30 Dezember 2008

Robert Burns

"Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss ist alle Wiederkehr ..." in meiner Kindheit,
"Should old acquaintance be forgot ..." in meiner Jugend,
Freilichgraths trotziges "Es war 'ne heiße Märzenzeit ..." mit dem Refrain "Trotz alledem und alledem ..." und Biermanns "Trotz alledem", als ich erwachsen war -
alle haben mich berührt. Der Name Burns war mir nicht bekannt.
Erst jetzt, in einem Büchlein "Robert Burns and all that" wird mir klar, wem ich das alles verdanke und dass das Lied "Ich bin ein freier Bauernknecht ..." seine Haltung des "Bauerndichters" widerspiegelt, auch wenn er es nie gekannt haben wird.
"A man's a man" habe ich kaum gekannt, nicht die Lieder auf Maus und Laus und Haggis. Und ich habe auch nicht begriffen, was es bedeutete, als am Ende der Proms "Should old acquaintance", besser sollte ich schreiben: "Should auld acquaintance be forgot" gesungen wurde. Das Lied des schottischen Nationaldichters am Ende des von patriotischen Liedern so stark besetzten Festival-Abschlusses in London.
Freilich, es ist um die Welt gegangen.
Wie meine Entscheidung an eine Europäische Schule zu gehen, damit zusammenhängt, dass ich jetzt etwas über Robert Burns lerne und dass ich zwei Artikel in Gàidhlig (ThuringiaA' Ghearmailt) verfasst habe, ist dann noch eine andere Geschichte. Wenn es nicht zwei sind.

13 Dezember 2008

The time of our singing

Am Anfang modernes Märchen einer mir fremden Kultur, am Schluss Happy End mit einem Schuss Resignation. In der Mitte die Frage, die auch mich angeht: Wann ist Gewalt gerechtfertigt? Wie verständigt man sich, wenn man über diese Frage uneins ist? Wie weit ist Verstehen noch möglich.
Das andere mir zu schnell, zu grell, keine Charaktere.
So lese ich es gegenwärtig. Das Bild der physikalischen Ungleichzeitigkeit fügt sich mir in das Zeitbild nicht recht ein.

03 Dezember 2008

Dank an Sabine

Dem Blog einer Englischlehrerin verdanke ich den Hinweis auf höchst lesbare, klangvolle moderne englische Gedichte.

24 November 2008

Lektüre

Friedrich II. (Catt); Frau Aja; Der Klang der Zeit

17 November 2008

Unsicherheit Östereichs vor den Befreiungskriegen 1813

Das Wiener Cabinet kannte bei der getheilten Stimmung der Unterthanen, das Schwierige seiner Lage nur mehr als zu gut, um daher sein künftiges Benehmen, im Verein mit der öffentlichen Meinung gleichsam abzuwägen, wurden auf besondere Veranlaßungen auf den stehenden Theatern nicht nur patriotische Stücke aufgeführt, an welchen die Meinung des Volks sich brechen mußte, sondern die öffentlichen Behörden waren auch privat im aufgefordert worden, die in den verschiedenen Provinzen des Landes herrschenden Volksstimmungen über die politische Lage Österreichs für oder wider Frankreich, ohne wegen den etwanigen Verstoß mit der Hofmeynung darüber, im geringsten gefährdet zu seyn, unmittelbar einzuberichten. – So weit ging die Vorsicht Österreichs, ehe es sich in ein Spiel mischte, welches bei getheilten Intereße für ihn weniger gewagt, als für das Ganze von dem größten Belange und entscheidend war.

13 November 2008

Brecht: Wenn Herr K. einen Menschen liebte

"Ich mache einen Entwurf von ihm", sagt Brechts K. in den "Geschichten von Herrn Keuner". Dann sorgt er, dass der Mensch dem Entwurf ähnlich wird.

Brecht arbeitet so pointiert heraus, dass der Mensch verändert werden soll und nicht sein Bild an ihn angepasst werden, dass man es wohl nicht ironisch verstehen darf.

Freilich scheint er mir dabei - wie gelegentlich auch sonst -, einem leicht totalitären Verständnis von Marxismus zu folgen.

Frisch berichtet, dass er von einer Polenreise kommend Brecht durch seinen Bericht sehr betroffen gemacht habe. Als die Weigel dazu kam, hatte sie Brecht aber bald so weit, dass er nicht mehr glauben wollte, was er gehört hatte.
Frisch schließt seinen Bericht: "Unterrichtet darüber, was in Polen vorging, nahm ich mein Fahrrad." (Frisch Tagebuch 1966, Erinnerungen an Brecht, S.38)

26 September 2008

Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten

Christian Krachts Roman "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" von der kommunistischen Schweiz im Dauerweltkrieg habe ich angefangen zu lesen.
Die Geliebte Favre, die nach der ersten Liebesszene durch eine Explosion zerfetzt wird; die Tretmine, auf die sich Uriel, der Zwerg/Engel stellt, um den Ich-Erzähler zu erlösen, die dauernde Kälte sind erste Eindrücke von einem Roman, der in mir zwar Bilder freisetzt, von dem ich mir aber noch kein Bild machen kann.
4.11. Auch nachdem ich den Romans zuende gelesen habe - inzwischen schon wieder einige Zeit her, kann ich sagen, dass ich den Autor zwar für begabt halte, aber nicht glaube, dass ich den Roman noch einmal lese oder dass ich darauf brenne, einen weiteren Roman von ihm zu lesen. Ich werde aber schon mit einigem Interesse verfolgen, was er noch schreibt, denn, wie gesagt, begabt und originell ist er.

sieh auch:
https://de.wikipedia.org/wiki/Tunguska-Ereignis

http://fontanefansschnipsel.blogspot.de/2018/05/ganz-kleiner-schnipsel-zu-kracht.html

 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/christian-krachts-poetikvorlesung-in-frankfurt-15604028.html

19 September 2008

Schnurre

In der Schattenfotograf erhebt sich Schnurre über das, was ich als Schulbuchniveau mit seinen Texten verbinde.
So zitiert er Bloch: "Nicht an der unersättlich sexuellen, sondern an der unersättlich erotischen Frau fällt der richtige Mann durch", und kommentiert: "Nur klingt 'durchfallen' eben doch noch recht milde nach Prüfung. Und eine Prüfung ist wiederholbar [...] die Chance sich neu zu stellen. Der Durchfall des sexuell gesteuerten Mannes [...] aber wiederholt sich ad infinitum und endet im chancenlosen Debakel von Frustration und Erschlaffung."
Das klingt so, als wäre es die Eigenschaft "des Mannes", sexuell gesteuert zu sein. Doch vorher steht: "Sex gilbt, Eros schlägt Wurzeln. Langsam beginne ich dahinterzukommen: Vater muß im Gegensatz zum Gros seiner Artgenossen, etwas von Erotik verstanden haben."

Oder "Zwei Schwerkranke im selben Zimmer"

16 September 2008

August Winnig: Arbeiter und Reich

Die Erzählung Arbeiter und Reich des ehemaligen SPD-Reichstagsabgeordneten und völkischen Schriftstellers August Winnig (1937 im Teubner Verlag veröffentlicht) zeigt den Weg des proletarischen Helden Gotthold Grimm zu den Nationalsozialisten. Sie ist gegliedert in die Abschnitte Auf falscher Bahn und Die große Prüfung.

Zu den Helden der Erzählung, die in einer Kleinstadt im Mittelgebirge spielt, gehören der Rittmeister von Wehren, der als erster der Honoratioren der Stadt die Gefahr der Sozialdemokratie erkennt, der Küfer Gotthold Grimm, der den ersten erfolgreichen Streik der Steinbrucharbeiter organisiert, aber von der organisierten Sozialdemokratie abgestoßen wird, und als sein Gegenspieler der erfolgreiche sozialdemokratische Funktionär Jäger. Daneben werden als intelligente, aber für die Sache, für die sie eintreten, immer schädliche Figuren Juden genannt: der Industrielle, der praktische Maßnahmen zum Kampf gegen die Sozialdemokratie vorschlägt, die aber erfolglos bleiben; der Parteiredner, der aufhetzt, ohne sinnvolle Ziele zu zeigen; der Zeitungsredakteur, der nur scharfe Kritik üben, aber den Gefahren für die Partei nicht steuern kann.

