26 März 2013

Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft

Ist das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom charakteristisch für unsere Gesellschaft, weil wir alles positiv sehen wollen und uns deshalb von nichts mehr abgrenzen können?
Solche Fragen stellt sich Byung-Chul Han in seiner Schrift "Müdigkeitsgesellschaft"

Mark Simons meint in seiner Rezension in der FAZ, es sei eine "utopische[n] Müdigkeit. Es ist eine Müdigkeit, die nicht vereinzelt, sondern vom Ich und dessen Tätigkeitszwang befreit, die dadurch beredt und sehend macht und versöhnt."

Dann aber meint er, so genau könne man nicht sagen, was Han vertritt. Es sei mehr eine asiatische Kritik an europäischen Vorstellungen, vorgetragen unter Berufung auf westliche Denken.

Der Wikipediaartikel formuliert unter Berufung auf Steffen Kraft vom freitag, er fürchte einen "Druck zur freiwilligen Offenlegung intimer Details, der laut ihm an Pornografie grenzt und ein totalitäres System der Offenheit zu Lasten anderer sozialer Werte wie Scham, Vertraulichkeit und Vertrauen erzeugt".

24 März 2013

17. Juni aus der Sicht de Bruyns

de Bruyn schreibt in "Vierzig Jahre" (dazu Spiegel 12.8.96, 1.10.96; Kommune Okt. 96)

"Eingezwängt in der Masse, in der meiner Erinnerung nach, Frauen fehlten [...] fühlte ich mich, eingekeilt zwischen Menschenleibern, von Ekel gepeinigt und meiner Freiheit beraubt." (S.47)

Er er ist ein Gegner des Regimes und denkt darüber nach, dass er an sich zu der Menge reden müsste, um ihr ein Ziel zu geben. Dennoch schreibt er 1996, wo es erwartet wurde, dass man seine Gegnerschaft zum DDR-Regime möglichst deutlich bekundete, offen über seine Hauptempfindung bei dieser so wichtigen Bekundung der Ablehnung dieses Regimes, die so vielen Beteiligten Folter und andere Bedrängnisse brachte.

Sein Bedürfnis, nichts zu beschönigen kommt in diesen Erinnerungen immer und immer wieder sehr deutlich zum Ausdruck.

Ich zitiere Udo Scheer: Gefährlich liberal:
In Vierzig Jahre wird auf sympathisch uneitle Weise die Lebenshaltung eines bewußt in der DDR gebliebenen Kritikers transparent. Zaudern, eingegangene Kompromisse und Selbstzweifel sind dabei nicht ausgespart.

22 März 2013

Jean Paul: Ideengewimmel und Hesperus

Jean Paul war ein Vielschreiber mit einem unglaublichen Ideengewimmel, von dem er so viel, wie möglich, in seine Romane eingebracht hat.
Zu seinem 250. Geburtstag (21.3.) haben sich manche gemeldet:
WeltFRtaz, FAZ, Stern,  Gleimhaus, ZEIT und viele mehr.

Ich lese gelegentlich im Hesperus und setze hierher, was mir im dortigen Ideengewimmel bisher besonders auffiel:


