf und Wisnieczky als Männer, die in öffentlichen Geschäften Kenntnis und Erfahrung besaßen, mancherlei Bedenken empfunden hatten, zumal sie annehmen durften, daß sie selbst zu irgendeiner Rolle in der weiteren Entwicklung dieser Aktion ausersehen seien. Aber Menschen ebener Erde haben es leicht, kritisch zu sein und etwas abzulehnen, das ihnen nicht paßt; wenn man sich jedoch in seiner Lebensgondel dreitausend Meter hoch befindet, so steigt man nicht einfach aus, auch wenn man nicht mit allem einverstanden sein sollte. Und da man in diesen Kreisen wirklich loyal ist und, in Gegensatz zum vorhin erwähnten bürgerlichen Lebensgedränge, nicht gerne anders handeln will, als man denkt, so muß man sich in vielen Fällen damit begnügen, nicht allzu eingehend über eine Sache nachzudenken. Der Gouverneur v. Meier-Ballot wurde darum in seinem günstigen Eindruck von der Sache durch die Ausführungen der beiden Herrn noch bestärkt; und wenn er auch für seine Person und durch seinen Beruf zu einer gewissen Vorsicht neigte, so reichte das Gehörte doch zu der Entscheidung hin, daß man es mit einer Angelegenheit zu tun habe, deren weiterer Entwicklung man – sowohl jedenfalls wie abwartend – beiwohnen werde.
Indes bestand die Parallelaktion eigentlich damals noch gar nicht, und worin sie bestehen werde, wußte selbst Graf Leinsdorf noch nicht. Wie sich mit Sicherheit sagen läßt, war das einzige Bestimmte, was ihm bis zu jenem Zeitpunkt eingefallen war, eine Reihe von Namen.
Aber auch das ist ungemein viel. Denn so bestand in diesem Zeitpunkt, ohne daß irgend jemand eine sachliche Vorstellung zu haben brauchte, schon ein Netz von Bereitschaft, das einen großen Zusammenhang umspannte; und man darf wohl behaupten, daß dies die richtige Reihenfolge ist. Denn erst mußten Messer und Gabel erfunden werden, und dann lernte die Menschheit anständig essen; so erklärte es Graf Leinsdorf.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Teil I, Kapitel 35-36

25 Dezember 2013

Erbanlagen oder Umwelt

Was Goethe in den Urworten orphisch als Dämon und Zufall beschreibt, wir als Erbanlagen und Sozialisation, fasst Musil in diesem Text aus dem "Mann ohne Eigenschaften" in das Bild von Fliege und Fliegenfänger:

Im Grunde wissen in den Jahren der Lebensmitte wenig Menschen mehr, wie sie eigentlich zu sich selbst gekommen sind, zu ihren Vergnügungen, ihrer Weltanschauung, ihrer Frau, ihrem Charakter, Beruf und ihren Erfolgen, aber sie haben das Gefühl, daß sich nun nicht mehr viel ändern kann. Es ließe sich sogar behaupten, daß sie betrogen worden seien, denn man kann nirgends einen zureichenden Grund dafür entdecken, daß alles gerade so kam, wie es gekommen ist; es hätte auch anders kommen können; die Ereignisse sind ja zum wenigsten von ihnen selbst ausgegangen, meistens hingen sie von allerhand Umständen ab, von der Laune, dem Leben, dem Tod ganz anderer Menschen, und sind gleichsam bloß im gegebenen Zeitpunkt auf sie zugeeilt.
So lag in der Jugend das Leben noch wie ein unerschöpflicher Morgen vor ihnen, nach allen Seiten voll von Möglichkeiten und Nichts, und schon am Mittag ist mit einemmal etwas da, das beanspruchen darf, nun ihr Leben zu sein, und das ist im ganzen doch so überraschend, wie wenn eines Tags plötzlich ein Mensch dasitzt, mit dem man zwanzig Jahre lang korrespondiert hat, ohne ihn zu kennen, und man hat ihn sich ganz anders vorgestellt. Noch viel sonderbarer aber ist es, daß die meisten Menschen das gar nicht bemerken; sie adoptieren den Mann, der zu ihnen gekommen ist, dessen Leben sich in sie eingelebt hat, seine Erlebnisse erscheinen ihnen jetzt als der Ausdruck ihrer Eigenschaften, und sein Schicksal ist ihr Verdienst oder Unglück. Es ist etwas mit ihnen umgegangen wie ein Fliegenpapier mit einer Fliege, es hat sie da an einem Härchen, dort in ihrer Bewegung festgehalten und hat sie allmählich eingewickelt, bis sie in einem dicken Überzug begraben liegen, der ihrer ursprünglichen Form nur ganz entfernt entspricht. Und sie denken dann nur noch unklar an die Jugend, wo etwas wie eine Gegenkraft in ihnen gewesen ist.
Diese andere Kraft zerrt und schwirrt, sie will nirgends bleiben und löst einen Sturm von ziellosen Fluchtbewegungen aus; der Spott der Jugend, ihre Auflehnung gegen das Bestehende, die Bereitschaft der Jugend zu allem, was heroisch ist, zu Selbstaufopferung und Verbrechen, ihr feuriger Ernst und ihre Unbeständigkeit, – alles das bedeutet nichts als ihre Fluchtbewegungen. Im Grunde drücken diese bloß aus, daß nichts von allem, was der junge Mensch unternimmt, aus dem Innern heraus notwendig und eindeutig erscheint, wenn sie es auch in der Weise ausdrücken, als ob alles, worauf er sich gerade stürzt, überaus unaufschiebbar und notwendig wäre. Irgend jemand erfindet einen schönen neuen Gestus, einen äußeren oder einen inneren – Wie übersetzt man das? Eine Lebensgebärde? Eine Form, in die das Innere strömt wie das Gas in einen Glasballon? Einen Ausdruck des Indrucks? Eine Technik des Seins? Es kann ein neuer Schnurrbart sein oder ein neuer Gedanke. Es ist Schauspielerei, aber hat wie alle Schauspielerei natürlich einen Sinn – und augenblicklich stürzen, wie die Spatzen von den Dächern, wenn man Futter streut, die jungen Seelen darauf zu.
Man braucht es sich ja bloß vorzustellen: wenn außen eine schwere Welt auf Zunge, Händen und Augen liegt, der erkaltete Mond aus Erde, Häusern, Sitten, Bildern und Büchern, – und innen ist nichts wie ein haltlos beweglicher Nebel: welches Glück es bedeuten muß, sobald einer einen Ausdruck vormacht, in dem man sich selbst zu erkennen vermeint. Ist irgend etwas natürlicher, als daß jeder leidenschaftliche Mensch sich noch vor den gewöhnlichen Menschen dieser neuen Form bemächtigt?! Sie schenkt ihm den Augenblick des Seins, des Spannungsgleichgewichtes zwischen innen und außen, zwischen Zerpreßtwerden und Zerfliegen.
Auf nichts anderem beruht – dachte Ulrich, und natürlich berührte ihn alles das auch persönlich; er hatte die Hände in den Taschen, und sein Gesicht sah so still und schlafend glücklich aus, als stürbe er in den Sonnenstrahlen, die hineinwirbelten, einen milden Erfrierungstod – auf nichts anderem, dachte er, beruht also auch die immerwährende Erscheinung, die man neue Generation, Väter und Söhne, geistige Umwälzung, Stilwechsel, Entwicklung, Mode und Erneuerung nennt. Was diese Renoviersucht des Daseins zu einem Perpetuum mobile macht, ist nichts als das Ungemach, daß zwischen dem nebelhaften eigenen und dem schon zur fremden Schale erstarrten Ich der Vorgänger wieder nur ein Schein-Ich, eine ungefähr passende Gruppenseele eingeschoben wird. Und wenn man bloß ein bißchen achtgibt, kann man wohl immer in der soeben eingetroffenen letzten Zukunft schon die kommende Alte Zeit sehen. Die neuen Ideen sind dann bloß um dreißig Jahre älter, aber befriedigt und ein wenig fettüberpolstert oder überlebt, so ähnlich wie man neben den schimmernden Gesichtszügen eines Mädchens das erloschene Gesicht der Mutter erblickt; oder sie haben keinen Erfolg gehabt, sind abgezehrt und zu einem Reformvorschlag eingeschrumpft, den ein alter Narr verficht, der von seinen fünfzig Bewunderern der große Soundso genannt wird.
Er blieb nun wieder stehen, diesmal auf einem Platz, wo er einige Häuser erkannte und sich an die öffentlichen Kämpfe und geistigen Aufregungen erinnerte, die ihr Entstehen begleitet hatten. Er gedachte seiner Jugendfreunde; alle waren sie seine Jugendfreunde gewesen, ob er sie persönlich kannte oder nur dem Namen nach, ob sie so alt waren wie er oder älter, die Rebellen, die neue Dinge und Menschen auf die Welt bringen wollten, und ob das hier war oder über alle Orte verstreut, die er kennengelernt hatte. Jetzt standen diese Häuser wie brave Tanten mit altmodischen Hüten in dem Spätnachmittagslicht, das schon zu verblassen begann, ganz nett und belanglos und alles andere eher als aufregend. Es lockte, zu lächeln. Aber die Leute, die diese anspruchslos gewordenen Reste zurückgelassen hatten, waren inzwischen Professoren, Berühmtheiten und Namen, ein bekannter Teil der bekannten fortschrittlichen Entwicklung geworden, sie waren auf einem mehr oder weniger kurzen Weg aus dem Nebel ins Erstarren gelangt, und deshalb wird die Geschichte von ihnen gelegentlich der Schilderung ihres Jahrhunderts einst melden: Anwesend waren...
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, 1. Teil 34. Kapitel: Ein heißer Strahl und erkaltete Wände