Gotthold Grimm wird als der einsam für das Wohl der Arbeiter kämpfende Idealist dargestellt, Jäger dagegen als der Funktionär, der sich bald mit Fabrikherren und Honoratioren gut zu stellen weiß, aber um der Karriere willen stets die sozialdemokratischen Parolen vor sich her zu tragen weiß. Die Erkenntnisse, die Winnig seinem Helden eingibt, sind die Notwendigkeit des Imperialismus, weil Deutschland übervölkert sei und kein Raum mehr für den Bevölkerungszuwachs sei, die Notwendigkeit, den Krieg möglichst früh vom Zaun zu brechen, um diesen Lebensraum zu erwerben, schließlich die Notwendigkeit der Fortführung des Krieges und die Entlarvung des Sozialdemokraten, der die Novemberrevolution unterstützt.

Als Kernaussage der Erzählung kann man Gotthold Grimms Ausspruch werten: „Der Arbeiter ist in schlechter Hand, Juden regieren sein Denken, und Bonzen führen seine Dinge.“ (Die große Prüfung, S.57)

Gotthold Grimm ist leicht als sprechender Name zu erkennen. Gotthold steht für seine geistige Prägung durch den Pfarrer Hommel (vielleicht eine Anspielung auf den Hofprediger Emil Wilhelm Frommel, 1828-1896), Grimm für seinen energischen Einsatz für die Arbeiter und für sein Leiden an der Sozialdemokratie.

Die Erzählung, die wegen ihrer klischeehaften Charakterzeichnung und ihrer nur ungenügend durch Erzählelemente aufgelockerten Argumentation an sich literarisch wertlos ist, verdient Interesse, weil sie August Winnigs eigenen Weg vom Sozialdemokraten zum völkischen Schriftsteller und damit den Wechsel sozialdemokratischer Wähler zur NSDAP psychologisch nachvollziehbar macht.

In Winnigs Fall war die Abkehr von der Sozialdemokratie freilich von außen erzwungen, weil seine zwielichtige Haltung als ostpreußischer Oberpräsident im Kapp-Putsch zu seinem Ausschluss aus Partei und Gewerkschaft geführt hatte.

10 September 2008

Bruder und Schwester

"Sie litten alle unter der Angst, keine Zeit für alles zu haben, und wussten nicht, dass Zeit haben nichts anderes heißt, als keine Zeit für alles zu haben." - Der Mann ohne Eigenschaften, II, 40

"[...] am Hals rundete die Spannung des Vorgangs drei Falten, die schlank und lustig durch die klare Haut eilten wie drei Pfeile: die liebliche Körperlichkeit dieses Bilds, [...] schien ihren Rahmen verloren zu haben und ging so unvermittelt und unmittelbar in den Körper Ulrichs über, daß dieser seinen Platz verließ und [...]
Bis dahin hatte sich alles ebenso übermütig und scherzhaft abgespielt wie vieles zuvor [...] Aber als [...] sie sich in diesem Zustand wundersam besänftigt vorkam, [...] streifte sie auch noch den letzten Seidenfaden von Zwang ab, [...]. - Der Mann ohne Eigenschaften, II, 45, S.1082

Eine Seite pro Tag, das hielt Musil für die richtige Lesegeschwindigkeit bei seinem Mann ohne Eigenschaften. Ich habe durchschnittlich langsamer gelesen, doch haben sich inzwischen so viele Lesezeichen in meinem Exemplar angesammelt, dass ich sie langsam abbauen möchte, indem ich die Stellen, die mir beachtenswert erschienen, hier vorstelle. - Das wird noch weit langsamer vor sich gehen.

05 September 2008

Das gefangene Lächeln

„Das Wahre weiß man zu früh, fehlt nur, daß man darin lebt. Tut man es aber, so vergehen einem die Wahrheiten von selbst.“(S.123)

„Das Gegenteil wirklicher Erfahrungen sind wirkliche Erfahrungen.“ (S.151)

Angestrengte Wahrheiten stehen am Übergang des Flöchners (eines verantwortungsbeladenen Feuerwehrmanns) zum erfolgreichen Geschäftsmann.

Locker-beißende Ironie, die ein beängstigendes Licht auf das gegenwärtige Kandidatenrennen in den USA wirft, steht dazwischen.

God save America. Wer sonst könnte es retten?” (S.134)

Adolf Muschg
verbirgt auch in dieser Erzählung sein Bedürfnis nach psychologischem Tiefsinn nicht, aber die Tragödie schlägt aus der Halbkatastrophe um in ein Satyrspiel. Ein zu Besorgter, von moralischen Zwängen Zerdückter, der seine Befreiung als ägyptische Heuschrecke erlebt und damit dem Enkel den Weg in die Freiheit bahnt.

03 September 2008

Russlandfeldzug

Der Bericht über den Russlandfeldzug von 1812/13, aus dem auf diesem Blog wiederholt zitiert wurde, liegt jetzt als digitalisiertes Originalmanuskript bei Wikisource vor. Dort entsteht auch eine Edition des Textes, deren Wortlaut bei Abweichungen in jedem Fall der hier vorliegenden Fassung vorzuziehen ist.

Nachtrag von 2013:
Eine vergleichbare Quelle liegt seit November 2008 mit dem Tagebuch Ernst von Baumbachs zum Russlandfeldzug vor.

01 September 2008

Urlaubslektüre

R. Barraux: Die Geschichte der Dalai Lamas, 1993
J. Moltmann: Weiter Raum, 2007
O. Pamuk: Rot ist mein Name, 1998
D.F. Weinland: Rulaman, 1878
G. de Bruyn: Preußens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer Legende, Berlin 2001
Ruth Klüger: Unterwegs verloren, 2008

25 August 2008

Märkische Forschungen

Stark autobiographisch geprägt ist in "Märkische Forschungen" (1978) de Bruyns Darstellung des unterschiedlichen Verhältnisses von Liebhaber und Professor zu einem Stoff. De Bruyn bearbeitet darin seine Erfahrungen mit dem Austausch über Jean Paul, den er mit seinem früheren Professor hatte. (dazu jetzt auch mein Artikel von 2017)

Eben entdecke ich de Bruyns "Märkische Musenhöfe", die ja auch als Märkische Forschungen gelten können.

31 Juli 2008

Drosselstein und Finkenstein

Fontanes "Vor dem Sturm" von de Bruyn sorgfältig betrachtet auf historisch-geographische Bezüge und dichterische Verwandlung. Im Mittelpunkt natürlich Marwitz und sein Friedersdorf, das Hohenvietz bei Fontane.

de Bruyns Brandenburg

Günter de Bruyns "Mein Brandenburg" und Fontanes Briefe haben mich wieder auf die "Wanderungen" Fontanes blicken lassen, aus neuer Perspektive. Und daneben der nicht auf Geld angewiesene Erfolgsautor Fouqué  [Werke]. Von de Bruyn durchaus mit Mitgefühl dargestellt; aber welch ein Unterschied zu seiner genauen Nachzeichnung der Arbeit Fontanes, des "fahrenden Wanderers".

25 Juli 2008

Konsumismus

Der Politologe B. Barber stellt in "Consumed" heraus, dass der Kapitalismus der letzten Jahrzehnte zum Konsumieren verführen müsse und daher die Erwachsenen in den Infantilismus zu treiben suche, so wie er sogar schon Kleinkinder zu unabhängig von den Eltern agierenden Verbrauchern zu machen suche. Markentreue erzielen lässt sich besonders gut, wenn man schon bei Zweijährigen ansetzt.
Besonders beängstigend sind für mich seine Hinweise auf die Privatisierung von Sicherheit, Milliardensummen, die dafür an Privatfirmen fließen und Privatfirmen, die nebenbei auch einmal Terroristen ausbilden.
Interessant seine Aussage über das Kaufen in Shopping Malls. Nach Erhebungen kommt nur jeder vierte Besucher mit einem bestimmten Kaufwunsch dorthin (sieh S.55)

24 Juli 2008

de Bruyn schämt sich

Der hohe moralische Standard, den de Bruyn an sich und andere anlegt, wird deutlich daran, wofür er sich - laut Aussage in seiner Autobiographie - schämt.
So dafür, der Stasi - aus Angst - nicht früh genug deutlich genug gemacht zu haben, dass sie in ihm keinen inoffiziellen Mitarbeiter werde gewinnen können.
Dass die Stasiunterlagen dennoch angebliche Berichte von ihm enthalten, erledigt er mit ein, zwei Sätzen über die Probleme, die Stasioffiziere angesichts der Forderung nach Erfolgsmeldungen hatten.
Und ich glaube ihm seine Scham und damit selbstverständlich, dass er der Stasi nie Informationen verschafft hat. Zu genau analysiert er all das, worüber er glaubt, Auskunft geben zu sollen.