unser geliebter Goethe wird, so sehr er auch » emergiert und eminiert«, am Ende in irgendeiner künftigen Auflage z. B. eben beide Wörter, die er in der letzten [Fußnote: Dessen sämtliche Werke. B. 3 S. 68. ] auf einer Zeile zum Worte kommen läßt, zum Buche hinauswerfen müssen.
Sonst übrigens wird die deutsche Sprache sogar durch die größte Gastfreiheit gegen Fremdlinge niemals verarmen und einkriechen. Denn stets zeugt sie (wie alle Wörterbücher beweisen) aus ihren immer frischen Stammbäumen hundertmal mehre Kinder und Enkel und Urenkel, als sie fremde Geburten an Kindes Statt annimmt; so daß nach Jahrhunderten die aus unsern forttreibenden Wurzelwörtern aufgegangne Waldung die nur als Flugsame aufgekeimten Fremd-Wörter ersticken und verschatten muß, zuletzt als ein wahrer Lianenwald aufgebäumt, dessen Zweige zu Wurzeln niederwachsen und dessen aufwärts gepflanzte Wurzeln zu Gipfeln ausschlagen.
Der spätere Mensch hält zu leicht das Ändern am jüngern für ein Bessern desselben; aber wie kein Mensch den andern ersetzen kann, so kann auch nicht einmal derselbe Mensch sich in seinen verschiedenen Alterstufen vertreten, am wenigsten der Dichter.
Diese Nachsicht der Kritiker für einen Bücherschreiber, der wie ein Katholik mehr gute Werke verübt, als er zur Seligkeit braucht, ...
das Publikum selber hat über ein Kapitel 45 Meinungen, wie Cromwell vier widersprechende Briefe an denselben Korrespondenten diktierte, bloß um seinen Schreibern den wahren zu verhehlen, den er fortschickte: – –
Die Kaplänin erzählte nun so viel von Viktor, als alle schon wußten. Aber dieses Wiederholen der alten Geschichte ist eben der schönste Reiz des häuslichen Gesprächs.
denn die Menschen soll keiner belachen als einer, der sie recht herzlich liebt.« – –
Nur ein Mensch, der nach einem Freunde gerade so wie nach einer Freundin schmachtet, verdienet beide.
so übernehm' ich das biographische Werk, unter der Bedingung, daß darin die Wahrheit nur meine Gesellschaftdame, aber nicht meine Führerin sei.
ein Satiriker kann sich Hoffnung machen, daß selten ein Leser seine Gemälde moralischer Krankheiten, seine anatomischen Tafeln von geistigen Mißgeburten auf sich anwenden werde; er kann froh und frei Despotismus, Schwäche, Stolz und Narrheit ohne die geringste Sorge malen, daß einer dergleichen zu haben sich einbilde; ja ich kann das ganze Publikum oder alle Deutsche einer ästhetischen Schlafsucht, einer politischen Abspannung, eines kameralistischen Phlegma gegen alles, was nicht in den Magen oder Beutel geht, beschuldigen; aber ich traue jedem, der mich lieset, zu, daß er wenigstens sich nicht darunter rechne, und wenn dieser Brief gedruckt würde, wollt' ich mich auf eines jeden inneres Zeugnis berufen. –
warum ist ein Mensch zuweilen so glücklich? Darum: weil er zuweilen ein Literatus ist. Sooft das Schicksal unter seinem Schleier das Lebenströmchen eines Literatus, das über einige Hörsäle und Bücherbretter rinnt, aus dem großen Weltatlas in eine Spezialkarte hineinpunktiert: so kann es so denken und sagen: »Wohlfeiler und sonderbarer kann man doch kein Wesen glücklich machen, als wenn man es zu einem literarischen macht: sein Freudenbecher ist eine Dintenflasche – sein Trommetenfest und Fasching ist (wenn es rezensiert) die Ostermesse – sein ganzer paphischer Hain geht in ein Bücherfutteral hinein – und in was anderm bestehen denn seine blauen Montage als in (geschriebnen oder gelesenen) Hundposttagen?«
Sie war bei der Vermählung mit dem Lord 22 Jahre alt, und ihr ganzes Wesen war (wenn ich den kühnen Ausdruck eines Londner Lobredners derselben nehmen darf) nichts als ein einziges zartes stilles blaues Auge. Das ist alles, was man dem Publikum zuwendet. –
Aber die Totenglocke warf ihre Mißtöne in diese Wohllaute des Lebens. Die Geliebte des Lords flog aus der rauhen Erde und ließ ihr seinen ersten Sohn als Andenken und Herzpfand zurück; sie starb im 23sten Jahr gleichsam am Leben des Kindes, einige Tage nach dessen Geburt, und der zarte dünne Zweig brach unter der reifen Frucht zusammen. Lord Horion schwieg vor dem Geschick. Er hatte sie fürchterlich geliebt, ohne es zu zeigen; er betrauerte sie ebenso, ohne sein tiefes schwarzes Auge zu benetzen. Der Fürst fand an der Nichte, d. h. an einer wahren Engländerin, darum Geschmack, weil er vorher einen ebenso großen an den Französinnen gefunden hatte; und aus diesem Grunde hätt' er umgekehrt diese geliebt, hätt' er vorher jene gekannt. Der nachherige Obrist-Kammerherr Le Baut hatte dieselbe Gesinnung, und was noch mehr ist, gegen dieselbe Person; und wie die indischen Hofleute alle Wunden ihres Herrn nachahmen, so machte Le Baut mit einem Amors-Pfeil die des seinigen nach und versetzte sich eine der stärksten damit.
Der Lord regierte den Regenten leicht, weil er ihn weder an eignen noch fremden Lastern zügelte, sondern an eignen Tugenden. Erstlich begehrte er nichts von ihm, nicht einmal Diät und Keuschheit. Zweitens hob er keine Vettern in den Sattel, sondern schlimme daraus; er trug ihn wie einen Habicht auf der beschuhten Faust, aber der Falkenierer tats nicht, um den Fürsten auf Tauben und Hasen zu werfen, sondern um ihn immer wach und zahm zugleich zu machen. Drittens machten seine Festigkeit und seine Feinheit einander wechselseitig gut; über Veränderliche regieret am besten der Unveränderliche. Viertens war er nicht der Günstling, sondern der Gesellschafter, blieb immer ein Brite und ein Lord und des Landes wohltätiger Bienenvater, indes Januar der Weisel und im Weiselgefängnis war. Fünftens gehörte er unter die wenigen Menschen, denen man gleich sein muß, um ihnen ungehorsam zu sein; und einer, der das Taschenspielerkunststück machen wollte, ihm ein Schloß unversehens an den Mund zu werfen, hatte leicht eines an Bein- und Handschellen der Seele. Sechstens hatt' er einen guten Käse. Das letzte braucht nicht weitläuftig erklärt zu werden; in Chester hatt' er einen Pachter, der einen Käse lieferte, dergleichen es weiter keinen in Europa gibt; Fürsten aber ist im ganzen ein außerordentlicher Käse lieber als eine außerordentliche Dankadresse des Landschaftsyndikus. –
Bei einem Zusammentreffen solcher Unsterne wurde freilich dem Kammerherrn der Absagebrief, der anfangs mit sympathetischer Dinte auf Jenners Gesicht geschrieben war, allmählich immer leserlicher – doch las er ihn wöchentlich etliche Male durch, um recht zu lesen – er konnte jetzo keinem Schoßhunde eine Stelle mehr verschaffen, nämlich einen Schoß – seine Empfehlschreiben wurden Uriasbriefe – als er nun gar durch den Lord die Charge eines Obrist-Kammerherrn erstand, hielt ers für hohe Zeit, gegen seine Kniegicht das Bad auf seinem Rittergut St. Lüne jahraus, jahrein zu brauchen, und zog ab, nachdem er vorher dem ganzen Hof geloben müssen, bald genesen zurückzukommen. –
wir loben es alle; nicht Kälte, sondern Abkühlung ist die größere Weisheit; und unser innerer Mensch soll, wie ein heißer Metallguß in seiner Form, nur langsam erkalten, damit er sich zu einer glättern Gestalt abründe: eben darum hat ihn die Natur – wie man für Bildmetall die Form erwärmt – in einen heißen Körper gegossen.
Agathe drückte ihre Freude bloß mit ihren Lippen aus, indem sie damit schwieg und sie an ihres Bruders seine drückte.
Dahore, sein unvergeßlicher Lehrer in London, der ihn so geliebt, so geschont, so veredelt hatte. »Ach,« dacht' er, »du unbelohntes, für die Erde zu warmes Herz, wo schlägst du jetzt, warum kann ich nicht meine Seufzer mit deinen vereinigen und zu dir sagen: Lehrer, Geliebter? O! der Mensch sieht es oft spät ein, wie sehr er geliebt wurde, wie vergeßlich und undankbar er war, und wie groß das verkannte Herz.« ..
weil zwar Mädchen oft wilde Männer lieben, aber die (durch die Ehe aufgeklärten) Frauen allemal sanfte.
die Säulenordnung des Schöpfers, die Schweizerberge,
Kutscher halten den Herrn nur für die Nebensonne und Nebenpartie des Pferds
Stumm gingen die Wirbel der Liebe um beide und zogen sie näher – sie öffneten die Arme für einander und sanken ohne Laut zusammen, und zwischen den verbrüderten Seelen lagen bloß zwei sterbende Körper – hoch vom Strome der Liebe und Wonne überdeckt, drückten sich auf eine Minute die trunknen Augen zu; und als sie wieder aufgingen, stand die Nacht erhaben mit ihren in ewige Tiefen versunknen Sonnen vor ihnen, die Milchstraße ging als der Ring der Ewigkeit um die Unermeßlichkeit, die scharfe Sichel des Erdenmonds rückte schneidend in die kurzen Tage und Freuden der Menschen. – Aber in dem, was unter den Sonnen stand, was der Ring umzog, was die Sichel angriff, war etwas höher, fester und heller als diese – es war die unvergängliche Freundschaft in den vergänglichen Hüllen.
wahrhaftig, wir achten eine Geschichte, die einmal die unsrige war, und welche die Hülse der verflognen Stunden ist, viel zu wenig, und doch werden die Zeittropfen, durch die wir schwimmen, erst in der Ferne der Erinnerung zum Regenbogen des Genusses.
Die Mönche haben, wie die Anzünder der öffentlichen Laternen, eine Leiter und viel Öl, aber mit dem Öl löschen sie die Lampen aus und den eignen Durst, und mit der Leiter reichen sie die, die wieder anzünden, dem – Galgen.