05 Dezember 2013

Cäsarenwahnsinn

Was Pest und Krieg verdarben, ist wenig gegen die verhängnisvolle Verwüstung der Völker, welche durch dies besondere Leiden der Herrscher angerichtet wurde. Denn diese Krankheit, welche noch lange nach Tacitus unter den römischen Imperatoren wütete, ist kein Leiden, welches auf das alte Rom beschränkt war, sie ist zuverlässig so alt, wie die Despotien des Menschengeschlechts, sie befiel auch später in den christlichen Staaten zahlreiche Herrscher, sie brachte in jeder Zeit anders geformte, groteske Gestalten hervor, sie war durch Jahrtausende der Wurm, welcher, in der Hirnschale eingeschlossen, das Mark des Hauptes verzehrte, das Urteil vernichtete, die sittlichen Empfindungen zerfraß, bis zuletzt nichts übrigblieb als der hohle Schein des Lebens. Zuweilen wurde es Wahnsinn, den auch der Arzt nachweisen kann, aber in zahlreichen anderen Fällen hörte die bürgerliche Zurechnungsfähigkeit nicht auf und der geheime Schaden barg sich sorgfältig. Es gab Zeiträume, wo nur einzelne festgefügte Seelen sich billige Gesundheit bewahrten, und wieder andere Jahrhunderte, wo ein frischer Luftzug aus dem Volke die Häupter, welche das Diadem trugen, frei erhielt. Ich bin überzeugt, wer den Beruf hat, die Zustände späterer Zeit genau zu untersuchen, wird im Grunde denselben Verlauf der Krankheit selbst noch in den milderen Formen unserer Bildung erkennen. Meinem Leben liegen diese Beobachtungen fern, auch zeigt der römische Staat allerdings die abenteuerlichsten Formen der Krankheit, denn dort sind die größten Verhältnisse und eine so mächtige Entfaltung der Menschennatur in Tugend und Verkehrtheit, wie seitdem selten in der Geschichte.«
»Den Herren Gelehrten aber macht das besondere Freude, diese Leiden früherer Herrscher ans Licht zu stellen?« fragte der Fürst.
»Sie sind gewiß lehrreich für alle Zeiten,« fuhr der Professor sicher fort, »denn sie prägen durch furchtbare Beispiele die Wahrheit ein, daß der Mann, je höher er steht, um so stärkere Schranken nötig hat, welche die Willkür seines Wesens bändigen. Ew. Hoheit freies Urteil und reiche Erfahrung werden schärfer als jemand aus meinem Lebenskreise beobachten, daß diese Krankheitserscheinungen sich stets da zeigen, wo der Regierende weniger zu scheuen und zu ehren hat als ein anderer Sterblicher. Was den Menschen in gewöhnlicher Lage gesund erhält, ist doch nur, daß ihm eine strenge und unablässige Kontrolle seines Lebens in jedem Augenblick fühlbar wird, seine Freunde, das Gesetz, die Interessen anderer umgeben ihn von allen Seiten, sie fordern gebieterisch, daß er Denken und Wollen der Ordnung füge, durch welche andere ihr Gedeihen sichern. Zu jeder Zeit ist die Gewalt dieser Fesseln bei dem Regenten minder stark; was ihn einengt, vermag er leichter niederzuwerfen, eine ungnädige Handbewegung scheucht den Warnenden für immer von seiner Seite, vom Morgen bis zum Abend ist er mit Personen umgeben, welche ihm bequem sind, ihn mahnt kein Freund an seine Pflicht, ihn straft kein Gesetz. Hundert Beispiele lehren, daß frühere Herrscher selbst bei großen äußeren Erfolgen an innerer Verwüstung litten, wo nicht eine starke öffentliche Meinung und kräftige Teilnahme des Volkes am Staat sie unablässig zwang, sich selbst zu behüten. Es liegt nahe, an die riesengroße Kraft eines Feldherrn und Eroberers zu denken, den die Erfolge und Siege des eigenen Lebens ins Wüste und Maßlose getrieben haben, er war ein furchtbarer Phantast geworden, Lügner gegen sich selbst, Lügner gegen die Welt, bevor er gestürzt wurde, und lange bevor er starb. Doch dergleichen zu untersuchen, ist, wie gesagt, nicht mein Beruf.«
»Nein,« sagte der Fürst tonlos.
»Die entfernte Zeit,« begann der Obersthofmeister, »welche Sie im Auge haben, war aber nicht nur für die Regenten, auch für die Völker eine traurige Epoche. Wenn mir recht ist, war das Gefühl des Absterbens allgemein, auch bewunderte Schriftsteller taugten nicht viel, mir wenigstens sind solche Männer wie Apulejus und Lucian als eitle und kläglich gemeine Menschen erschienen.«
Der Professor sah überrascht auf den Hofmann.
»In meiner Jugend las man dergleichen häufiger,« fuhr dieser fort. »Ich verdenke den Besseren jener Zeit nicht, wenn sie sich mit Widerwillen von solchem Treiben abwandten und sich in das engste Privatleben oder in die Thebanische Wüste zurückzogen. Deshalb, wenn Sie von einer Krankheit der römischen Imperatoren sprechen, möchte ich entgegnen, daß sie nur Folge einer ungeheuern Erkrankung der Völker ist, obgleich ich sehr wohl einsehe, daß sich während diesem Verderb der einzelnen ein großer Fortschritt des Menschengeschlechts vollzogen hat, die Befreiung der Völker aus abschließendem Volkstum zu einer Kultureinheit, und der neue Idealismus, welcher durch das Christentum auf die Erde kam.«
»Zuverlässig ist die Form des Staates und die Form der Bildung, welche die einzelnen Kaiser vorfanden, entscheidend für ihr Leben gewesen. Jedermann ist in diesem Sinne Kind seiner Zeit, und wenn es gilt, das Maß ihrer Schuld zu bestimmen, dann wird vorsichtiges Abwägen ziemen. Aber was ich die Ehre hatte, Sr. Hoheit als besonderen Vorzug des Tacitus anzuführen, ist auch nur die Meisterschaft, mit welcher er die eigentümlichen Symptome und den Verlauf des Zäsarenwahnsinns schildert.«
»Sie waren alle wahnsinnig,« unterbrach der Fürst mit heiserer Stimme.
»Verzeihung, gnädiger Herr,« entgegnete der Professor arglos. »Augustus wurde auf dem Throne ein besserer Mann, und nach der Zeit, in welcher Tacitus schrieb, haben noch manche gute und maßvolle Herrscher gelebt. Etwas von dem Fluch, welchen übel beschränkte Macht auf die Seelen ausübte, mag an der Mehrheit der römischen Kaiser erkennbar sein. In den besseren aber lag er wie eine Kränklichkeit, welche, nur selten bemerkbar, immer wieder durch Tüchtigkeit oder gute Natur gebändigt wurde. Eine Anzahl freilich verdarb durchaus, und in ihnen entwickelte sich die Krankheit nach einer bestimmten Stufenfolge, deren innere Gesetzlichkeit wir wohl begreifen.«
»Sie wissen also auch, wie den Leuten zumute war?« fuhr der Fürst auf, den Professor scheu anblickend.
Der Obersthofmeister trat in eine Fensternische.
»Der Verlauf der Krankheit ist im allgemeinen nicht schwer zu verfolgen,« versetzte der Professor, erfüllt von seinem Gegenstande. »Die Übernahme der Regierung wirkt zunächst erhebend. Der höchste Erdenberuf steigert auch beschränkte Menschen wie den Claudius, verdorbene Buben wie den Caligula, Nero und Domitian während der ersten Wochen zu einem gewissen pathetischen Adel. Lebhaft ist das Bestreben, zu gefallen, beflissen die Arbeit, sich durch Gnade festzusetzen; die Scheu vor einflußreichen Persönlichkeiten oder vor dem Widerstreben der Masse zwingt zur Vorsicht. Die Herrschaft aber hat den Menschen zum Sklaven gemacht, und der Sklavensinn trägt eine Verehrung entgegen, welche den Kaiser äußerlich über andere Menschen hinausstellt, er ist von den Göttern besonders begnadigt, ja seine Seele ein Ausfluß der göttlichen Kraft. In dieser knechtischen Unterwürfigkeit aller und der Sicherheit der Herrschaft wuchert bald der Egoismus. Die zufälligen Forderungen eines ungebändigten Willens werden rücksichtslos, die Seele verliert allmählich das Urteil über Bös und Gut, der persönliche Wunsch erscheint dem Regierenden sofort als Bedürfnis des Staates, jede Laune des Augenblicks heischt Befriedigung. Das Mißtrauen gegen Unabhängige führt zu kopflosem Argwohn, wer sich nicht fügt, wird als Feind beseitigt, wer sich geschmeidig anzupassen versteht, ist sicher, eine Herrschaft über den Herrscher auszuüben. Die Familienbande reißen, die nächsten Verwandten werden als geheime Feinde umlauert, der gleißende Schein eines herzlichen Vertrauens wird bewahrt, plötzlich durchbricht eine Missetat den Schleier, mit welchem Heuchelei ein innerlich hohles Verhältnis umzogen hat.«
Der Fürst rückte mühsam seinen Sessel von dem Kaminfeuer in das Dunkel.
Der Professor fuhr eifrig fort: »Die Idee des römischen Staates verliert sich zuletzt ganz aus den Seelen, ja sie wird als feindselig gehaßt, nur persönliche Anhänglichkeit wird gefordert, treue Hingabe an den Staat erscheint als Verbrechen. Diese Hilflosigkeit und das Schwinden des Urteils über die Tüchtigkeit, ja über die wirkliche Ergebenheit der Menschen bezeichnen einen Fortschritt der Krankheit, durch welchen bereits die Zurechnungsfähigkeit beeinträchtigt wird. In dieser Zeit werden die Bildungselemente immer beschränkter und einseitiger, das Wollen immer eitler und kleinlicher. Ein kindisches Wesen wird sichtbar, Freude an elendem Tand und eitlen Possen, daneben eine bubenhafte Tücke, welche zwecklos verdirbt, es wird Genuß, nicht nur zu quälen, auch die Qualen anderer zu schauen, unwiderstehlich wird das Gelüst, Hervorragendes in das Gemeine herabzuziehen, ja auch Gleichgültiges zu vernichten. Sehr merkwürdig ist, wie mit dieser Abnahme der Denkkraft eine unruhige und zerstörende Sinnlichkeit überhandnimmt. Ihre dunkle Gewalt wird übermächtig. Während sonst die Würde des höheren Alters auch dem Schwachen Haltung gibt, verletzt hier das widerliche Bild bejahrter Wüstlinge wie Tiberius und Claudius. In einer schamlosen und raffinierten Hingabe an Lüste wird die letzte Lebenskraft zerstört.«
»Das ist sehr merkwürdig,« wiederholte tonlos der Fürst.
Der Professor schloß: »So vollendet sich der Verderb in vier Stufen, zuerst maßlose Selbstsucht, dann Argwohn und Heuchelei, dann knabenhafte Unvernunft, das letzte tut widerwärtige Ausschweifung.«