22 Juli 2008

Reni

Acht Jahre währt die unerfüllte Liebe, deren höchstes Ziel war: ein Jawort auf die Frage, ob sie seine Freundin sein wolle. Acht Jahre verfolgt er sie mit Blicken in ihren Garten beim Krokettspiel und abendlichen Festen im Lampionschein. Gut angezogen, von dunkler Schönheit ist sie Ziel seines Begehrens, "gleichaltrig mit mir, also älter" und auch von Älteren umworben bleibt sie unerreichbar. Annäherung hilft, die Liebesqualen zu ertragen.
 (Günter de Bruyn in seinen Lebenserinnerungen)

Die Erfahrung gleicht der, die Frisch mit Brecht hatte: In der Entfernung wuchs seine Größe bis ins fast nicht Erträgliche, in seiner Nähe half er durch Unscheinbarkeit (Frischs Tagebücher).
Acht Jahre kann die Liebe dauern, weil die entscheidende Frage nie gestellt wird.

10 Juli 2008

Weiter Raum

Bei vielen anderen Wissenschaften bedeutet die Beachtung der internationalen Diskussion schlicht die Beachtung eines kohärenten Ganzen. In der Theologie bedeutet internationale Diskussion wegen der engen Anbindung von Theologie an Lebenswelt oft eine gewaltige Ausdehnung des Argumentationsraumes.
Für mich eine Erfahrung, wie internationale und ökumenische Diskussion auf Bonhoeffer, Küng und Sölle gewirkt haben, und nun Moltmann.
Daher "weiter Raum", auf den Gott des Menschen Füße stellt.

Doch da sind die beeindruckenden Bilder, die er in engsten Räumen, in Aufzügen, ansiedelt: die Schnitzeljagden der Kinder und die Kampfgesänge der zum Galgen geführten Anti-Apartheidskämpfer, die die schwarzen Putzfrauen in den Aufzügen singen.

05 Juli 2008

Der Engel eines großen Glücks

„Durch die kleine weiße Stube ging auf leisen Sohlen der Engel eines großen Glückes.“

So schließt das Buch. Man kann es dem Enkel Ludwig Ganghofers nicht ganz verdenken, dass er die Ausgabe von 2003 unter seinem Schriftstellernamen Stefan Murr so bearbeitet hat, dass die folgende etwa eine Seite davor stehende Passage jetzt fehlt:
Und trotz der geschlossenen Fenster klangen aus der Stube des Pointnerhofes zeternde Schmerzensschreie so laut in den Hofraum und auf die Straße, daß die Dienstboten zusammenliefen und die Nachbarsleute aus den Häusern sprangen. Nach einer Weile wurde es in der Stube des Pointners still, ganz still. Mit rotem Gesicht trat der Bauer aus der Haustür. Er schien die Dienstboten nicht zu sehen, die sich in Stall und Scheune verzogen. Schmunzelnd hob er die Faust, betrachtete den Riemen und atmete erleichtert auf: »Mein lieber Herrgott, ich dank dir, daß ich bloß den Riem in der Hand ghabt hab! Und net die Brechstang! Jetzt hätte ich nimmer gfragt, mit was ich zuschlag.« Er blies die Backen auf und ging zur Straße.
Vor dem Zaun des Försterhofes stand die Horneggerin, mit dem Netterl auf den Armen. »Aber Andres! Andres!« rief sie den Bauer an. »Du wirst doch um Gottes willen dein Weib net prügelt haben?«
»Und ghörig auch noch!« lautete die ruhige Antwort. »Sie hat's verdient. Und gsunde Schläg, dös is noch 's einzige, was ihr Mores beibringt. Ihr Vater hat's versäumt. Jetzt hab ich's wieder eingholt. Heut hat s' Respekt vor mir! Heut hat s' betteln können: Verzeih mir's, Andres, verzeih mir, lieber Andres! Jaaa, ›lieber‹ hat s' gsagt! Paß auf, Nachbarin, aus der mach ich noch die Brävste. Jetzt weiß ich, was hilft bei ihr. Paß auf, die kriegt mich noch gern!«

Schließlich ging es ihm laut Klappentext darum „die Stärken der Klassiker [gemeint sind Ganghofers bekannteste Romane] zeitgemäß und unverfälscht ins Bewusstsein des heutigen Lesers zu rücken“. Und da sich beides nicht gut vereinen ließ, hat er sich eben entschieden.

02 Juli 2008

Unterhaltung oder Zumutung?

Leonie Ossowski hat schon bessere Bücher geschrieben als "Der einamrmige Engel", und ein bisschen sorgfältiger hätte die Lektorin ihre Arbeit auch tun können.
Doch dass ich mir bei der Lektüre immer wieder Stellen unterstrichen habe, wo Autorin wie Lektorin geschlampt haben, liegt doch auch daran, dass ich nicht glaube, dass jemand nur deshalb, weil seine Großeltern Großgrundbesitzer waren, unbedingt seinen Beruf aufgeben und seinerseits groß in die Landwirtschaft einsteigen muss.
Wie müssen die Figuren schwarz-weiß gezeichnet werden, wie muss die Handlung gegen jede Psychologie zurechtgebogen werden, damit wenigstens die Fiktion einer solchen Erbverpfichtung herauskommen kann!
Wieso soll ich glauben, dass jemand eine Stelle in Kanada, die er nur auf Probe hat, aufs Spiel setzt, nur um einen weiteren Versuch zu machen, seinem Vater etwas auszureden, von dem er schon vorher deutlich genug gemacht hat, dass er es für Unsinn hält?
Die Erzählung fließt freilich munter daher, es fehlt nicht an Beziehungskonflikten und neuer Liebe, selbst ein treuer Hund und ein Schatzfund sind dabei.
Warum nur nehme ich Ganghofer in Schutz und verweise darauf, dass neben den Klischés auch Charakterschilderung vorkommt, warum gelingt mir das bei diesem Buch nicht?
Ich denke, es liegt daran, dass der Name Ossowski für mich bisher durchaus mit respektabler Jugendliteratur verbunden war, nicht mit einer Kreuzung von Heimatkitsch und sozialistischem Realismus.
Jetzt lief er querfeldein. Die Erde heftete sich an die Schuhe, machte sie schwer und das Vorwärtskommen mühsam. So mußte es sein, so war der Gang des Großvaters gewesen, die Zeit zum Gebet.

Die Symbolik dieser Sätze, die Charaktere Ludwig und Katrin, die weder schwarz noch weiß sind. Das ist dann eben doch ganz anderes als Kitsch.
Es sollte einem Text nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass die Verfasserin auch Stern ohne Himmel und Wilhelm Meisters Abschied geschrieben hat. So wie mann auch einem weiten Feld nicht zum Vorwurf gemacht werden sollte, dass der Verfasser die Blechtrommel geschrieben hat.

22 Juni 2008

Zur Lektüre vorgemerkt

John Irving:The Hotel New Hamphire

Jürgen Moltmann: Weiter Raum

13 Juni 2008

Großer Brand im Hauptquartier

Der große Brand im Hauptquartier war der unglücklichste und kostspieligste von diesen dreyen für das Corps, denn er kostete mehrere Menschen und an 50 Dienst und Reutpferde, worunter der ganze Marstall des Grafen Reynier befindlich war, das Leben. Diese Pferde mit ihren Wärtern waren in einem großen 4-eckichten Wirtschaftsgebäude, oder vielmehr Scheune untergebracht, welches von unten bis oben mit Garben und Stroh angefüllt war, und nur freye Gänge darin offen ließ. Das zusammen hängende Ganze hatte nur wenige Zugänge, die theils nach außen, theils in den inneren gesperrten Hofraum führten. Höchstwahrscheinlich durch ein beim Schlaf der Wächter in das Stroh gefallenes Licht, hatte sich das Feuer und der Qualm augenblicklich übers Ganze verbreitet, und die Mannschaften, mit dem Loshalftern und Abschneiden der Pferde beschäftiget, wurden durch ihr xxx? Hin- und Herspringen mit umgerissen und an eigener Rettung verhindert. Zwar hatten sich einige in den inneren mit Mist und Stroh angefüllten Hofraum geflüchtet, jedoch da auch dieser am Ende von der gluth angezündet wurde, so war auch hier Rettung unmöglich und nur wenige in einen Mistpfuhl sich retirirte Unglückliche entkamen dem Todte in den Flammen, doch endeten sie einige Tage darauf umso schmerzhafter an den Verlezungen dieses Brandes.