17 März 2013

Dostojewski: Der Spieler

Darum wird hier scharf unterschieden zwischen derjenigen Art zu spielen, die als »mauvais genre« bezeichnet wird, und derjenigen, die einem anständigen Menschen gestattet ist. Es gibt eben zwei Arten zu spielen: eine gentlemanhafte und eine plebejische, selbstische, das ist die der unfeinen Menge, des Pöbels. Hier wird dazwischen ein strenger Unterschied gemacht; und doch, wie wertlos ist in Wirklichkeit dieser Unterschied! Ein Gentleman wird zum Beispiel fünf oder zehn Louisdor, selten mehr, setzen oder auch, wenn er sehr reich ist, tausend Franc; aber er darf das lediglich um des Spieles willen tun, nur zum Zeitvertreib, eigentlich nur um den Vorgang des Gewinnens oder Verlierens zu verfolgen; für den Gewinn selbst darf er durchaus kein Interesse zeigen. Hat er gewonnen, so darf er zum Beispiel laut lachen, zu einem der Umstehenden eine Bemerkung machen; er darf sogar noch einmal setzen und dabei verdoppeln, aber einzig und allein aus Wißbegierde, um die Chancen zu beobachten und Berechnungen anzustellen, aber nicht in dem plebejischen Wunsch zu gewinnen. Kurz, all diese Spieltische, Rouletts und Trente-et-quarante-Spiele darf er nur als einen Zeitvertreib betrachten, der lediglich zu seinem Amüsement eingerichtet ist.
Von der Gewinnsucht und den Fallstricken, die die Grundlage und Einrichtung der Spielbank bilden, darf er nicht einmal eine Ahnung haben. Sehr gut wäre es sogar, wenn es ihm schiene, daß auch alle übrigen Spieler, dieser Pöbel, der um einen Gulden bangt und zittert, daß auch sie ebensolche reichen Leute und Gentlemen seien wie er selbst und nur zur Zerstreuung und zum Zeitvertreib spielten. Eine solche völlige Unkenntnis der Wirklichkeit und harmlose Meinung von den Menschen wäre gewiß sehr aristokratisch. Ich sah, daß viele Mütter ihre unschuldigen, hübschen, fünfzehn- oder sechzehnjährigen Töchter zum Spieltisch vorwärtsschoben, ihnen einige Goldstücke gaben und sie über das Spiel belehrten. Die jungen Damen gewannen oder verloren, lächelten aber in jedem Falle und traten sehr zufrieden wieder zurück.
Unser General kam in gemessenem Schritt und würdevoller Haltung zum Spieltisch; ein Diener eilte herbei, um ihm einen Stuhl zu reichen; aber er bemerkte den Diener gar nicht. Sehr langsam zog er seine Börse heraus, sehr langsam entnahm er ihr dreihundert Franc in Gold, setzte sie auf Schwarz und gewann. Er nahm den Gewinn nicht, sondern ließ ihn auf dem Tisch. Wieder kam Schwarz; auch diesmal nahm er nichts an sich, und als nun beim drittenmal Rot kam, verlor er mit einem Schlag zwölfhundert Franc. Er ging lächelnd weg und fiel nicht aus der Rolle. Ich bin überzeugt, daß sein Herz sich krampfhaft zusammenzog, und daß, wäre der Einsatz zwei- oder dreimal so groß gewesen, er seiner Rolle nicht treu geblieben wäre, sondern seine Erregung verraten hätte.
Übrigens gewann in meiner Gegenwart ein Franzose bis zu dreißigtausend Franc und verlor dann diese Summe wieder, beides mit heiterer Miene und ohne jede sichtbare Erregung. Ein wirklicher Gentleman darf, selbst wenn er sein ganzes Vermögen im Spiel verlöre, sich nicht darüber aufregen. Das Geld muß so tief unter der Würde eines Gentleman stehen, daß es kaum wert erscheint, daß man sich darum kümmere. [...]

Von Polina Alexandrownas Geld beschloß ich es an diesem Abend mit hundert Gulden zu versuchen. Der Gedanke, daß ich mich auf das Spiel nicht für mich, sondern für einen andern einließ, verwirrte mich einigermaßen; diese Empfindung war sehr unangenehm, und ich wünschte, sie so schnell wie möglich loszuwerden. Es kam mir vor, als unter- grübe ich mein eigenes Glück dadurch, daß ich damit anfinge, für Polina zu spielen. Kann man denn mit dem Spieltisch nicht in Berührung kommen, ohne sogleich vom Aberglauben angesteckt zu werden? Ich begann damit, daß ich fünf Friedrichsdor herausnahm, das sind fünfzig Gulden, und sie auf Paar setzte. Das Rad drehte sich, und es kam Dreizehn; ich hatte verloren. Mit einer peinlichen Empfindung, lediglich um irgendwie loszukommen und wegzugehen, setzte ich noch fünf Friedrichsdor auf Rot. Es kam Rot. Ich setzte alle zehn Friedrichsdor; es kam wieder Rot. Ich setzte wieder das Ganze auf einmal; es kam wieder Rot. Nachdem ich so vierzig Friedrichsdor erhalten hatte, setzte ich zwanzig auf die zwölf mittleren Zahlen, ohne zu wissen, was dabei herauskommen kann. Es wurde mir das Dreifache ausgezahlt. Auf diese Art hatte ich statt zehn Friedrichsdor auf einmal achtzig. Eine mir bisher fremde, sonderbare Empfindung bedrückte mich dermaßen, daß ich beschloß wegzugehen. Es schien mir, daß ich in ganz anderer Weise spielen würde, wenn ich für mich selbst spielte. Jedoch setzte ich alle achtzig Friedrichsdor noch einmal auf Paar. Diesmal kam Vier; es wurden mir noch achtzig Friedrichsdor hingeschüttet; ich ergriff den ganzen Haufen von hundertsechzig Friedrichsdor und ging, um Polina Alexandrowna zu suchen.
Fëdor Michajlovič Dostoevskij: Der Spieler, 2. Kapitel

Nachtrag 2018:
In diesem Blog verfolge ich seit einiger Zeit die Strategie, indem ich meines Erachtens wichtige oder charakteristische Passagen zitiere, mir später die Erinnerung an frühere Lektüren zu erleichtern, und andererseits die Leser des Blogs dazu zu verführen, sich den Gesamttext etwas genauer anzusehen. 