G. Freytag: Die verlorene Handschrift, Kapitel 33

Hofleben

Nun, an jedem Privilegium hängt ein alter Fluch, der die meisten trifft, welche daran teilhaben. Das mag auch von den Vorrechten des Hofes gelten. Das Leben unserer Fürsten ist in den Bann bestimmter Kreise eingeschlossen, Anschauung und Vorurteil einer Umgebung, die sie sich nicht frei wählen dürfen, umgibt sie vom ersten Tage ihres Lebens bis zum letzten. Daß sie nicht stärker und freier sind, rührt zum großen Teil von der engen Atmosphäre, in welche sie durch die Etikette gebannt sind. Das ist ein Unglück nicht nur für sie selbst, ist für uns alle ein Leiden, daß unsere Fürsten so häufig die bürgerliche Gesellschaft mit den Augen eines Kammerjunkers betrachten. Diesen Übelstand mag man als Mitlebender schmerzlich fühlen. Und ich meine allerdings, der Kampf, welcher in unserm Vaterlande auf verschiedenen Gebieten entbrannt ist, wird nicht eher mit einem guten Frieden enden, als bis die Gefahren beseitigt sind, welche die alte Hofordnung der Erziehung unserer Fürsten bereitet. [...]
Ich begreife, daß die Arbeit der Gelehrten für jeden, der zu ihrer stillen Gemeinde gehört, einen unwiderstehlichen Reiz ausüben muß.  [...]

die Menschen, von denen ich umgeben bin, auch die guten, sie alle denken und sorgen behaglich um sich selbst und schließen bequeme Verträge zwischen ihrem Pflichtgefühl und ihrem Egoismus. Hier aber erkenne ich eine Selbstlosigkeit und eine unablässige Hingabe des eigenen Daseins an die höchste Arbeit des Menschen.

Gustav Freytag: Die verlorene Handschrift

Felix Werner und Ilse

»Ich will dir erst sagen, weshalb ich frage und was ich von dir wissen möchte. Als ich dich heimführte aus Hof und Flur, da warst du trotz deinem innigen deutschen Empfinden nach meiner Rücksicht eine Gestalt, wie wir uns Nausikaa und Frau Penelope behaglich in ihrer Umgebung ausmalen. Unbefangen nahmst du die Bilder der Welt in dich auf, du standest sicher und stark in festumgrenztem Kreis von Rechten und Pflichten; mit kindlichem Vertrauen holtest du von der Sitte deines Kreises und aus heiligen Sprüchen die Richtschnur für Urteil und Handeln. Deine Liebe zu mir, die Berührung mit anders geformten Seelen, der Einblick in ein neues Gebiet des Wissens erweckten in deinem Innern leidenschaftliche Klänge, die Unsicherheit kam und der Zweifel, neue Gedanken arbeiteten heftig gegen alte Vorstellungen, die Forderungen deines gegenwärtigen Lebens gegen den Inhalt deiner Mädchenjahre. Du warst durch Monate unglücklicher als ich wußte. Jetzt aber bist du in einer Zeit, wo ich mich deiner fröhlichen Ruhe und deines Gedeihens freute, zu einem Verständnis des Menschen vorgedrungen, das mich überrascht. Oft habe ich in den letzten Abenden mit heimlicher Freude gesehen, wie warm deine Teilnahme und wie mild dein Urteil die Charaktere des Dramas begriff. Ich hatte erwartet, daß das Herbe und Ungeheure ihres Schicksals dich zuweilen abstoßen würde, und daß du behend sein würdest in Zuneigung und Abneigung, du aber hast dein Mitgefühl den dunkeln Gestalten gegönnt wie den hellen, als wenn deine Seele selbst unter der Ahnung gezuckt hätte, daß sich im eigenen Leben Gutes in Böses verkehren kann und Segen in Fluch, und als wenn du in dir selbst erfahren hättest, daß der Mensch nicht nur dem äußeren Sittengesetze zu folgen hat, wie erhaben sein Ursprung sei, sondern daß in Stunden der Not noch ein anderes Gebot dazukommen müsse, welches aus der Tiefe der Menschenbrust heraufgeholt wird. [...]
Ich dränge mich nicht in dein Vertrauen, aber ist dir's recht, so gib mir Auskunft, wie ist dir die feine Empfindung für die geheimen Kämpfe solcher Menschen aufgegangen, welche ein tragisches Schicksal fortreißt?« Ilse faßte ihn an der Hand und zog ihn in ihr Zimmer. »Auf dieser Stelle war's,« rief sie. »Ein Fremder fragte mich, ob er sich tödlicher Gefahr aussetzen solle um seiner Ehre willen oder ob er einen andern der Gefahr preisgeben dürfe. Ich hatte ihm ein Recht zu solcher Frage gegeben, denn ich hatte schon früher zu ihm mit größerer Offenheit über sein Leben gesprochen, als für eine vorsichtige Frau klug war.