Die im Hauptquartier commandirt stehende 6. Escadron verlor hierbei 4 Husaren und 4 Dienstpferde, wovon 1 Mann und die 4 Pferde in den Flammen umkamen, 3 Mann aber am 25. ejsdem in Folge desselben ihren Geist aufgaben. – Man sagt, ein, von den Oesterreichern bei der feindlichen Retraite erbeutetes, und von Fürst Schwarzenberg dem General Reynier als Geschenk überlassenes Kameel, habe eine sehr bedeutende nachtheilige Rolle bei diesem unglücklichen Ereignisse gespielt, indem es, ohnfern des Ausgangs angebunden, die losgemachten und von den Leuten dem Ausgang zu getriebenen Pferde, durch seine ungewohnte Gestalt an der Flucht geschreckt und zum Zurücklaufen derselben in die Flammen und Umreißen der in den Gängen befindlich gewesenen Menschen, wesentlich beigetragen haben soll.

17 Mai 2008

bestückt mit Kruppkanonen

Churchills The River War, sein Bericht über Kitcheners Feldzug von 1898 gegen den Nachfolger des Mahdi, verdeutlicht die Waffenungleichheit. Doch nahm Churchill damals selbst an der letzten britischen Kavallerieattacke in einer Schlacht (Omdurman) teil.
Von Georg Brunold übersetzt erscheint das Werk gegenwärtig unter dem beziehungsreichen Titel "Kreuzzug gegen das Reich des Mahdi" als Fortsetzungsroman in der FAZ.

12 Mai 2008

Apokalypseblindheit

Vor Apokalypseblindheit (das Wort hat Günter Anders geprägt) warnt der Sozialpsychologe Harald Welzer. Man dürfe über dem Blick auf die ökologischen Folgen des Klimawandels die sozialen, nämlich Krieg und Gewalt, die damit einhergehen werden, nicht unterschätzen.

10 Mai 2008

Bürgschaft oder: Zerrbild von Gerechtigkeit

Ein junger Mann hat einen alten erschlagen, weil der sein Pferd getötet hat.
Vor dem Richter bittet er um drei Tage Strafaufschub, weil er noch für seinen jüngeren Bruder zu sorgen habe. Als Bürgen benennt er einen alten Mann, der von ihm nichts weiß, als dass er ein Mörder ist und schön. Der übernimmt die Bürgschaft.
Als der junge Mann nicht zurückkommt, fordern die Kläger den Tod des Bürgen. Der Richter, immerhin als Kalif ein Nachfolger Mohammeds, scheint das zu akzeptieren, obwohl der Bürge einer der wenigen ist, die noch von Mohammed selbst für den Islam gewonnen worden sind.
Als der junge Mann dann doch zurückkommt, erlassen ihm die Kläger die Strafe. Der Kalif hat dazu weiter nichts zu sagen, als dass er sie lobt.
So erzählt in den Geschichten von Tausendundeine Nacht.

Die Ähnlichkeit, aber auch die großen Unterschiede zu der Überlieferung, die Schillers Ballade "Die Bürgschaft" zugrunde liegt, fällt auf, aber auch die Unterschiede.
Während bei Schiller der Tyrann durch Freundschaftstreue zu Menschlichkeit bewegt wird, deckt hier der Kalif, statt Recht zu sprechen, eine grobe Ungerechtigkeit.
Im Gang der Erzählung gilt die Sympathie dem Mörder, dem Bürgen und den Klägern. Am Kalifen wird keinerlei Kritik geübt.

01 Mai 2008

Häuslichkeit

Im Gesang vom Kindchen spricht Thomas Mann sich deutlicher über zwei Aspekte seiner künstlerischen Existenz aus als anderswo.
Zum einen sein Bedauern, nicht zu den Dichtern zu zählen. Schon als Jüngling habe er nach hymnischen Ergüssen über seine Gefühle sich gedrungen gefühlt, sie in Prosa sachlicher darzustellen.
Zum andern der Abstand, den er von anderen Menschen, selbst von der Familie, hält "er wandte im Innern hinweg sich, / Sorgend bedacht, seine Freiheit und Einsamkeit vor dem Leben ... zu bewahren") , um seine Kunstwelt zu bewahren, die ihm doch notwendig zum erfüllten Leben gehört: "Nicht Erfindung war Kunst mir: nur ein gewissenhaft' Leben".

Über seine vier Kinder sagt er deutlich:

All die Wirklichkeit, die mich umringte, [...]
Und so erschien sie als krauses Abenteuer dem Träumer,
Das er belustigt sich gefallen ließ, aber in Abwehr
Auch, nicht willens, sich dran zu verlieren, neugierige Kühle
Wahrend und oft gereizt, wenn es störend zudrang und lärmte.

29 April 2008

Preußische Reformen

Eher "bescheidene Leistungen (S.393) sieht der australische Historiker, wenn er den Ruhm der Reformer im 19. Jahrhundert mir ihren Ergebnissen vergleicht. Im Grunde sei ihnen vor allem wirtschaftliche Deregulierung (S.395/6) gelungen, während bei dem Aufbau von Verfassungsstaaten die Süddeutschen weit erfolgreicher gewesen seien. Dennoch weiß er die Überwindung von Schwierigkeiten und insbesondere auch die Reform des Bildungswesens durch W. v. Humboldt zu schätzen. Den deutschen Zollverein sieht er nicht als wichtige Stufe zu einer wirtschaftlichen Vormachtstellung Preußens, ja er schreibt ihm nicht einmal einen wichtigen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung Preußens zu. Aber die preußischen Politiker hätten bei seiner Vorbereitung gelernt, in deutschen Kategorien zu denken und hätten die "moralische Autorität" Berlins gestärkt (S.454). Preußen habe schon deshalb keine energische Großmachtpolitik betreiben können, weil es nach den Erfahrungen von 1807 und 1812/13 ängstlich bemüht gewesen sei, kein Missfallen Russlands auszulösen.
(Clark: Preußen)

28 April 2008

Preußen - Iron Kingdom

Ein australischer Historiker mit Ausbildung in Cambridge, Christopher Clark, schreibt das neuste Standardwerk über Preußen. Er berichtet über Friedrichs II. schiefe Schlachtordnungen, das Überflügeln und Aufrollen, die ungewöhnliche Disziplin der Infanterie, die Umgruppierungen weit schneller als beim Gegner erlaubte, die Fähigkeit des Feldherrn, in äußerster Gefahr Ruhe zu bewahren, und die, Fehler einzugestehen.
Er bestreitet, dass Preußen den Sonderweg Deutschlands bestimmt habe und sieht nicht Preußen als den Grund für den Untergang Deutschlands, sondern Deutschland als Grund für den Untergang Preußens.
Er teilt mit Fontane die Ambivalenz in seiner Sicht auf Preußen, und sieht die Solidarität seiner Bewohner letztlich auf ihre Heimatprovinz gerichtet wie die Fontanes in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg".
Deutlich stellt er heraus die hervorragende Rolle, die Preußen in der Goebbelsschen Propaganda spielte, die die Nationalsozialisten als die neuen Preußen feierte. Den "Tag von Potsdam" in der Garnisonkirche vor den Särgen der preußischen Könige (in der Fontanes Armgard v. Barby Woldemar v. Stechlin heiraten will) sieht er als einen gekonnt gewählten Höhepunkt dieser Propaganda. Hindenburg als einen Machtpolitiker, der "nahezu jedes seiner Versprechen" brach (S.743), von 'systematischem Ungehorsam' (S.742) gegenüber seinem Kaiser "nährte Hindenburg bewusst den im ganzen Reich betriebenen Personenkult, der das Bild des unbesiegbaren germanischen Kriegers auf ihn projizierte und die Figur des Kaisers zusehends überschattete und marginalisiert." (S.742)
In der DDR beobachtet er beim Versuch, eine eigene DDR-Nationalität zu begründen, ein Sich-Berufen auf die Reformer von 1813 und nach der Auflösung der DDR-Bezirke das intensive Bemühen der Gemeinden, nicht als Bezirk und nicht als Kreis zusammenzubleiben, sondern zum alten Land zurückzukehren. "Am Ende war nur noch Brandenburg." (S.780)

13 April 2008

Anna Seghers - keine Autorin des sozialistischen Realismus

Anna Seghers kennt man als Autorin von „Das siebte Kreuz“ und in der Tat hat sie nichts Vergleichbares besser geschrieben. Aber Thomas Mann hat sich auf dem Feld der Buddenbrooks auch nicht übertroffen. Dennoch wäre es fragwürdig, wenn er nur auf diesem Felde weitergearbeitet hätte. "Der Zauberberg" und "Joseph und seine Brüder" wären nie entstanden.