Vielleicht ist aber ein anderes Verfahren für diesen zweiten Zweck bei vielen Lesern meines Blogs wirksamer. Und zwar die Wiedergabe der Handlungsstruktur eines Textes in unterhaltsamer Form, so dass man sich auch an umfassendere Texte herantraut, weil man sie ja schon so ein bisschen kennt.
Daher hier Dostojewskis Der Spieler und Schuld und Sühne in unterhaltsamer Form (Video).

15 März 2013

"Wir neuen Deutschen" oder eine zerrissene Generation?

Özlem Topcu, Alice Bota, Khué Pham:
Drei ZEIT-Journalistinnen schreiben: "Wir neuen Deutschen. Wer wir sind, was wir wollen"

"Jeder Vierte unter 25 hat einen Migrationshintergund - eine zerrissene Generation wächst in Deutschland heran." (S.167)

Die drei jungen Frauen berichten:
Die Erfahrung eines Handicaps, doppelt gut sein zu müssen, um das Gleiche zu erreichen, im Hintergrund die Eltern, für die selbst das Doppelte nicht für das Gleiche ausreichte und die jetzt bei ihrem Kind erfahren wollen, was in ihrem Leben nicht möglich war.
Diese Erfahrung verbindet sich mit dem Gefühl, jetzt zur Elite der ZEIT-Journalisten zu gehören und gleichzeitig zu den Ausgegrenzten dazugerechnet zu werden.
Der Migrationshintergrund, der zum Alleinstellungsmerkmal am Markt geworden ist, gleichzeitig aber mit denen verbindet, für die er immer noch Makel darstellt.

"Können wir uns leisten, dass neue Deutsche zu Fremden werden?" (S.168)
"Migranten der zweiten und dritten Generationen,  die nie in der Heimat gelebt haben, aber auch nie in Deutschland angekommen sind" (S.168)

Giovanni di Lorenzo, ihr Chefredakteur, teilt die Erfahrung des Migrationshintergrundes, freilich eine ganz andere, die er in "Wofür stehst Du? Was in unserem Leben wichtig ist – eine Suche" zusammen mit Axel Hacke dargestellt hat.
Jetzt sind es drei Frauen, die ein ganz anderes Kapitel in der Geschichte der bundesrepublikanischen Geschichte aufschlagen.
Ein Lob auf unsere freiheitliche Gesellschaft und zugleich eine Mahnung an sie, offener zu werden.

"Heimat ist ein sehnsuchtsvolles Ding" (ZEIT)
Aus dem Makel wird ein Merkmal (Deutschlandradio)
heimathafen-neukölln

Die anderen:
Reicht die Chance, Deutsch zu lernen?

13 März 2013

Goethe: Die Müllerin

Wir kennen Schuberts Liederzyklus "Die schöne Müllerin" nach Gedichten von Wilhelm Müller (1821). Mir war bis vor kurzem nicht bekannt, dass Müllerbursch, Bach und Müllerin auch schon 1798 bei Goethe aufeinander trafen und mit einem durchaus unromantischeren Ergebnis (in den Balladen, S.131ff).

Der Junggesell und der Mühlbach

Wo willst du klares Bächlein hin,
Du eilst mit frohem, leichtem Sinn
Hinunter.
Was suchst du eilig in dem Tal?
So höre doch und sprich einmal!

Ich war ein Bächlein, Junggesell;
Sie haben
Mich so gefaßt, damit ich schnell,
Im Graben,
Zur Mühle dort hinunter soll,
Und immer bin ich rasch und voll

Du eilest mit gelaßnem Mut
Zur Mühle
Und weißt nicht, was ich junges Blut
Hier fühle.
Es blickt die schöne Müllerin
Wohl freundlich manchmal nach dir hin?

Sie öffnet früh beim Morgenlicht
Den Laden,
Und kommt, ihr liebes Angesicht
Zu baden.
Ihr Busen ist so voll und weiß;
Es wird mir gleich zum Dampfen heiß.

Kann sie im Wasser Liebesglut
Entzünden,
Wie soll man Ruh mit Fleisch und Blut
Wohl finden?
Wenn man sie einmal nur gesehn,
Ach! immer muß man nach ihr gehn.

Dann stürz ich auf die Räder mich
Mit Brausen,
Und alle Schaufeln drehen sich
Im Sausen.
Seitdem das schöne Mädchen schafft,
Hat auch das Wasser beßre Kraft.

Du Armer, fühlst du nicht den Schmerz
Wie andre?
Sie lacht dich an und sagt im Scherz:
»Nun wandre!«
Sie hielte dich wohl selbst zurück
Mit einem süßen Liebesblick.

Mir wird so schwer, so schwer, vom Ort
Zu fließen:
[133] Ich krümme mich nur sachte fort
Durch Wiesen;
Und käm es erst auf mich nur an,
Der Weg wär bald zurückgetan.

Geselle meiner Liebesqual,
Ich scheide
Du murmelst mir vielleicht einmal
Zur Freude.
Geh, sag ihr gleich, und sag ihr oft,
Was still der Knabe wünscht und hofft.

Der Müllerin Verrat

[133] Woher der Freund so früh und schnelle,
Da kaum der Tag im Osten graut?
Hat er sich in der Waldkapelle,
So kalt und frisch es ist, erbaut?
Es starret ihm der Bach entgegen;
Mag er mit Willen barfuß gehn?
Was flucht er seinen Morgensegen
Durch die beschneiten, wilden Höhn?

Ach, wohl! Er kommt vom warmen Bette,
Wo er sich andern Spaß versprach;
Und wenn er nicht den Mantel hätte,
Wie schrecklich wäre seine Schmach!
Es hat ihn jener Schalk betrogen
Und ihm den Bündel abgepackt;
Der arme Freund ist ausgezogen
Und fast, wie Adam, bloß und nackt.