Gustav Freytag: Die verlorene Handschrift

24 November 2013

Die Vorweihnachtszeit aus der Sicht eines Mannes

Wenn man das Urteil des Herrn Hummel als gemeingültig betrachten darf, ist leider auch den Männern, welche die Ehre eines Hauses zu vertreten haben, die Begeisterung dieser Wochen nicht vollständig entwickelt. 
»Glauben Sie mir, Gabriel,« sagte Herr Hummel an einem Dezemberabend, während er einem Jungen nachblickte, der mit Brummteufeln umging, »in dieser Zeit verliert der Mann seine Bedeutung; er ist nichts als Geldspind, in dem sich der Schlüsselbart vom Morgen bis zum Abend dreht. Die beste Frau wird unverschämt und phantastisch, alles Familienvertrauen schwindet, eines geht scheu an dem andern vorüber, die Hausordnung wird mit Füßen getreten, die Nachtruhe gewissenlos ruiniert; wenn gegessen werden soll, läuft die Frau auf den Markt, wenn die Lampe ausgelöscht werden soll, fängt die Tochter eine neue Stickerei an. Und ist die lange Not ausgestanden, dann soll man sich gar noch freuen über neue Schlafschuhe, welche einen Zoll zu klein sind, und bei denen man später die grobe Schusterrechnung zu bezahlen hat, und über eine Zigarrentasche von Perlen, die platt und hart ist wie eine gedörrte Flunder. Endlich zu allerletzt, nachdem man goldene Funken gespuckt hat wie eine Rakete, fordern die Fragen noch, daß man auch ihnen selbst durch eine Schenkung sein Gemüt erweist. Nun, die meinigen habe ich mir gezogen.« »Ich habe doch auch Sie selbst gesehen,« wandte Gabriel ein, »mit Paket und Schachtel unter dem Arm.« »Dies ist wahr,« versetzte Herr Hummel, »eine Schachtel ist unvermeidlich. Aber, Gabriel, das Denken habe ich mir abgeschafft. Denn das war das Niederträchtige bei der Geschichte. Ich gehe jedes Jahr zu derselben Putzmacherin und sage: ›eine Haube für Madame Hummel.‹ Und die Person sagt: ›zu dienen, Herr Hummel,‹ und die Architektur steht reisefertig vor mir. Ich gehe ferner jedes Jahr zu demselben Kaufmann und sage: ›ein Kleid für meine Tochter Laura, so und so teuer, ein Taler Spielraum nach oben und unten,‹ und das Kleid liegt preiswürdig vor mir. Im Vertrauen, ich habe den Verdacht, daß die Frauen hinter meine Schliche gekommen sind und sich die Sachen vorher selbst aussuchen, denn es ist immer alles sehr nach ihrem Geschmack, während in früheren Jahren Widersetzlichkeit stattfand. Jetzt haben sie die Mühe, den Plunder auszuwählen, und am Abend müssen sie noch heucheln wie die Katzen, auseinanderfalten und anprobieren, sich erstaunt stellen und mein ausgezeichnetes Geschick loben. Das ist meine einzige Genugtuung bei dem ganzen Kindervergnügen. Aber sie ist dürftig, Gabriel.«

Gustav Freytag: Die verlorene Handschrift

20 November 2013

Der stumme Prophet VII - der Revolutionsführer

Nach drei langen Monaten, die ihm wie Jahre erschienen waren, kam er in Kursk wieder mit Berzejew zusammen. »Sooft ich dich wiedersehe«, sagte Berzejew, »erscheinst du mir anders! Das war schon damals so, als wir uns auf der Flucht immer wieder trennen mußten. Man könnte sagen, du veränderst dein Gesicht noch schneller als deinen Namen.« Seit seiner Rückkehr nach Rußland trug Friedrich jenes Pseudonym, unter dem er Artikel in den Zeitungen veröffentlicht hatte. Er gestand es nicht einmal Berzejew, daß er im stillen seinen neuen Namen liebte wie eine Art von Rang, den man sich selbst verleiht. Er liebte ihn als den Ausdruck seiner neuen Existenz. Er liebte die Kleidung, die er jetzt trug, die Wendungen, die in seinem Gehirn und auf seiner Zunge lagen und die er unermüdlich hersagte und niederschrieb; denn er fand eine Wollust gerade in der Wiederholung. Hundertmal schon hatte er vor den Soldaten dasselbe gesagt. Hundertmal schon hatte er in Flugblättern das gleiche geschrieben. Und jedesmal erfuhr er, daß es bestimmte Worte gab, die sich niemals abnutzten und etwa den Glocken glichen, die immer den alten Klang erzeugten, aber auch immer einen neuen Schauder, weil sie so hoch und unerreichbar über den Köpfen der Menschen hängen. Es gab Laute, die nicht von menschlichen Zungen geformt, sondern mitten unter die Tausende von Worten der irdischen Sprache von unbekannten Winden getragen, verweht worden waren aus überweltlichen Sphären. Es gab das Wort »Freiheit«! Ein Wort, so unermeßlich wie der Himmel, so unerreichbar einer menschlichen Hand wie ein Gestirn. Dennoch geschaffen von der Sehnsucht der Menschen, die immer wieder nach ihm griff, und getränkt von dem roten Blut Millionen Toter. Wie viele Male hatte er schon die Phrase »Wir wollen eine neue Welt!« wiederholt. Und immer war die Wendung ebenso neu wie das, was sie ausdrückte. Und immer wieder fiel sie wie ein plötzliches Licht über ein fernes Land. Es gab das Wort »Volk«. Sprach er es vor den Soldaten aus, vor diesen Matrosen und Bauern und Tagelöhnern und Arbeitern, die er für Volk hielt, so war es ihm, als hielte er einem Licht einen Spiegel entgegen, der es verstärkte. Wie hatte er sich damals, als er noch kluge Vorträge vor den jungen Arbeitern hielt, um neue und deutlichere Worte bemüht, und wie wenig gab es eigentlich zu sagen. Wie viele nutzlose Worte zählte die Sprache, solange die wenigen einfachen noch nicht ihr Recht, ihr Maß und ihre Wirklichkeit hatten. Brot war nicht Brot, solange es nicht alle aßen und solange sein Klang von dem des Hungers begleitet wurde wie ein Körper vom Schatten. Man kam mit wenigen Gedanken, ein paar Worten und einer Leidenschaft aus, die keinen Namen hatte. Sie war Haß und Liebe zugleich. Er glaubte, sie in seiner Hand zu halten wie ein Licht, mit dem man leuchtet und mit dem man ein Feuer anzündet. Vertraut war ihm der Mord geworden wie Trinken und Essen. Es gab keine andere Art des Hassens. Vernichten, vernichten! Was die Augen tot sahen, das allein war verschwunden. Erst die Leiche des Feindes war nicht mehr Feind.
(Joseph Roth: Der stumme Prophet, Kapitel 31)