Was für neue Bereiche Anna Seghers sich erschlossen hat, zeigte eine Lesung von Monika Melchert in der alten Synagoge in Bensheim-Auerbach, in der sie ihre Blütenlese aus Seghers unter dem Titel „Mit Kafka im Café“ vorstellte. Die Erzählung "Reisebegegnung", auf die sich dieser Titel bezieht, zeigt Seghers in einem neuen Licht, das über ihren halb autobiographischen Text „Der Ausflug der toten Mädchen“, über „Das wirkliche Blau“, die Romane „Die Gefährten“ und „Transit“ hinausweist.
Es lohnt sich, mal wieder Seghers zu lesen.

Jetzt habe ich Die Hochzeit von Haiti gelesen und mich über die beiden anderen Karibischen Geschichten Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe. und Das Licht auf dem Galgen informiert. Gut erzählt, aber sie bleiben mir nicht im Gedächtnis, ich werde nicht warm mit Seghers Erzählungen. 
Die historische Figur Toussaint Louverture hat freilich meine volle Sympathie. 
Ein Schwarzer, der als erster nach der Siedlerkolonie der USA  die Unabhängigkeit seines Landes von Kolonialherrschaft in Amerika erreicht und und schon zuvor die Abschaffung der Sklaverei, der verdient eine Erzählung,  die seine Leistung zum Gegenstand hat. Der nüchterne Text der Seghers enttäuscht vielleicht meinen Wunsch auf stärkere Herausstellung seiner Leistung.
Seinen eigenen Charme hat es, dass in dieser Erzählung, in der der erste Sklavenbefreier Amerikas gewürdigt wird, ständig von Negern und auch von dem Negerstaat die Rede ist. Dadurch wird besonders fühlbar, wie unerhört damals die Leistung war, einen Staat zu gründen, der seine Unabhängigkeit ehemaligen Sklaven verdankte.

08 April 2008

Morenga

In seiner Kombination von Dokumenten und literarischer Darstellung erzielt Uwe Timm in Morenga große Wirkung.
Beängstigend aktuell die befremdeten Kommentare der Deutschen, als sie feststellen müssen, dass in der indigenen Bevölkerung nicht das Kokurrenzprinzip, sondern ein Geist gegenseitiger Hilfe und gegenseitigen füreinander Einstehens besteht.

31 März 2008

Marienbader Elegie

Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen,
Von dieses Tages noch geschloßner Blüte?
Das Paradies, die Hölle steht dir offen;
[...]
Kein Zweifeln mehr! Sie tritt ans Himmelstor,
Zu ihren Armen hebt sie dich empor.

"Noch einmal flieht [...] Goethe aus dem Erlebnis in die Dichtung, und in wundersamer Dankbarkeit für diese letzte Gnade schreibt der Vierundsiebzigjährige über dies sein Gedicht die Verse seines Tasso, die er vor vierzig Jahren gedichtet," - so schreibt Stefan Zweig in seinen "Sternstunden der Menschheit" - "um sie noch einmal staunend zu erleben:"
Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott, zu sagen, was ich leide.

Zweig ist wie vergessen, wenn heute Walsers "liebender Mann" mit Manns "Lotte in Weimar" verglichen wird. Vergessen Zweigs Wort vom "Abschied von der Liebe, in Ewigkeit verwandelt durch erschütternde Klage". Zuviel Pathos, zuviel Würde dem Gedicht, zu wenig dem Leid des Liebenden? Dem versucht Walser nun gerecht zu werden, von dem Goethe selber sagt:
Der ich noch erst den Göttern Liebling war;
Sie prüften mich, verliehen mir Pandoren,
So reich an Gütern, reicher an Gefahr;
Sie drängten mich zum gabeseligen Munde,
Sie trennen mich, und richten mich zugrunde.


Immer wieder las Zelter ihm diese Worte vor, und so beruhigte sich Goethe über dem erhabenen Ausdruck seines Schmerzes und erfuhr wieder, was er am Werther erfahren hatte: "Zum Bleiben ich, zum Scheiden du erkoren". Freilich, erst im folgenden Jahr schrieb er diese Worte in seinem Vorspruch zum Werther in der Jubiläumsausgabe von 1924.

Ein liebender Mann

Liebenswürdig erscheint Ulrike von Levetzow, gern sieht man als Goethe auf sie. Doch will man sie nicht aus den Augen verlieren, weil in dem Goethe, den Walser einem zeigt, weniger die Kunstfigur Goethe als der reale Walser vor einem zu stehen scheint. Anders als bei Thomas Manns Goethe in Lotte in Weimar, wo die Kunstfigur Thomas Manns vorzuherrschen scheint.
Zu sehr Lustspielfigur und darüber stehend sieht Walser Manns Goethe im Reading Room der FAZ zum Walser Roman in einem Telefoninterview.
So viel als erste Eindrücke aus einer sehr bruchstückhaften Kenntnis des Romans.

30 März 2008

Zivil-Wallenstein

Es heißt immer, das Junkertum sei keine Macht mehr, die Junker fräßen den Hohenzollern aus der Hand und die Dynastie züchte sie bloß, um sie für alle Fälle parat zu haben. Und das ist eine Zeitlang vielleicht auch richtig gewesen. Aber heut' ist es nicht mehr richtig, es ist heute grundfalsch. Das Junkertum (trotzdem es vorgibt, seine Strohdächer zu flicken, und sie gelegentlich vielleicht auch wirklich flickt), dies Junkertum - und ich bin inmitten aller Loyalität und Devotion doch stolz, dies sagen zu können - hat in dem Kampf dieser Jahre kolossal an Macht gewonnen, mehr als irgendeine andre Partei, die Sozialdemokratie kaum ausgeschlossen, und mitunter ist mir's, als stiegen die seligen Quitzows wieder aus dem Grabe herauf. Und wenn das geschieht, wenn unsre Leute sich auf das besinnen, worauf sie sich seit über vierhundert Jahren nicht mehr besonnen haben, so können wir was erleben. Es heißt immer: ›unmöglich‹. Ah hab, was ist unmöglich? Nichts ist unmöglich. Wer hätte vor dem 18. März den ›18. März‹ für möglich gehalten, für möglich in diesem echten und rechten Philisternest Berlin! Es kommt eben alles mal an die Reihe; das darf nicht vergessen werden. Und die Armee! Nun ja. Wer wird etwas gegen die Armee sagen? Aber jeder glückliche General ist immer eine Gefahr! Und unter Umständen auch noch andre. Sehen Sie sich den alten Sachsenwalder an, unsren Zivil-Wallenstein. Aus dem hätte schließlich doch Gott weiß was werden können.«
»Und Sie glauben«, warf der Graf hier ein, »an dieser scharfen Quitzow-Ecke wäre Kaiser Friedrich gescheitert?«
»Ich glaub' es.«

(Fontane: Stechlin, 35. Kapitel)

28 März 2008

Judt und Seume

Meine Lektüre von Judts Geschichte Europas von 1945 bis 2005 und Seumes Autobiographie Mein Leben habe ich im ZUM-Wiki dokumentiert.

24 März 2008

Abendkranich

Hisako Matsubara, die Tochter eines Shintō-Priesters, schildert in Abendkranich, die Kindheit der Tochter eines Shintō-Priesters in den Jahren ab 1945, die durch Festhalten an Traditionen und Aufgeschlossenheit für das Neue gekennzeichnet ist wie die japanische Kultur seit über tausend Jahren. Ein Leserin des Buches berichtet, sie sei in Kyoto gewesen und "ich traf auf ihren Bruder, der mittlerweile den Shinto-Schrein leitete."

Hineingesehen

In den letzten Tagen hatte ich die Gelegenheit, in größerem Umfang in Bücher meines Bruders hineinzusehen, und habe dabei manche neue Leseerfahrung gemacht.
Da ist Barbara Tuchmans Die Torheit der Regierenden, eine eindrückliche Warnung davor, zu glauben, aufgrund von Geheimdienstinformationen, bessere Kenntnis des nationalen Interesses und höherer politischer Zwänge seien Regierende besser imstande als der "kleine Mann", zu beurteilen, wie den Interessen des Landes am besten gedient wird. Das ist zwar nicht ungewöhnlich, doch kann sie eine Fülle von Gegenbeispielen anführen und belegen.
Adolf Horst schreibt über Tausend Jahre Jugendzeit, eine Jugend im Nationalsozialismus mit Kriegserfahrungen. Sehr unmittelbar anrührend, lebensecht.
Elsa Sophia von Kamphoevener hat An Nachtfeuern der Karawan-Serail 1957 Märchen und Geschichten alttürkischer Nomaden veröffentlicht, die sie als Mann verkleidet in Begleitung ihres Vaters von türkischen Märchenerzählern hörte. Diese Welt kennt Diebstahl als Meisterschaft und lässt eine Kultur mit völlig von unseren Denkgewohnheiten abweichenden Normen liebenswert erscheinen.
Carlo Schmids Erinnerungen lassen ohne Rechthaberei die wichtige Rolle dieses Grandseigneurs der SPD an den Anfängen der BRD deutlich werden.