[134] Warum auch schlich er diese Wege
Nach einem solchen Äpfelpaar,
Das freilich schön im Mühlgehege,
So wie im Paradiese, war.
Er wird den Scherz nicht leicht erneuen;
Er drückte schnell sich aus dem Haus
Und bricht auf einmal nun, im Freien,
In bittre, laute Klagen aus.

»Ich las in ihren Feuerblicken
Nicht eine Silbe von Verrat;
Sie schien mit mir sich zu entzücken
Und sann auf solche schwarze Tat!
Konnt ich in ihren Armen träumen,
Wie meuchlerisch der Busen schlug?
Sie hieß den holden Amor säumen,
Und günstig war er uns genug.

Sich meiner Liebe zu erfreuen!
Der Nacht, die nie ein Ende nahm!
Und erst die Mutter anzuschreien,
Nun eben als der Morgen kam!
Da drang ein Dutzend Anverwandten
Herein, ein wahrer Menschenstrom;
Da kamen Vettern, guckten Tanten,
Es kam ein Bruder und ein Ohm.

Das war ein Toben, war ein Wüten!
Ein jeder schien ein andres Tier.
Sie forderten des Mädchens Blüten
Mit schrecklichem Geschrei von mir. –
Was dringt ihr alle wie von Sinnen
Auf den unschuld'gen Jüngling ein?
Denn solche Schätze zu gewinnen,
Da muß man viel behender sein,

[135] Weiß Amor seinem schönen Spiele
Doch immer zeitig nachzugehn.
Er läßt fürwahr nicht in der Mühle
Die Blumen sechzehn Jahre stehn. –
Sie raubten nun das Kleiderbündel
Und wollten auch den Mantel noch.
Wie nur so viel verflucht Gesindel
Im engen Hause sich verkroch!

Nun sprang ich auf und tobt und fluchte,
Gewiß, durch alle durchzugehn.
Ich sah noch einmal die Verruchte,
Und ach! sie war noch immer schön.
Sie alle wichen meinem Grimme;
Es flog noch manches wilde Wort;
Da macht ich mich, mit Donnerstimme,
Noch endlich aus der Höhle fort.

Man soll euch Mädchen auf dem Lande
Wie Mädchen aus den Städten fliehn.
So lasset doch den Fraun von Stande
Die Lust, die Diener auszuziehn!
Doch seid ihr auch von den Geübten
Und kennt ihr keine zarte Pflicht,
So ändert immer die Geliebten,
Doch sie verraten müßt ihr nicht.«

So singt er in der Winterstunde,
Wo nicht ein armes Hälmchen grünt.
Ich lache seiner tiefen Wunde;
Denn wirklich ist sie wohlverdient.
So geh es jedem, der am Tage
Sein edles Liebchen frech betriegt
Und nachts, mit allzu kühner Wage,
Zu Amors falscher Mühle kriecht.




Der Müllerin Reue

Nur fort, du braune Hexe! fort
Aus meinem gereinigten Hause,
Daß ich dich, nach dem ernsten Wort,
Nicht zause!
Was singst du hier für Heuchelei
Von Lieb und stiller Mädchentreu?
Wer mag das Märchen hören!

Ich singe von des Mädchens Reu
Und langem, heißem Sehnen;
Denn Leichtsinn wandelte sich in Treu
Und Tränen.
Sie fürchtet der Mutter Drohen nicht mehr,
Sie fürchtet des Bruders Faust nicht so sehr
Als den Haß des herzlich Geliebten.

Von Eigennutz sing und von Verrat,
Von Mord und diebischem Rauben;
Man wird dir jede falsche Tat
Wohl glauben.
Wenn sie Beute verteilt, Gewand und Gut
Schlimmer, als je ihr Zigeuner tut,
Das sind gewohnte Geschichten.

»Ach! weh! ach weh! Was hab ich getan!
Was hilft mir nun das Lauschen!
Ich hör an meine Kammer heran
Ihn rauschen.
[137] Da klopfte mir hoch das Herz, ich dacht:
O hättest du doch die Liebesnacht
Der Mutter nicht verraten!«

Ach leider trat ich auch einst hinein
Und ging verführt im stillen:
»Ach Süßchen! laß mich zu dir ein
Mit Willen!«
Doch gleich entstand ein Lärm und Geschrei;
Es rannten die tollen Verwandten herbei.
Noch siedet das Blut mir im Leibe.

»Kommt nun dieselbige Stunde zurück,
Wie still mich's kränket und schmerzet!
Ich habe das nahe, das einzige Glück
Verscherzet.
Ich armes Mädchen, ich war zu jung!
Es war mein Bruder verrucht genung,
So schlecht an dem Liebsten zu handeln.«

So ging das schwarze Weib in das Haus,
In den Hof zur springenden Quelle;
Sie wusch sich heftig die Augen aus,
Und helle
Ward Aug und Gesicht, und weiß und klar
Stellt sich die schöne Müllerin dar
Dem erstaunt-erzürnten Knaben.

Ich fürchte fürwahr dein erzürnt Gesicht,
Du Süßes, Schöner und Trauter!
Und Schläg und Messerstiche nicht;
Nur lauter
[138] Sag ich von Schmerz und Liebe dir
Und will zu deinen Füßen hier
Nun leben oder auch sterben.

O Neigung, sage, wie hast du so tief
Im Herzen dich verstecket?
Wer hat dich, die verborgen schlief,
Gewecket?
Ach Liebe, du wohl unsterblich bist!
Nicht kann Verrat und hämische List
Dein göttlich Leben töten.

Liebst du mich noch so hoch und sehr,
Wie du mir sonst geschworen,
So ist uns beiden auch nichts mehr
Verloren.
Nimm hin das vielgeliebte Weib!
Den jungen, unberührten Leib,
Es ist nun alles dein eigen!

Beide
Nun, Sonne, gehe hinab und hinauf!
Ihr Sterne, leuchtet und dunkelt!
Es geht ein Liebesgestirn mir auf
Und funkelt.
Solange die Quelle springt und rinnt,
So lange bleiben wir gleichgesinnt,
Eins an des andern Herzen.

JohannWolfgang Goethe Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827)

11 März 2013

Nagib Machfus: Die Nacht der tausend Nächte

Gottesfürchtige Dämonen treiben Menschen, die in ihre Macht kommen, dazu an, zu töten, und schützen sie, wenn sie Verbrechen begehen.
Dem Teufel ergebene Dämonen ermöglichen erfüllte Liebe über Standesgrenzen hinweg.