vgl. auch: J.Roth: Hiob

Der stumme Prophet VI - Schweiz

Es war schon Schweizer Boden, über den er jetzt fuhr. Keine kriegerischen Plakate an den Wänden der Bahnhöfe und keine Züge mit Uniformierten mehr. Es war, als käme er unmittelbar aus einer Schlacht, nicht nur aus einem Land, das Krieg führte. Jene friedliche Welt, nach der er sich in Sibirien gesehnt hatte, begann erst hier. Ihm war, als hätte der Frieden ein merkwürdiges und unbekanntes Gesicht und als wäre der Krieg ein selbstverständlicher und natürlicher Zustand gewesen. Während der ganzen Fahrt durch Rußland, Österreich und Deutschland hatte er sich an den Gedanken gewöhnt, daß der sichere Tod in Europa herrsche. Auf einmal, an einer Grenze, begann das gewöhnliche Leben. Es war, wie wenn er an die Grenze eines Regens gekommen wäre und gerade noch hätte sehen dürfen, wie plötzlich die Scheidung zwischen blauem und bewölktem Himmel, nasser und trockener Erde wäre. Auf einmal sah er junge Männer in Zivil, die längst eine Uniform hätten tragen müssen. Auf einmal sah er Männer von Frauen einen ruhigen Abschied nehmen, und er hörte, wie sie einander »Auf Wiedersehn!« sagten. Offenbar waren alle ihres Lebens sicher. [...]
Das ist also das Wesen der Neutralität, sagte er sich. Schon vom Zug aus fühle ich, wie der Krieg nebensächlich wird. Das Bewußtsein, daß soviel Blut fließt, begleitet nicht mehr jeden Gedanken. Ich fange an, die Gleichgültigkeit Gottes zu verstehen. Die Neutralität ist eine Art Gottähnlichkeit. [...]
Kein Zimmer zu kriegen. Deserteure und Pazifisten haben die ganze Schweiz besetzt.« [...]

Ich habe Hilde nicht geschrieben. Ich habe fortwährend an sie gedacht und sie nicht einen Augenblick sehen wollen. Wenn ich mir nicht vorgenommen hätte, um jeden Preis aufrichtig zu sein, sobald ich allein vor diesem Papier sitze, hätte mich die Scham gehindert, hier niederzuschreiben, daß ich vor die Auslage des Photographen gegangen bin, wo die ganze Zeit über ein großes Porträt Hildes ausgestellt war. Es ist nicht mehr da. Ein Oberleutnant, in Farben, hängt jetzt in der Vitrine. [...]

Aber die Dämmerung kam plötzlich, und ein scharfer, kristallener, gleichmäßiger, singender Wind verschärfte die finstere Kälte der langen Nacht und schien den Frost unaufhörlich zu schleifen, damit er noch schneidender und spitzer werde.

(Joseph Roth: Der stumme Prophet, Kapitel 27ff.)

Der stumme Prophet V - Krieg

Offiziere kamen vom Frühstück, mit klirrenden Sporen, gegürteter Taille, mit der kriegerischen Eleganz, die aus dem Offizier ein Muster der Männlichkeit macht und ihm zugleich eine Ähnlichkeit mit weiblichen Mannequins verleiht. Sie wiegten sich in den Hüften, an denen die Pistolen wie Schmuckstücke in Etuis hingen. Die Soldaten in den Straßen grüßten. Und die Offiziere erwiderten lustig und leger. Wie sie so dahingingen, zwischen grüßender Ehrfurcht, stummer Dienstbereitschaft, verliebter Ergebenheit, erinnerten sie an gefeierte Damen der Gesellschaft, die durch einen Ballsaal schreiten. [...]

Frau Tarka hatte lange gut an heimlichen Abtreibungen verdient.
Frau Tarka verlor allmählich ihre Kundschaft. Die Männer rückten ein, die Frauen wurden Pflegerinnen. Sie lernten allmählich vorsichtig sein und Schwangerschaften vermeiden. Es war Übung. Die geschlechtlichen Dinge konnten kein Geheimnis mehr bleiben. Und die Angst der Mädchen vor den Vätern wurde auch mit der Zeit geringer. [...]

Ein paar grauhaarige Männer, die Grünhut mit einem kurzen Schweigen begrüßten, sprachen von der Politik. [...]

Die Mütter der Toten trugen ihren Schmerz wie Generäle ihren goldenen Kragen, und der Tod der Gefallenen wurde eine Art Auszeichnung der Hinterbliebenen. [...]

Er sah Hilde an. Eine leichte Röte, die das Braun ihrer Wangen dunkler machte, verriet, daß sie sich als der Mittelpunkt eines Kreises von Auserlesenen fühlte, die sie anbeteten und die sie selbst verehrte, und Friedrich fragte sich, ob es einen ursächlichen Zusammenhang gab zwischen der Anbetung, die sie genoß, und der Verehrung, die sie zollte.  [...]
Kluge Offiziere hatten sich allmählich daran gewöhnt, Zivilpersonen, denen sie in der ersten Klasse begegneten, für Vorgesetzte zu halten. [...]

Und es regnete, dicht, langsam, eintönig von einem tiefen, dunkelgrauen Himmel aus Blei, der seit der Erschaffung der Welt nicht eine Stunde lang blau gewesen war. Es regnete. In einem leeren und großen Kaffeehaus, an dessen breiten Fensterscheiben patriotische und sprachreinigende Aufschriften klebten wie: »Sag nicht adieu, sondern auf Wiedersehn!« »Sprich nicht mit welscher Zunge!« neben Ansichtskarten mit fettgedruckten Versen von Theodor Körner, nahm Friedrich Platz. Eine Kellnerin brachte ihm einen hellen Kaffee, der an den Rändern rosa schimmerte. [...]

»Haben Sie immer so wenig Passagiere?« fragte er. »Fahrgäste!« verbesserte sie, ohne die Frage zu beantworten. [...]

»Verehrtes gnädiges Fräulein, ich habe nicht die Wahrheit gesprochen, als ich Ihnen erzählte, daß ich in der nächsten Woche einrücken werde. Ich werde nie einrücken. Ich bin unterwegs nach der Schweiz. Ich hatte keine Gelegenheit, Ihnen zu sagen, wie ich über diesen Krieg denke, ich will es auch gar nicht versuchen. Sie kennen genug aus meinem Leben, um zu wissen, daß ich nicht feige bin. Wenn ich Ihnen sage, daß ich nicht einrücken werde, um für Ihren Franz Joseph, die französische Kriegsindustrie, den Zaren, Kaiser Wilhelm zu kämpfen, so geschieht es nicht, weil ich für mein Leben fürchte, sondern weil ich es bewahren will für einen besseren Krieg. Seinen Ausbruch werde ich in der Schweiz abwarten. Er wird ein Krieg gegen die Gesellschaft sein, gegen die Vaterländer, gegen die Dichter und Maler, die bei Ihnen verkehren, gegen die trauten Familien, gegen die falsche Autorität der Väter und den falschen Gehorsam der Kinder, gegen den Fortschritt und gegen Ihre Emanzipation, gegen die Bourgeoisie kurz und gut. Es gibt auch noch andere, die mit mir in diesen Krieg ziehen werden. Aber nicht viele, die ein privates Schicksal so gut für ihn vorbereitet hat. Ich hätte gewiß die Familie gehaßt, auch wenn ich sie gekannt hätte. Ich hätte gewiß einer vaterländischen Phrase mißtraut, auch wenn man mich in Heimatliebe erzogen hätte. Aber meine Überzeugung ist eine Leidenschaft geworden, weil ich das bin, was Sie nach Ihrem Vokabular einen ›Heimatlosen‹ nennen. Ich werde für eine Welt in den Krieg gehn, in dem ich zu Hause sein kann. Ich schreibe Ihnen mein Bekenntnis, weil ich ihm gleich noch ein zweites hinzufügen werde. Ich liebe Sie nämlich. Oder, weil ich den Begriffen mißtraue, die uns das bürgerliche Wörterbuch zur Verfügung stellt, und den Worten, die Ihre Gesellschaft so oft mißbraucht hat: Ich glaube, Sie zu lieben. Als ich Sie zum erstenmal im Wagen sah, waren Sie gewissermaßen noch ein Bestandteil des Ziels, das ich noch nicht genau kannte, aber mir trotzdem gesetzt hatte. Sie gehörten zu den Zielen, denen ich zustrebte. Ich wollte die Macht innerhalb der Gesellschaft erobern, der Sie angehören. Früher, als ich damals gedacht hätte, hat sich mir die Ohnmacht dieser Gesellschaft enthüllt. Selbst wenn ich nicht die Überzeugung hätte, daß man eine schlechte Welt vernichten muß, selbst wenn ich nur Egoist wäre sozusagen, könnte ich mich nicht mehr um eine Macht bemühen, die eine Fiktion wäre. Obwohl ich also heute ein anderes Ziel habe als jenes, dessen Teil Sie mir einmal zu sein schienen, habe ich doch nie aufgehört, an Sie zu denken. Ich möchte Sie vergessen und hatte auch Gelegenheit genug dazu. Daß ich es aber nicht kann, scheint mir ein Beweis dafür zu sein, daß ich Sie liebe. Ich müßte also eigentlich trachten, Sie zu gewinnen. Aber dann müßte sich vorher einer von uns zum andern bekehren. Und das ist unmöglich. Ich will daher, wie man sagt, auf Sie verzichten. Ich gestehe, daß ich es Ihnen in der sehr vagen Hoffnung mitteile, Sie könnten mir einmal Gelegenheit geben, nicht den Verzicht überflüssig zu finden, aber wenigstens ihn zu bereuen. Und in dieser so unbestimmten und dennoch so tröstlichen Hoffnung küsse ich Ihre Hände, nach denen ich mich sehne. Leben Sie wohl! Ihr Friedrich«
(J. Roth: Der stumme Prophet, Kapitel 23-27)