23 März 2008

In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert

Paul Kennedy betrachtet in diesem Werk von 1996 die Zukunftsperspektiven der Großmächte in der internationalen Politik. Japan sieht er als von großem wirtschaftlichen und Bildungspotential geprägt, zweifelt aber an der politischen Flexibilität. Bei den USA sieht er die Gefahr der imperialen Überdehnung.

Frühe Stätten der Christenheit

Reich wird das Athos-Kloster, weil die Mönche sich völlig von der Welt absondern. Denn deshalb gelten sie als so heilig, dass die byzantinischen Kaiser bei allen großen Entscheidungen sich ihren Rat durch reiche Geschenke zu erkaufen suchen.
Peter Bamm weiß über seine Reisen zu den frühen Stätten der Christenheit sehr lebendig zu berichten. Aus seiner Sicht ist klar, dass Konstantinopel, Rom und Athen hinter der wichtigsten, weil heiligsten Stadt zurückstehen müssen: Jerusalem.

Unsichtbare Flagge Humanität

Unter dem Künstlernamen Peter Bamm veröffentlichte der Arzt Curt Emmrich seine Kriegserinnerungen an den zweiten Weltkrieg.
Man durfte kein Mitleid haben, weil sonst die tägliche Arbeit über alle Kräfte gegangen wäre, meint er. Und doch entscheidet er sich als Chirurg nicht dafür, dem 19jährigen beide Hände abzunehmen, obwohl es medizinisch sicherer erscheint. Mitgefühl lässt sich auch in erzwungener Routine nicht ganz ausschalten.

Humanistisch gebildet

Zweiter Weltkrieg im Kessel. Ein Kriegsgerichtsrat und ein Feldchirurg gönnen dem jungen Mann, dass er ausgeflogen wird und so der Alternative Heldentod oder Kriegsgefangenschaft entkommt. Deshalb sagt der Kriegsgerichtsrat zu ihm:
Ὦ ξεῖν᾿, ἀγγέλλειν Λακεδαιμονίοις ὅτι τῇδε
κείμεθα τοῖς κείνων ῥήμασι πειθόμενοι
Ō xein' ángelléin Lakedáimonióis hoti tēde
kéimetha tóis keinōn rhēmasí peithoménoi.
Als der junge Mann nicht versteht, fügt er hinzu:
Díc hospés Spartae nos té hic vidísse iacéntes,
dúm sanctís patriae légibus óbsequimúr.

Der junge Mann versteht immer noch nicht. Sie erklären ihm nichts.
Als er gegangen ist, meint der Kriegsgerichtsrat: "Lohnt es sich bei den Kenntnissen, dass er überlebt?"
Denn nach seiner Ansicht hätte er doch unbedingt die Anspielung auf das Opfer der Spartaner bei der Schlacht bei den Thermopylen verstehen müssen. Schillers Übersetzung hinzuzufügen, wäre ihnen barbarisch erschienen.
Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest
uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.

Zu offensichtlich schien ihnen, dass er in der Heimat der Bote ihres Untergangs sein sollte.
Es waren noch humanistisch gebildete Menschen, die sich zu Hitlers Angriffswerkzeug machen ließen.

Gescheiterter Bekehrungsversuch

Sie fesselten ihm die Hände auf den Rücken, legten seine Füße in Ketten und setzten sich auf seine Brust. Er fragte seine Tochter, warum sie sich so verhalte. Sie antwortete ihm: "Wenn ich wirklich deine Tochter bin, so werde Muslim; denn ich bin eine Muslimin geworden. ..." ... "Aber er weigerte sich und ward verstockt." Da durchschnitt ihm Aladin die Kehle.
(Aus den Geschichten von tausendundeine Nacht)

Geschlechtsrollen

Eine junge Frau macht den von ihr geliebten Mann, einen Medizinstudenten, bei ihrer seit Jahren ersten Begegnung darauf aufmerksam, dass eine andere Frau seiner Hilfe bedarf. Unaufgeklärt, wie sie ist, erfährt sie erst während der Geburtshilfe, dass es sich um Wehen handelte.
Dass sie sexuellen Missbrauch und Nötigung nicht zu verhindern versteht, wird ihr negativ angerechnet. Die richtige Partnerin des Mediziners ist eine unberührte adlige Bankierstochter, deren Vater nach der Zurückweisung des Arztes Konkurs macht und Selbstmord begeht. So lesen sich Frauenromane von Marie Louise Fischer.

22 März 2008

Templer und Johanniter

Ludovica Hesekiel, Tochter eines guten Bekannten Fontanes schrieb diesen Roman 1887.
Held ist der Sohn eines Rittergeschlechts, das in Köln ansässig geworden ist, und der sich bei der Schlacht von Worringen seine ersten militärischen Verdienste erwirbt. Auf der Seite Kölns kämpfend erreicht er doch, dass der Hauptgegner, der Erzbischof Siegfried von Westerburg, nicht getötet, sondern nur gefangen genommen wird.
Später wird er Tempelritter. Seine Unruhe treibt ihn in ungezählte Fehden, in denen er immer wieder der gerechten Seite zum Siege zu helfen versucht. So fällt er schließlich in einer Fehde des Kölner Erzbischofs als dessen Feldhauptmann.
Als Frauenroman erscheint er mir erkennbar an der ausgesprochenen Liebe für die Beschreibung von Textilien. Ambinitioniert erscheint er mir, weil er die verschiednen Stände der Stadt Köln und ihre Situation im 13. und 14. Jahrhundert recht genau in den Blick nimmt.

21 März 2008

Märchen

Wenn man in einer Erzählung von einer Prinzessin hört, die in einen Prinzen verliebt ist, von dem sie weder seinen Namen noch den Namen seines Herkunftslandes kennt, so wird man annehmen, dass die Erzählung ein Märchen ist.
Wenn diese Prinzessin ihre Dienerin erschlägt, am Hals angekettet wird und sich nach Jahren durch eine kräftige Bewegung des Halses befreit, wird die Annahme zur Gewissheit.

Was hat man danach zu erwarten?
Dass ihr Geliebter, als er „von noch heftigerer Liebesleidenschaft“ zu ihr ergriffen wird, sie verlässt und einen Tag lang einem Stein nachläuft, bis er nicht mehr zurückfindet. Dass sie, als sie ihn nach Monaten wieder ausfindig macht, „um Lust und Freude noch zu erhöhen“, sich ihm gegenüber als Mann ausgibt und dass er bereit ist, mit diesem unbekannten Mann zu schlafen.
Wenn sie darauf gemeinsam ein Gedicht von 24 Zeilen sprechen, dann darf man getrost darauf warten, dass es weiter geht: „Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, dass“ er darauf den Plan entwickelt, eine andere Frau zu heiraten, und sie deren Dienerin werden will, sich in deren Sohn verliebt, ihm einen Liebesbrief überbringen lässt und ihr Mann darauf beschließt, diesen seinen Sohn zu töten. Als Märchenkenner erwartet man nun, dass dieser nicht getötet wird. Doch warum? Weil „plötzlich sein Pferd scheute und in die Wüste davon rannte. Jenes Pferd aber hatte tausend Goldstücke gekostet, und es trug einen prächtigen Sattel, der viel Geld wert war. Darum warf der Schatzmeister das Schwert aus der Hand und eilte seinem Rosse nach. --“
„Da bemerkte Scherezad, dass der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an.“ Und der Leser, der es bis dahin nicht bemerkt haben sollte, weiß jetzt, dass er in einer der Erzählungen aus Tausendundeine Nacht liest.
Ich aber gestehe, dass ich in dieser Erzählung mehrmals in meinen Leseerwartungen getäuscht wurde.