In seiner Fortsetzung von Tausendundeine Nacht lässt Nagib Machfus den Sultan Schahriyâr unter dem Einfluss seiner Frau Scheherazade weniger grausam geworden sein, dafür fehlt ihr freilich der Einfluss, den sie durch ihre Geschichten auf ihn ausübte. Sie ist so machtlos, wie man es von einer Sultanin erwartet.
Dafür spielen die Dämonen ihr unerwartetes Spiel, und der Sultan zieht wie ein zweiter Hārūn ar-Raschīd nachts unerkannt durch die Straßen.
In einem roten Haus, prächtiger eingerichtet als der Palast des Sultans, verdreht eine verführerische Frau allen Mächtigen des Reiches den Kopf, doch auch diese Sündenhaftigkeit wie auch die Hinrichtung eines Unschuldigen vermögen nur die Macht der Gläubigen zu stärken.

Der Sultan bemüht sich immer mehr um gerechte Herrschaft. Schließlich ernennt er einen Schuster zum Gouverneur, und der sucht sich Arme seiner Bekanntschaft als oberste Beamte.
Den Sultan bedrängt der Gedanke an seine Grausamkeit in der Vergangenheit, er verlässt seine Frau und seinen Sohn und gerät in auf zauberhafte Weise in eine paradiesisches Reich, wo nur Frauen leben, heiratet die Herrscherin, glaubt sich glücklich und kehrt dann doch wieder in das Land, in dem er so grausam herrschte, zurück.


Am Schluss spricht ein Weiser zu ihm die Worte:
"Eifersüchtig wacht die Wahrheit darüber, dass niemand leicht zu ihr dringt, sie keiner erreicht. Sie lässt den Menschen in den Wüsten der Verwirrung umhertappen und in den Meeren der Ungewissheit ertrinken. Wer denkt, er sei angekommen, von dem trennt sie sich. Wer glaubt, er sei ihr fern,  den sucht sie heim. Die Wahrheit ist unerreichbar, unentrinnbar, unentbehrlich."


Machfus schreibt märchenhaft wie in den Erzählungen von Tausendundeine Nacht; aber seine Sympathie gilt durchweg den sozial Schwachen und seine Helden finden von der Macht des Schwertes zum Vertrauen in die Macht des Glaubens.