18 November 2013

Der stumme Prophet IV - Flucht

»Ich muß fliehen«, sagt Friedrich.
»Unmöglich jetzt, wir werden frei.«
»Verlaß dich auf mich, ich denke jeden Tag daran.«
In diesem Augenblick stößt Lion hastig die Türe auf. Er schwingt eine Zeitung.
Der österreichische Thronfolger ist erschossen. [...]
Sie fürchteten die Aufmerksamkeit der Spitzel eher auf sich zu lenken, wenn sie zusammenblieben. Sie beschlossen also, sich für einige Tage zu trennen, sich dann wieder zu treffen und in Etappen die Reise bis zur ersten größeren Stadt zurückzulegen. Der früher Angekommene sollte auf den anderen warten. Der später Angekommene später wegfahren. Fing man einen von ihnen, so wußte der andere, daß er sich vorläufig nicht zeigen dürfe. Sie waren jeden Augenblick bereit, der Polizei in die Arme zu fallen. Aber jeder von den beiden zitterte mehr um den andern als um sich. Die beständige Sorge befestigte ihre Freundschaft mehr, als wenn sie jede Gefahr gemeinsam hätten bestehen müssen, und schenkte ihnen der Reihe nach alle Arten und Grade der Liebe, die das Verhältnis der Freundschaft bestimmten: Sie wurden einander Väter, Brüder und Kinder. Immer, wenn sie sich nach einigen Tagen trafen, fielen sie sich in die Arme, küßten sich und lachten. Auch wenn keinem von ihnen unterwegs eine wirkliche Gefahr begegnet war, so blieb jeder doch von den Gefahren erschüttert, von denen er sich eingebildet hatte, daß sie den andern bedrohen. Und obwohl ihre Trennung den Zweck hatte, wenigstens einen vor der Verhaftung zu bewahren, nahmen sich doch beide im stillen vor, sich freiwillig zu stellen, wenn dem anderen etwas zustoßen sollte. [...]
Die Radikalen fielen den Konservativen in die Arme, und wie immer, wenn fremde Menschen sich in einer Gefahr verbinden und Gegner sich versöhnen, glaubte man auch damals an eine wunderbare Wiedergeburt des Landes, weil den Menschen das Wunder einer Verbrüderung genügt, damit sie an ein noch unwahrscheinlicheres glauben. So vertraut ist der menschlichen Natur die Feindschaft und so fremd die Versöhnung. [...]
»Wie rätselhaft«, sagte Friedrich zu Berzejew, als sie in ihrem Hotelzimmer saßen, »daß die einzelnen, aus denen doch die Masse gebildet ist, ihre Eigenschaften aufgeben, selbst ihre primären Instinkte verlieren. Der einzelne liebt sein Leben und fürchtet den Tod. Zusammen werfen sie das Leben weg und verachten den Tod. Der einzelne will nicht zum Militär gehn und Steuern zahlen. Zusammen rücken sie freiwillig ein und leeren ihre Taschen aus. Und das eine ist so echt wie das andere.«
(Joseph Roth: Der stumme Prophet, Kapitel 20, 22)

17 November 2013

Nachruf auf Doris Lessing


Doris Lessing, gefeiert als Feministin, lange Zeit für den Kommunismus aufgeschlossen, war sie sehr selbständig in ihrem Urteil und setzte sich vom Kommunismus ab. Werke einer visionären Science Fiction und doch sehr matter of fact.
Mir gefiel der zweite Teil ihrer Autobiographie (Schritte im Schatten), uneitel, selbstkritisch, selbstbewusst:
Unerbittlich wird die Frage gestellt, warum die Suche nach dem privaten Glück und das Mitleid mit den Erniedrigten und Beleidigten über mehr als ein Jahrzehnt hinweg mit dem Glauben an die welterlösende Mission der Arbeiterklasse verschmolzen.
In der Analyse privater Illusionen entzaubert Doris Lessing das "Gralsrittertum" verblendeter Intellektueller und beschreibt mit unerhörter Genauigkeit die Spannungen, die biographischen Konstellationen und den Zusammenhalt eines zugleich literarischen und politischen Milieus. Es bot im Schatten des Kalten Krieges und im Vertrauen auf die Sowjetunion den "Dogmatismus" und die Lebenswärme einer säkularen Religionsgemeinschaft. In ihr schien die Grenze von Wahrheit und Lüge klar abgesteckt, und selbst noch das verlorenste Individuum konnte sich mit dem Mantel des linken Weltgeistes umhüllen. Es war ein Milieu, das, wie vorgeführt wird, nicht nur den Heuchlern und den Zynikern der Macht, nicht nur den pubertierenden Dauerprotestlern, sondern auch manchem gebildeten Idealisten und vielen Opfern schlimmer Verhältnisse Halt und Heimat bot. [...] Im atmosphärischen Kolorit ihrer Schilderungen, die alle Nöte der Häuslichkeit, alle Ängste vor der Schreibmaschine, alle Merkwürdigkeiten nächtlicher Streifzüge und auch die Phasen alkoholisierter Verzweiflung noch einmal aufleben lassen, schließen sich diese Erinnerungen an die "Dokumentation" an, die 1986 unter dem Titel "Auf der Suche" in deutscher Übersetzung erschien. (FAZ, 4.11.97)
Die Rezension der FAZ trifft recht genau, was auch ich in Erinnerung habe, auch im Verhältnis zu ihrer Mutter und in ihrer kritischen Sicht auf ihre eigene Rolle als Mutter. - Zu hart war die Selbständigkeit erkämpft und zu sehr sah sie sich auf ihre Schriftstellerei als finanzielle und selbstidentifikatorische Basis angewiesen, um ihre Ansprüche an ihre Mutterrolle erfüllen zu können.
Sie ist eine Schriftstellerin, deren Werk mir zu großen Teilen fremd bleibt, für die ich aber eine tiefe Sympathie empfinde.