Borodino

Die Schlacht bei Borodino entwickelte sich hauptsächlich auf einer Strecke von tausend Faden zwischen Borodino und den Schanzen Bagrations. Auf dem übrigen Schlachtfeld wurden auf dem einen Flügel durch die Russen während der Hälfte des Tages Demonstrationen von der Kavallerie Uwarows gemacht, und auf dem anderen Flügel bei Utiza fand der Zusammenstoß Poniatowskys mit Tutschkow statt. Aber das waren zwei getrennte und schwache Vorgänge im Vergleich mit dem, was in der Mitte des Schlachtfeldes vorging. Die Schlacht begann mit Geschützfeuer von beiden Seiten aus einigen hundert Kanonen. Dann, als der Rauch das ganze Feld bedeckte, rückten von französischer Seite zuerst zwei Divisionen, Dessaix und Compans, gegen die Schanzen vor und zur Linken die Regimenter des Vizekönigs Eugen gegen Borodino. Von der Redoute bei Schewardino, auf welcher Napoleon stand, waren die Schanzen nur eine Werst entfernt, Borodino aber mehr als zwei Werst, und deshalb konnte Napoleon nicht sehen, was dort vorging, weil der Rauch alles verhüllte. Die Soldaten der Division Dessaix, welche gegen die Schanzen vorrückten, waren nur so lange sichtbar, bis sie die Schlucht erreichten, die sie von den Schanzen trennte. Sobald sie die Schlucht hinabstiegen, war der Rauch so dicht, daß die andere Seite der Schlucht ganz verhüllt war.
Die Sonne brach hell hervor und traf mit ihren schiefen Strahlen gerade das Gesicht Napoleons, welcher unter der Hand nach den Schanzen blickte. Bald hörte man aus den Rauchwolken vor den Schanzen hervor Zurufe der Leute, aber man konnte nicht wissen, was sie dort taten. Napoleon stand auf dem Hügel und blickte durch ein Fernrohr, ohne etwas deutlich wahrnehmen zu können. Er ging auf und ab, horchte zuweilen auf die Schüsse und blickte wieder nach dem Schlachtfeld.
Beständig kamen zu Napoleon Adjutanten und Ordonnanzen seiner Marschälle mit Meldungen über den Verlauf der Schlacht. Aber alle diese Meldungen waren falsch, sowohl deshalb, weil man in der Hitze des Gefechts nicht sagen konnte, was in einem gegebenen Augenblick vorging, als auch deshalb, weil viele Adjutanten nicht bis zum wirklichen Kampfplatz gekommen waren und nur berichteten, was sie von anderen gehört hatten, und endlich auch deshalb, weil in der Zeit, während der Adjutant zwei bis drei Kilometer weit ritt, die Umstände sich veränderten und die Nachrichten, die er brachte, schon wieder unrichtig waren. So brachte ein Adjutant vom Vizekönig Eugen die Nachricht, Borodino und die Brücke über die Kolotscha seien genommen und in den Händen der Franzosen. Der Adjutant fragte, ob Napoleon befehle, den Fluß zu überschreiten. Napoleon befahl, an dem eroberten Ufer sich festzusetzen und zu warten. Aber schon als der Adjutant von Borodino wegritt, war die Brücke von den Russen wieder genommen und verbrannt worden bei jenem Angriff, an welchem Peter am Anfang der Schlacht teilgenommen hatte.
(Tolstoi: Krieg und Frieden, 2. Band, 2. Teil, Kap.33)

12 März 2008

Tausendundeine Nacht

Orientalische Erzählungen im weitesten Sinne sind es. Indischen Ursprungs ist der Kern, dann wurde er persisch überformt, die älteste überlieferte Handschrift aus dem 15. Jahrhundert (jetzt neu übersetzt) ist arabisch. Der erste Herausgeber, der französische Orientalist Antoine Galland, steuerte die getrennt überlieferten Erzählungen von Sindbad und Ali Baba und manches nur mündlich überlieferte Erzählgut, das er 1709 in Paris bei einem syrischen Erzähler kennenlernte, bei. Ein großer Teil der Erzählungen, die handschriftlich erst nach Gallands Ausgabe auftauchten, ist ägyptischen Ursprungs.
Was sich den Europäern des 18. und 19. Jahrhunderts darbot und ihnen so anziehend fremdländisch orientalisch vorkam, war in der Tat ein auch bis heute kaum zu scheidendes Gemisch, das zudem bei der Übersetzung auch dem jeweiligen Zeitgeschmack angepasst wiedergegeben wurde.
Dass solche Erzählungen - wie auch Grimms Märchen - ursprünglich keine Kindergeschichten, sondern volkstümliche Erwachsenenliteratur waren, wird freilich erst in einer unverkürzten Fassung deutlich. Dabei wird auch das Eigentümliche des jeweiligen Ursprungslandes und damit der große Abstand zur europäischen Tradition in Ansätzen so deutlich, dass man merkt, dass es erheblicher Bildungsanstrengungen bedürfte, dem als Europäer des 21. Jahrhunderts auch nur halbwegs gerecht zu werden.

1001 Nacht aus Tunesien (übersetzt von Habicht)

10 März 2008

Tausendundeine Nacht – Geschlechterverhältnis

Eindrucksvoll ist, was die Geschichten von Tausendundeine Nacht über die männliche Sicht auf das Geschlechterverhältnis in der patriarchalisch muslimischen Gesellschaft aussagen.

Die Rahmenerzählung weist auf die Angst des Mannes hin, der fürchtet, von seiner Frau trotz ihrer Einschließung im häuslichen Bereich betrogen zu werden. Der König Scherijar und sein Bruder Schahzaman erleiden dies Schicksal. Bezeichnenderweise erholt sich Schahzaman von der daraus entstandenen Depression erst, als er erfährt, dass es seinem Bruder genauso ergeht.
Dieser, der König Scherijar, beschließt auf Nummer sicher zu gehen und sich gleichzeitig am gesamten weiblichen Geschlecht zu rächen, indem er seine Frauen von jetzt ab in der Nacht ihrer Entjungferung töten lässt. Die Tochter seines Wesirs Schehrezad löst dies, sein Problem, indem sie stets an seiner Seite bleibt und die Zeit, in der er nicht sexuell mit ihr verkehren will oder kann (noch kein Viagra erfunden), durch ihre Geschichten ausfüllt.

In einigen der Einzelgeschichten wird die Angst des Mannes noch deutlicher zum zentralen Thema.
Ein Dämon führt seine Frau ständig in einem verschlossenen Kasten mit sich, damit sie ihn nicht betrügen kann, und sie weist zum Beweis, wie oft es ihr dennoch gelungen ist, stolz 570 Ringe ihrer Sexualpartner vor.
Ein König wird von seiner Frau sogar mit einem abgrundtief hässlichen Schwarzen betrogen und wie zum Beleg, dass ihm damit seine Geschlechtsrolle genommen wird, von ihr an seinem gesamten Unterleib versteinert. Die Frau, die ihren Mann betrügt, erscheint somit als Hexe. Auch hier wird der Mann erst vom Bann gelöst und wieder normal, als seine Frau und ihr Geliebter getötet sind.
In der Geschichte des Lastträgers und der drei Damen wird die Eifersucht des Mannes dargestellt, die er nicht nur gegenüber seiner Frau, sondern gegenüber der gesamten Frauengemeinschaft, mit der zusammen sie von der Welt der Männer abgeschlossen ist, empfindet. Denn diese drei Damen der Erzählung vergnügen sich miteinander und nutzen die kleinste Gelegenheit beim Einkaufen, um sich einen Mann als Spielzeug zu verschaffen. Ihr rechtmäßiger Herrscher, in diesem Fall durch den Kalif Harun er Raschid verkörpert, kommt nur als Gast in diese Welt und wird, als er versucht, in die Geheimnisse der Frauenwelt einzudringen, mit dem Tode bedroht.

03 März 2008

Tausendundeine Nacht - mittelalterlicher Ritterroman

Wenn man nur die gängigen Geschichten kennt, ist man über den "Realismus" der Geschichte von 'Adschib und Gharib überrascht. Ein Feldherr, der sich vor Angst die Hosen beschmutzt, gegnerische Könige, die gegeißelt werden, bis das Winseln aufhört, oder in zwei Hälften neben einem Tor aufgehängt werden. Tausende von Geistern, die in Geisterschlachten ganz normal mit Schwertern aufeinander einhauen und sich töten. Ein Kämpfer, der, auch nachdem er sich zum Islam bekehrt hat, nicht von seiner Gewohnheit ablässt, sich Gegner, die er besiegt hat, rösten zu lassen, um sie dann zu verspeisen.

Da reicht die Beschreibung des Prunks von Palästen Thronen und Zelten nicht aus, um sich ganz bei der Wunderlampe und Harun Er-Raschid zu fühlen.
Bemerkenswert, dass immer wieder die rechtgläubigen Muslime des Irak die feueranbetenden Heiden Persiens schlagen, ihnen "den Koran darlegen" und die, die ihn nicht annehmen, dann erschlagen.