10 März 2013

Schon wieder auf Leben und Tod


Der Platz um Sankt Georg war mit Menschen angefüllt, die alle voll Angst nach dem Turmdache hinaufsahen. Der ungeheure alte Bau stand wie ein Fels in dem Kampf, den Blitzeshelle mit der alten Nacht unermüdlich um ihn kämpfte. Jetzt umschlangen ihn tausend hastige glühende Arme mit solcher Macht, daß er selber aufzuglühen schien unter ihrer Glut; wie eine Brandung lief's an ihm hinauf und stürzte gebrochen zurück, dann schlug die dunkle Flut der Nacht wieder über ihm zusammen. Ebenso oft tauchte die Menge aneinandergedrängter bleicher Gesichter auf um seinen Fuß und sank wieder ins Dunkel zurück. Der Sturm riß die Stehenden an Hüten und Mänteln und schlug mit eigenen und fremden Haaren und Kleiderzipfeln nach ihnen und warf sie mit seinem Schneegeriesel, das in dem Schein der Blitze wie glühender Funkenregen [609] an ihnen herniederstäubte, als wollte er sie's büßen lassen, daß er vergeblich an den steinernen Rippen sich wund stieß. Und wie die Menschen bald erschienen, bald verschwanden, so wurde ihr verwirrtes Durcheinanderreden immer wieder vom Sturm und vom Donner überbraust und überrollt.
Da rief einer, sich selbst tröstend: »Es ist ein kalter Schlag gewesen. Man sieht ja nichts!« Ein anderer meinte, die Flamme von dem Schlag könne noch ausbrechen. Ein dritter wurde zornig; er nahm den Einwand wie einen Wunsch, der Schlag möge nicht ein kalter gewesen sein und die Flamme noch ausbrechen. Er hatte sich schon getröstet und rächte sich für die Unruhe, die der Einwand wieder neu in ihm erregte. Viele sahen, vor Angst und Kälte zitternd, mit den geblendeten Augen stumpf in die Höhe und wußten nicht mehr warum. Hundert Stimmen setzten dagegen auseinander, welches Unglück die Stadt betreffen könne, ja betreffen müsse, wenn der Schlag kein kalter war. Einer sprach von der Natur der Schiefer, wie sie im Brande schmelzen und, als brennende Schlacken straßenweit durch die Luft fliegend, schon oft einen beginnenden Brand im Augenblick über eine ganze Stadt verbreitet hatten. Andere klagten, wie der Sturm einen möglichen Brand begünstige und daß kein Wasser zum Löschen vorhanden sei. Noch andere: und wäre welches vorhanden, so würde es vor der Kälte in den Spritzen und Schläuchen gefrieren. Die meisten stellten in angstvoller Beredsamkeit den Gang dar, den der Brand nehmen würde. Stürzte das brennende Dachgebälk, so trieb es der Sturm dahin, wo eine dichte Häusermasse fast an den Turm stieß. Hier war die feuergefährlichste Stelle der ganzen Stadt. Zahllose hölzerne Emporlauben in engen Höfen, bretterne Dachgiebel, schindelngedeckte Schuppen, alles so zusammengepreßt, daß nirgends eine Spritze hineinzubringen, nirgends [610]eine Löschmannschaft mit Erfolg anzustellen war. Stürzte das brennende Dachgebälk, wie nicht anders möglich war, nach dieser Seite, so war das ganze Stadtviertel, das vor dem Winde lag, bei dem Sturm und Wassermangel unrettbar verloren. Diese Auseinandersetzungen brachten Ängstlichere so aus der Fassung, daß jeder neue Blitz ihnen als die ausbrechende Flamme erschien. Daß jeder nur eine Seite der Turmdachfläche übersehen konnte, begünstigte die Fortpflanzung des Irrtums. Es war wunderlich, aber man hörte nun von allen Seiten zugleich das Geschrei: »Wo? Wo?« Sturm und Donner verhinderten die Verständigung. Jeder wollte selbst sehen; so entstand ein wildes Gedränge.
»Wo hat es eingeschlagen?« fragte Apollonius, der eben daherkam. »In die Seite nach Brambach zu«, antworteten viele Stimmen. Apollonius machte sich Bahn durch die Menge. Mit großen Schritten eilte er die Turmtreppe hinauf. Er war den langsamem Begleitern um eine gute Strecke voraus. Oben fragte er vergebens. Die Türmersleute meinten, es müsse ein kalter Schlag gewesen sein, und waren doch im Begriff, ihre besten Sachen zusammenzuraffen, um vom Turme zu fliehen. Nur der Gesell, den er am Ofen beschäftigt fand, besaß noch Fassung. Apollonius eilte mit Laternen nach dem Dachgebälk, um sie da aufzuhängen. Die Leitertreppe zitterte nicht mehr unter seinen Füßen; er war zu eilig, das zu bemerken. Innen am Dachgebälke wurde Apollonius keine Spur von einem beginnenden Brande gewahr. Weder der Schwefelgeruch, der einen Einschlag bezeichnet, noch gewöhnlicher Rauch war zu bemerken. Apollonius hörte seine Begleiter auf der Treppe. Er rief ihnen zu, er sei hier. In dem Augenblick zuckte es blau zu allen Turmlucken herein, und unmittelbar darauf rüttelte ein prasselnder Donner an dem Turme. [611] Apollonius stand erst wie betäubt. Hätte er nicht unwillkürlich nach einem Balken gegriffen, er wäre umgefallen von der Erschütterung. Ein dicker Schwefelqualm benahm ihm den Atem. Er sprang nach der nächsten Dachlucke, um frische Luft zu schöpfen. Die Werkleute, dem Schlage ferner, waren nicht betäubt worden, aber vor Schrecken auf den obersten Treppenstufen stehen geblieben. »Herauf!« rief ihnen Apollonius zu. »Schnell das Wasser! die Spritze! In diese Seite muß es geschlagen haben, von da kam Luftdruck und Schwefelgeruch. Schnell mit Wasser und Spritze an die Ausfahrtür!« Der Zimmermeister rief, schon auf der Leitertreppe, hustend: »Aber der Dampf!« – »Nur schnell!« entgegnete Apollonius, »Die Ausfahrtür wird mehr Luft geben, als uns lieb ist!« Der Maurer und der Schornsteinfeger folgten dem Zimmermann, der die Schläuche trug, so schnell als möglich mit der Spritze die Leitertreppe hinauf. Die andern brachten Eimer kalten, der Gesell einen Topf heißen Wassers, um durch Zugießen das Gefrieren zu verhindern.
In solchen Augenblicken hat, wer Ruhe zeigt, das Vertrauen, und dem gefaßten Tätigen unterordnen sich die andern ohne Frage. Der Bretterweg nach der Ausfahrtüre war schmal; durch die verständige Anordnung Apollonius' fand dennoch alles im Augenblicke seinen Platz. Zunächst Apollonius nach der Tür stand der Zimmermann, dann die Spritze, dann der Maurer. Die Spritze war so gewendet, daß die beiden Männer die Druckstangen vor sich hatten. Zwei starke Männer konnten das Druckwerk bedienen. Hinter dem Maurer stand der Schieferdeckergeselle, um über dessen Schulter, so oft es nötig, von dem heißen Wasser zuzugießen. Andere betrieben des Gesellen vorheriges Geschäft, sie schmolzen Schnee und Eis und behielten das gewonnene Wasser in der geheizten Türmerstube, damit es nicht wieder zu Eise fror. Andere [612] waren bereit, als Zuträger zwischen Dachstuhl und Türmerstube zu dienen, und bildeten eine Art Spalier. Während Apollonius mit raschen Worten und Winken den Plan dieser Geschäftsordnung dem Zimmermann und Maurer mitteilte, die ihn dann in Ausführung brachten, hatte er die Dachleiter schon in der Rechten und griff mit der Linken nach dem Riegel der Ausfahrtür. Die Leute hatten die beste Hoffnung; aber als durch die geöffnete Tür der Sturm hereinpfiff, dem Zimmermann die Mütze vom Kopfe riß und Massen feinen Schneestaubs gegen das Gebälke warf und heulend und rüttelnd den Dachstuhl auf und ab polterte und Blitz auf Blitz blendend durch die dunkle Öffnung brach, da wollte der Mutigste die Hand von dem vergeblichen Werke abziehen. Apollonius mußte sich mit dem Rücken gegen die Türe kehren, um atmen zu können. Dann, beide Handflächen gegen die Verschalung oberhalb der Türe gestemmt, bog er den Kopf zurück, um an der äußern Dachfläche hinaufzusehen. »Noch ist zu retten,« rief er angestrengt, damit die Leute vor dem Sturm und dem ununterbrochenen Rollen des Donners ihn verstehen konnten. Er ergriff das Rohr des kürzesten Schlauches, dessen unteres Ende der Zimmermann einschraubend an der Spritze befestigte, und wand sich den obern Teil um den Leib. »Wenn ich zweimal hintereinander den Schlauch anziehe, drückt los. Meister, wir retten die Kirche, vielleicht die Stadt!