Der stumme Prophet III - Die Verbannung

Ein kleiner, rundlicher Mann mit einem schwarzen Bärtchen stand plötzlich neben Friedrich. »Schöne Nacht«, sagte er, »nicht wahr?« »Ja«, sagte Friedrich, »eine schöne Nacht.« »Ich verhafte Sie, mein lieber Kargan«, sagte der Mann freundlich. Er hatte eine rundliche, weiße, fast weibliche Hand mit kurzen Fingern. »Pascholl!« kommandierte er. Zwei Männer, die plötzlich zum Vorschein kamen, nahmen Friedrich in die Mitte. Er fühlte nur den Wind wie einen Trost aus der unermeßlichen Ferne. [...]
»Wenn ich die Menschen während der Fütterung betrachte«, sagte Friedrich zu Berzejew, einem früheren Oberleutnant, »bin ich überzeugt, daß sie nichts mehr nötig haben als eine Kugel am Bein, einen Löffel in der Rechten und ein Blechgeschirr in der Linken. Das Herz ist so nahe dem Darm, Zunge und Zähne grenzen so hart an das Gehirn, die Hände, die Gedanken niederschreiben, können so gut ein Lamm erwürgen und einen Bratspieß drehen, daß ich ratlos vor den Menschen stehe wie vor einem legendären Drachen.« »Sie sprechen wie ein Dichter«, erwiderte Berzejew, lächelte und zeigte zwischen dem schwarzen Bart zwei Reihen leuchtender Zähne, die wie ein Beweis für Friedrichs Behauptung aussahen. »Ich kann solche Worte nicht finden. Aber ich habe auch gesehn, daß der Mensch rätselhaft ist, und vor allem: daß man ihm nicht helfen kann.« Beide erschraken sie. Waren sie nicht hier, weil sie ihnen helfen wollten? Sie wandten sich voneinander ab. [...]
Nach vier Tagen wurden sie ausgeschifft, in eine große Halle geführt und einwaggoniert. Sie waren erfrischt, als sie wieder das Land betraten, und ihre Ketten hatten einen hurtigeren Klang. [...]
Die Freiheit war nicht wie ein Eigentum, das jeder einzelne verloren hatte. Sie war ein Element wie die Luft. [...]
Die Erfahrenen, die schon dort gewesen waren, begannen, die Schrecknisse dieses Kerkers zu schildern. Zuerst schauderten sie bei ihren eigenen Worten und machten die Zuhörer schaudern. Aber allmählich, während sie erzählten, wurde die Begeisterung, die sie nur aus dem Erzählen bezogen, stärker als der Inhalt ihrer Rede und die Neugier der Zuhörer größer als der Schrecken. Sie saßen da wie Kinder, die Märchen von gläsernen Palästen hören. Panfilow und Sjemienuta, zwei alte, weißbärtige Ukrainer, schilderten die Einzelzellen sogar mit einer Art Wehmut, und vergeßlich, wie das menschliche Herz ist, und weil der Weg noch allen unendlich vorkam und das Ziel trotz der Versicherungen der Erfahrenen noch ungewiß blieb, glaubten alle für ein paar kurze Stunden nicht, sie selbst führen dem Elend der Gefängnisse entgegen, sondern ganz andre, Fremde. [...]
Nur Berzejew warf nichts weg. Sein umfangreiches Gepäck trugen die Soldaten. Er konnte ihnen ein gutes Wort sagen, eine Zigarette in den Mund stecken und zuschnalzen wie Pferden. [...]
Nach dem Gesetz sollte ihr Bestimmungsort zehn Werst von einer Stadt, zehn Werst von einem Fluß und zehn Werst von einer Landstraße entfernt sein. Es gelang ihnen dennoch, an einen Fluß zu kommen, an den Fluß Kolyma. Er ist größer als der Rhein, nur drei Städte sind an ihm gelegen. Die eine hatte neun Einwohner, die andere hundert Einwohner in dreißig Militärbaracken. Friedrich, Berzejew und Lion entschlossen sich für die dritte Stadt, Sredni Kolymsk. Dort gab es weit auseinanderliegende Hütten und nur drei Häuser mit gläsernen Fenstern. Aber es war in einem Umkreis von vielen Meilen der einzige Ort mit einer Kirche, einem Turm und Glocken; Glocken, die man in der zivilisierten Welt gegossen hatte und deren Klang war wie eine Muttersprache. [...]
Mehl war unerschwinglich. In dieser Gegend konnten die Hausfrauen nur dreimal im Jahr backen. Das Brot war seltener als das Fleisch. Zum erstenmal fühlte Friedrich die unmittelbare Beziehung zwischen Sonne und Erde. Zum erstenmal verstand er den einfachen Sinn des Gebets, das man an den Himmel richtet um das tägliche Brot. An dem brotlosen Tisch, an den er sich zweimal täglich setzte, gedachte er der Bäckerläden in den lebendigen Städten. Er schloß die Augen. Er stellte sich die verschiedenen Farben des Mehls und die verschiedenen Formen der Brote vor. »Wovon träumst du?« fragte Berzejew. »Von Broten. Wenn ich mir die Welt vorstelle, von der wir abgeschlossen sind, denke ich an ganz lächerliche Dinge, z. B. flache Streichhölzer für die Westentasche und runde Pappendeckel für Biergläser, Tintenfässer, die man durch Druck aufklappen kann, Papiermesser aus Zelluloid und an ganz gewöhnliche Sachen, wie z. B. eine Ansichtskarte. [...]

Das Leben ist kurz. Sechzig Jahre Freiheit sind weniger als zehn Jahre Sibirien. [...]

(J. Roth: Der stumme Prophet , Kapitel 14-20)

Der stumme Prophet II - Hilde

Diese ganze Jugend, die noch nicht ahnte, daß sie bald in einem Weltkrieg dezimiert werden sollte, benahm sich so, als hätte sie unaufhörlich Ketten zu sprengen. Die jungen Beamten sprachen von den Gefahren, die dem alten Reich drohten, von der Notwendigkeit einer weitgehenden Autonomie der Nationen oder einer starken zentralisierenden Faust, einer Auflösung des Parlaments, einer sorgfältigeren Auswahl der Minister, einem Bruch mit Deutschland, einer Annäherung an Frankreich oder aber einer noch engeren Verbindung mit Deutschland und einer Provokation Serbiens. Die wollten den Krieg vermeiden, jene ihn heraufbeschwören, aber beide dachten, es handelte sich um einen kleinen, heiteren Krieg. Die jungen Offiziere machten für alles das langsame Avancement verantwortlich und die Dummheit des Generalstabs. Die Dozenten, von der Sanftheit junger Theologen, verbargen unter einem Schatz von Wissen einen Hunger nach Geltung und Mitgift. Die Künstler gaben zu verstehen, daß sie eine unmittelbare Beziehung zum Himmel hatten, spotteten über die Autorität, vertraten den Olymp, das Kaffeehaus und das Atelier gleichzeitig. Jeder war kühn, und doch rebellierte jeder nur gegen seinen eigenen Vater. [...]
Sie bildete sich ein, reine Kameradschaft zu halten, aber wenn ihr einer kein Kompliment machte, begann sie, an seiner Persönlichkeit zu zweifeln. Zwar hielt sie nichts von der altmodischen Liebe, aber sie brach den Verkehr mit einem Mann ab, der ihr nicht zu erkennen gab, daß er in sie verliebt sei. [...]

Sie buchte die Begegnung mit Friedrich unter ihren »merkwürdigen Erlebnissen«. Seine sichtbare Armut war eine neue Nuance in ihrem Bekanntenkreis. Sein weitreichender Radikalismus unterschied ihn von den kleinen Rebellen. Sie ging doch ein wenig aufgeregt das nächstemal in die Vorlesung.
»Ich möchte Sie begleiten«, sagte er. Natürlich, dachte sie, aber sie sagte nur: »Wenn es Ihnen Spaß macht.« Und da es regnete, stellte sie sich vor, wie sie mit ihm in sein Zimmer gehen würde oder in ein Café. Er hat aber wahrscheinlich kein Geld, überlegte sie, und von nun an hörte sie nicht mehr, was er sagte. Er versuchte auf der Straße, wo die Nässe, der Wind und die Regenschirme Verwirrung unter den Menschen stifteten, manchmal nach ihrem Arm zu greifen. Ihr Arm erwartete seine Hand. Man sieht, einen wie geringen Einfluß die Emanzipation eigentlich auf Hilde ausgeübt hatte.