27 Februar 2008

Pauline Brater

Pauline wird in eine lebensfrohe Familie von Naturwissenschaftlern hineingeboren und geht daher lebenslang selbstverständlich mit Naturwissenschaften um. Sie heiratet einen Juristen, der aus einer sehr korrekten und pflichtbewussten Familie stammt, ist, wie er vor der Hochzeit zu Recht sah, "schmiegsam" und passt sich trotz eifrigen Widerspruchs in den ersten Ehejahren an das entbehrungsreiche Leben eines demokratischen Juristen in Bayern vor 1848 an.
Ihre Berichte von ihrer Jugend müssen aber sehr lebhaft gewesen sein, denn ihre Tochter Agnes schreibt nach der Biographie ihrer Mutter "Die Familie Pfäffling". Sie schreibt es unter dem Namen Agnes Sapper, aber es lebt aus dem Geist der Familie ihrer Mutter, der Familie Pfaff.

10 Februar 2008

Komm, Liebchen, komm

Komm, Liebchen, komm! umwinde mir die Mütze!
Aus deiner Hand nur ist der Tulbend schön
Hat Abbas doch auf Irans höchstem Sitze
Sein Haupt nicht zierlicher umwinden sehn!

Ein Tulbend war das Band, das Alexandern
In Schleifen schön vom Haupte fiel
Und allen Folgeherrschern, jenen Andern,
Als Königszierde wohlgefiel.

Ein Tulbend ist's, der unsern Kaiser schmücket,
Sie nennen's Krone. Name geht wohl hin!
Juwel und Perle! sei das Aug entzücket!
Der schönste Schmuck ist stets der Musselin.

Und diesen hier, ganz rein und silberstreifig,
Umwinde, Liebchen, um die Stirn umher!
Was ist denn Hoheit? Mir ist sie geläufig!
Du schaust mich an, ich bin so groß als er.

Im Gedicht Vier Gnaden hatte Goethe noch den Osten gegen den Westen ausgespielt Den Turban erst, der besser schmückt Als alle Kaiserkronen und den Turban vor Zelt, Schwert und Lied als erste der Gnaden genannt.
Hier betont er das Gleichartige. Seinen Wert fühlt der Geliebte, wenn er mit den Augen der Liebe gesehen wird. Ob Turban, Krone oder Tuch, ist dabei egal.
Im Eintrag When in disgrace sehen wir dann die Liebe noch weit höher gestellt.

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Hegire

Nord und West und Süd zersplittern,
Throne bersten, Reiche zittern,
Flüchte du, im reinen Osten
Patriarchenluft zu kosten,
Unter Lieben, Trinken, Singen,
Soll ich Chisers Quell verjüngen.

Dort, im Reinen und im Rechten,
Will ich menschlichen Geschlechten
In des Ursprungs Tiefe dringen,
Wo sie noch von Gott empfingen
Himmelslehr' in Erdesprachen,
Und sich nicht den Kopf zerbrachen.

Wo sie Vater hoch verehrten,
Jeden fremden Dienst verwehrten;
Will mich freun der Jugendschranke:
Glaube weit, eng der Gedanke,
Wie das Wort so wichtig dort war,
Weil es ein gesprochen Wort war.

Will mich unter Hirten mischen,
An Oasen mich erfrischen,
Wenn mit Karawanen wandle,
Schal, Kaffee und Moschus handle.
Jeden Pfad will ich betreten
Von der Wüste zu den Städten.

Bösen Felsweg auf und nieder
Trösten Hafis deine Lieder,
Wenn der Fuhrer mit Entzücken,
Von des Maultiers hohem Rücken,
Singt, die Sterne zu erwecken,
Und die Räuber zu erschrecken.

Will in Bädern und in Schenken,
Heil'ger Hafis dein gedenken,
Wenn den Schleier Liebchen lüftet
Schüttlend Ambralocken düftet.
Ja des Dichters Liebesflüstern
Mache selbst die Huris lüstern.

Wolltet ihr ihm dies beneiden,
Oder etwa gar verleiden;
Wisset nur, daß Dichterworte
Um des Paradieses Pforte
Immer leise klopfend schweben,
Sich erbittend ew'ges Leben.

Hegire, in deutscher Umschrift meist als Hedschra, das Exil Mohammeds, der Mekka verlässt. So denkt sich Goethe am 24.12.1814 in Jena aus den Befreiungskriegen fort in einen Osten des Dichters Hafis, der sich seinerseits gegen tyrannische weltliche Herrschaft im Persien des 14. Jahrhunderts und gegen strenge Glaubensgebote des Islams auflehnte, und schrieb seinen west-östlichen Divan.

Zum Kontext sieh auch

When in disgrace

When in disgrace with fortune and men's eyes,
I all alone beweep my outcast state,
And trouble deaf Heaven with my bootless cries,
And look upon myself, and curse my fate,
Wishing me like to one more rich in hope,
Featur'd like him, like him with friends possess'd,
Desiring this man's art, and that man's scope,
With what I most enjoy contented least:
Yet in these thoughts myself almost despising,
Haply I think on thee,--and then my state
(Like to the lark at break of day arising
From sullen earth) sings hymns at heaven's gate;
For thy sweet love remember'd such wealth brings
That then I scorn to change my state with kings'.


Der Liebende, der seine Geliebte mit tausend Sonnen vergleicht, kann nicht höher greifen, als der Sprecher hier: Wenn ich mein Schicksal verfluche, brauche ich mich nur an deine Liebe zu erinnern, um mein Los nicht mit einem Könige zu tauschen.
Wir wissen doch, wie der gegenwärtige Schmerz uns ganz ausfüllt, wie die gegenwärtige Stimmung uns die sonst höchsten Genüsse schal werden lässt, wie Erinnerungen an vergangenes Glück uns wehmütig machen. Und hier: ein Jubelgesang am Himmelstor, wo eben noch ich mein Schicksal verflucht habe. Alles das soll nicht gegenwärtige, sondern vergangene, nur erinnerte Liebe bringen.

07 Februar 2008

Wallenstein

Golo Mann ist der einzige Historiker, der den angesehensten deutschen Literaturpreis, den Büchner-Preis, erhalten hat. Außerdem hat er sich einen Gegenstand gewählt, den Friedrich Schiller in seinem ambitioniertestes Theaterstück bearbeitet hat.
Für ein so detailreiches Geschichtswerk ist es erstaunlich gut zu lesen.
Wie viel besser er seinen Helden zu verstehen glaubt, als ein bloßes Aktenstudium hergibt, ist freilich manchmal erstaunlich:
Wenn die von ihm gelegentlich formulierten Bedingungen grimmig klangen, so war es Illusion des Augenblicks oder verbale Anpassung an das, was in Wien oder Prag geredet wurde. In der Logik seines Denkens lag es nicht, aber die mag ihm nur allmählich bewußt geworden sein.

So schreibt Golo Mann in seiner Monographie mit dem bezeichnenden Titel "Wallenstein. Sein Leben erzählt von Golo Mann"

24 Januar 2008

Der Wanderer zwischen beiden Welten

"Sein Gehen war federnde, in sich beruhende und lässig bewegte Kraft, jenes Gehen, das »Schreiten« heißt, ein geruhiges, stolzes und in Stunden der Gefahr hochmütiges Schreiten. Der Gang dieses Menschen konnte Spiel sein oder Kampf oder Gottesdienst, je nach der Stunde." Das schrieb Walter Flex über Ernst Wurche und schrieb damit ein Kultbuch der Jugendbewegung.

Zwölf Bismarcks

Zwölf Bismarcks ist eine 1913 erschienene Sammlung von Novellen von Walter Flex, die ähnlich wie Gustav Freytags Die Ahnen an einer Folge von Individuen einer Geschlechterfolge verschiedene Epochen zu vergegenwärtigen sucht.

Walter Flex hatte als Hauslehrer der Famile Bismarck in Varzin und später in Friedrichsruh bei Hamburg eine Beziehung zu Familie und Familiengeschichte der Bismarcks aufgebaut und ähnlich wie sein Veter das Bedürfnis, Otto von Bismarck als Nationalhelden zu verherrlichen. Das versuchte er wie in seinem Drama Klaus von Bismarck und der Erzählung Der Kanzler Klaus von Bismarck durch den Blick auf die Geschichte, die die Bismarcks in der Geschichte der Mark spielten. Anders als in der Darstellung zu Klaus von Bismarck geht es ihm freilich nicht um eine Stilisierung aller dieser Personen zu Nationalhelden. Vielmehr werden einzelne Personen auch etwas kritisch betrachtet. So der Junggeselle Carl Alexander von Bismarck, der sich in den Kopf setzt, eine Verwandte zu heiraten, von deren Existenz er erfahren hat, ohne sich vorher zu informieren, ob sie überhaupt noch lebt.