Sie erreichten das kleine Café, wo er Stammgast war und wo er ohne Verlegenheit schuldig bleiben oder Geld borgen konnte. Als wäre es ihm erst soeben eingefallen, sagte er: »Wir sind naß, kommen Sie.« Sie fühlte eine leise Ahnung von dem Glück eines Mädchens, das der Geliebte ins Zimmer führt.  [...]
Sie begann: »In der Nacht schliefen wir vier in einem großen Zimmer, jeder in einer Ecke. Links am Fenster stand mein Bett. Mir gegenüber schlief die kleine Gerb. Ihr Vater war ein deutscher Finanzbeamter, aus Hessen, glaube ich. In der Nacht kam sie in mein Bett. Wir waren damals sechzehn Jahre alt. Sie erzählte mir, daß ihr Vater, ein Kadettenschüler, sie sozusagen aufgeklärt habe. Das ist doch furchtbar, nicht?« Friedrich verstand nicht, wonach sie gefragt werden wollte. »Ich glaube«, sagte er, »daß es Ihnen nicht so furchtbar vorkäme, wenn Sie bedenken wollten, daß 60 % aller proletarischen Kinder zwischen zwölf und sechzehn nicht mehr intakt sind. Haben Sie einen Begriff davon, wie es in den Massenquartieren aussieht?« Sein alter Zorn! Mit einem bitteren Eifer begann er wieder und nahm ihr jede Lust zu Geständnissen. In einem guten Pensionat, wo nur vier Mädchen in einem Zimmer schlafen, hat man keine Ahnung von einer Arbeiterwohnung. Er schilderte ihr eine. Er erklärte, was ein Bettgeher sei, ein Obdachlosenheim, das Leben der Verbannten und der politisch Verurteilten. Sie tröstete sich. Welch eine Bekanntschaft! dachte sie stolz. [...]

Sie trat in dem kleinen Kaffeehaus ein, um Friedrich zu überraschen, fand ihn nicht und hinterließ ihm eine Einladung für Samstag nachmittag.
Er kam und traf den Maler. Er kannte den auffälligen Mann schon vom Sehen. Er haßte den markanten Schädel voller Bedeutung, die breite, weiße Stirn, die buschigen Brauen, die ihr Besitzer jeden Tag zu besprengen schien wie Wiesenbeete. Sie beschatteten seine leeren Augen derart, daß in ihnen die dunkle Tiefe rästelhafter Seen zum Vorschein kam. Er haßte den tiefen, weichen und betont legeren Kragen, aus dem ein massives Doppelkinn dem Kinn wie zu dessen Unterstützung entgegenkam. Er haßte die sogenannten guten Köpfe im allgemeinen. Sie verwendeten einen großen Teil ihrer Energie darauf, noch bedeutender auszusehen, als die Natur es beabsichtigt hatte, und es war, als ob sie jeden Morgen nach dem Aufstehn ihre Talente an den Spiegel abgegeben hätten.
Hilde gab dem Maler den Vorzug. Sie nahm es Friedrich übel, daß sie seinetwegen eine schlechte Nacht verbracht hatte. Sie warf ihm vor, daß er an einem trüben und regnerischen Abend anders erscheinen konnte als an einem hellen Nachmittag. Außerdem war er jetzt verstockt und stumm. Er sah zu, wie der Maler im Laufe einer halben Stunde zehn Skizzen anfertigte, mit fliegenden Fingern und einem drohenden Blick, der von Hilde zum Papier sprang und wieder zurück. Hilde war unruhig. Obwohl sie keinen Zug zu verändern schien, gingen doch plötzlich Veränderungen unter ihrer Haut und unter ihren Zügen vor, und nur an den Augen konnte man sehen, wie ein Licht erlosch und sich wieder entzündete.

Friedrichs Stummheit brachte den Maler außer Fassung. »Ich muß Sie allein haben«, sagte er leise und so, als wollte er, daß Friedrich verstünde, er sagte ein Geheimnis. Friedrich stand auf, der Maler warf einen Blick gegen den Plafond. Er hatte die Fähigkeit, die Welt mehr mit den Brauen als mit den Augen zu sehen. Er packte mit hastiger Resignation seine Blätter zusammen. Da Hilde fürchtete, daß er beleidigt wäre, bat sie ihn zu bleiben. Aber sie ließ Friedrich gehen, und er verschwand, stumm und verstockt und mit dem Entschluß, ihr einen deutlichen Brief zu schreiben, ihr klarzumachen, daß sie ein unwürdiges, verlogenes Leben führte, daß sie anders werden müßte, daß sie mit dieser Bürgerlichkeit und dieser falschen Rebellion aufhören müßte. Alles dies schrieb er in der Hast eines Menschen, der sich vor einer nahen Gefahr retten will. Als er zur vierten Seite gelangte, überlegte er. Er wollte den Brief vernichten, aber er erinnerte sich, daß in allen Büchern Verliebte vorkamen, die Briefe zerrissen. Er hätte keinesfalls lächerlich werden wollen. Und er schickte schnell den Brief ab. [...]
Über ihnen beiden waltete schon das ewige Gesetz, das die Mißverständnisse zwischen den Geschlechtern regelt. (J. Roth: Der stumme Prophet,  Kapitel 11 ff.)

Joseph Roth: Der stumme Prophet I - Friedrich Kargan

Natürlich können Sie gleich mit der Lektüre des Romans "Der stumme Prophet" von  Joseph Roth beginnen, der einen russischen Revolutionär schildert, wie eher in der Aufgaben der Revolution aufgeht, dann das Leben kennen lernt und sich ihm dann wieder entzieht. (vollständiger Text bei Gutenberg.de)

Vielleicht aber ziehen Sie es vor, nicht einfach einer Leseempfehlung zu folgen, sondern erst noch den einen oder anderen Test zu machen. Dazu werden sie in nächster Gelegenheit hier Gelegenheit haben.
ZITATE:

"In der Silvesternacht von 1926 auf 1927 saß ich mit einigen Freunden und Bekannten in Moskau im Zimmer Numero neun des Hotels Bolschaja Moskowskaja. Für einige der Anwesenden war diese private Art, den Silvester zu feiern, die einzig mögliche. [...]
Sie konnten sich weder unter die Ausländer mischen noch unter die einheimischen Bürger, und obwohl der und jener unter ihnen seiner Idee zuliebe schon oft und lange als Beobachter fungiert hatte, hütete er sich doch mit Recht, selbst der Gegenstand einer Beobachtung zu werden. [...]
In meinem Zimmer schwebte der bekannte Zigarettendunst, den man aus den Romanen der russischen Literatur kennen dürfte. [...]
Er hatte, wie viele Menschen, die im Geheimdienst verwendet werden, den Ehrgeiz, nicht nur etwas zu wissen, sondern auch etwas länger zu wissen als die andern. [...]
In dessen Hause verbrachte Friedrich seine Kindheit. Sie verlief nicht ganz unglücklich, obwohl er in die Hände eines Wohltäters gefallen war. [...] In der Volksschule erwies er sich weit begabter als die Kinder seines Brotgebers. Deshalb ließ ihn dieser nicht weiter lernen, [...]
Offenbar wollte die Regierung die armen, arbeitslosen und nicht ungefährlichen Flüchtlinge möglichst schnell aus Österreich entfernen; aber auch die Meinung entstehen lassen, daß die russischen Deserteure mit Schiffskarten und Empfehlungen nach den Überseeländern versorgt würden – dermaßen, daß die Lust, die Armee zu verlassen, immer mehr Unzufriedene in Rußland ergreifen sollte. [...]
Er dachte an die unzähligen Grenzen des riesigen Reiches. In dieser Nacht wanderten Hunderttausende aus, sie gingen aus dem Unglück ins Unglück. Die unermeßliche, schweigende Nacht war von flüchtenden Menschen bevölkert, stumpfe, arme Gesichter, massive Rümpfe, schwere Gliedmaßen." 
(J. Roth: Prophet, Kap.1-4)