« Die rechte Hand gegen die Verschalung gestemmt, bog er sich aus der Ausfahrtür; in der linken hielt er die leichte Dachleiter frei hinaus, um sie an dem nächsten Dachhaken über der Tür anzuhängen. Den Werkleuten schien das unmöglich. Der Sturm mußte die Leiter in die Lüfte reißen und – nur zu möglich war's, er riß den Mann mit. Es kam Apollonius zustatten, daß der Wind die Leiter gegen die Dachfläche drückte. An Licht fehlte es nicht, den Haken [613] zu finden; aber der Schneestaub, der dazwischen wirbelte und, vom Dache herabrollend, in seine Augen schlug, war hinderlich. Dennoch fühlte er, die Leiter hing fest. Zeit war nicht zu verlieren; er schwang sich hinaus. Er mußte sich mehr der Kraft und Sicherheit seiner Hände und Arme vertrauen als dem sichern Tritt seiner Füße, als er hinaufklomm; denn der Sturm schaukelte die Leiter samt dem Mann wie eine Glocke hin und her. Oben, seitwärts über der ersten Sprosse der Leiter, hüpften bläuliche Flammen mit gelben Spitzen unter der Lücke und leckten unter den Rändern der Schiefer hervor. Zwei Fuß tief unter der Lücke hatte der Blitz hineingeschlagen. Vor einer Stunde noch war er vor dem Gedanken der bloßen Möglichkeit erschrocken, hierher könnte der Blitz schlagen und er müsse herauf – eine Reihe dunkler tödlicher Fiebergebilde hatten sich daran geschlossen –; jetzt war alles geschehen, wie er sich's vorhin nur gedacht; aber die Lücke war ihm wie jede andere Stelle des Turmdachs, schwindellos stand er auf der Leiter, und nur ein frisches tapferes Gefühl erfüllte ihn, der Drang, von Kirche und Stadt die drohende Gefahr zu wenden. Ja etwas, was ihm die dunkle Furcht durch Sorge erhöht hatte, erwies sich nun sogar als heilvoll und glücklich. Er erkannte, nur das Wasser, welches die Lücke wochenlang geschluckt und das nun im Holze gefroren, ließ die Flamme nicht so schnell überhandnehmen, als ohne dies Hindernis geschehen wäre. Der Raum, den der Brand bis jetzt einnahm, war ein kleiner. Der Frost in der Verschalung warf die hartnäckig immer wiederkehrenden hüpfenden Flämmchen lange zurück, ehe sie bleibend einwurzeln und von dem Wurzelpunkte aus weiterfressen konnten. Hatten sie sich einmal zu einer großen Flamme vereinigt und diese den durch Frost gefeiten Raum unter der Lücke überschritten, dann [614] mußte der Brand bald riesig über die Turmspitze hinauswachsen, und die Kirche und vielleicht die Stadt erlag der vereinten Gewalt von Feuer und Sturm. Er sah, noch war zu retten, und er brauchte die Kraft, die ihm dieser Gedanke gab. Die Leiter schaukelte nicht mehr bloß herüber und hinüber, sie wuchtete zugleich auf und ab. Was war das? Wenn der Dachbalken locker war – aber er wußte, das konnte nicht sein –, diese Bewegung war unmöglich. Aber die Leiter hing ja gar nicht an dem Haken; er hatte sie an ein hervorspringendes Eichenblatt der Blechverzierung angehängt, nah an einem der Befestigungspunkte; aber das andere Ende des Girlandenstücks, an dem die Leiter hing, war das, welches er zu befestigen vergessen hatte. Sein Gewicht wuchtete an dem Stücke und zog es mit der Leiter immer mehr herab und bog die Seite nach vorn, an die er die Leiter gehängt. Noch einen Zoll tiefer, und das Blatt lag wagrecht, und die Leiter glitt von dem Blatte herab und mit ihm hinunter in die ungeheure Tiefe. Jetzt mußte sich sein neugewonnener Lebensmut bewähren, und er tat's. Sechs Zoll weit neben dem Blatte war der Haken. Noch drei leichte Schritte die schwankende Leiter hinauf, und er faßte mit der linken Hand den Haken, hielt sich fest daran und hob die Leiter mit der rechten von dem Blatte herüber an den Haken. Sie hing. Die Linke ließ den Haken und faßte neben der Rechten die Leitersprosse; die Füße folgten; er stand wieder auf der Leiter. Und jetzt begannen schon die Schiefer unter der Lücke zu glühen; nicht lang, und sie rollten sich schmelzend, und die brennenden Schlacken trugen das Verderben fliegend weiter. Apollonius zog die Klaue aus dem Gürtel; wenig Stöße mit dem Werkzeug, und die Schiefer fielen abgestreift in die Tiefe. Nun übersah er deutlich den geringen Umfang der brennenden Fläche; seine Zuversicht wuchs. Zwei Züge an dem Schlauch, [615] und die Spritze begann zu wirken. Er hielt das Rohr erst gegen die Lücke, um die Verschalung oberhalb des Brandes noch geschickter zum Widerstande zu machen. Die Spritze bewies sich kräftig; wo ihr Strahl unter den Rand der Schiefer sich einzwängte, splitterten diese krachend von den Nägeln. Die Flammen des Brandes knisterten und hüpften zornig unter dem herabfließenden Wasser; erst dem unmittelbar gegen sie gerichteten Strahl gelang es, und auch diesem mehr durch seine erstickende Gewalt als durch die Natur seines Stoffes, die hartnäckigen zu bezwingen.
Die Brandfläche lag schwarz vor ihm, dem Strahl der Spritze antwortete kein Zischen mehr. Da rasselte das Getriebe der Uhr tief unter ihm. Es schlug zwei. Zwei Schläge! zwei! Und er stand, und er stürzte nicht! Wie anders war es nun in der Wirklichkeit gekommen, als die fieberischen Ahnungen gedroht! Wenn er oben war, da schlug es zwei, da packte ihn der Schwindel und riß ihn hinab, eine dunkle Schuld zu büßen. Das hatten ihm seine schweren wachen Träume gezeigt. Und er stand doch wirklich oben, und die Leiter schwankte im Sturme, Schneestaub umwirbelte ihn, Blitze umzuckten ihn; mit jedem flammte die Schneedecke der Dächer, der Berge, des Tals, die ganze Gegend in einer ungeheuern Flamme auf, und nun schlug's zwei unter ihm, die Glockentöne heulten, vom Sturm gezerrt, hinaus in den Aufruhr: und er stand, er stand schwindellos, er stürzte nicht. Er wußte, keine Schuld lag auf ihm; er hatte seine Pflicht getan, wo Tausende sie nicht getan hätten; er hatte die Stadt, an der er mit ganzer Seele hing, er allein, von der furchtbarsten Gefahr befreit. Aber aller Stolz dieses Gedankens war in dieser Seele nur ein Dankgebet. Er dachte nicht an die Menschen, die ihn preisen würden, nur an die Menschen, die nun wieder aufatmen durften, an das Elend, das [616] verhütet, an das Glück, welches erhalten war. Und er fühlte selbst nach Monden wieder, was frei aufatmen heißt. Diese Nacht hatte ja auch ihm die Lust wiedergebracht. Mit Freudigkeit erinnerte er sich jetzt wieder an das Wort, das er sich gegeben. Menschen wie Apollonius ist's der höchste Segen einer braven Tat, daß sie sich gestärkt fühlen zu neuem braven Tun. 
Otto Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S.608-616

Handlung und Schwarzweißzeichnung entsprechen dem Trivialroman und passagenweise ist auch kein Unterschied zu entdecken.
Doch die Intensität der psychologischen Durchdringung hebt diese Erzählung deutlich davon ab. 
Dennoch ziehe ich die Heiteretei vor. Zwar ist die Hauptfigur dort ähnlich idealisiert wie Apollonius, aber sie verleugnet nicht so sehr ihr Eigeninteresse, und ihre Widersacher sind ins Satirische gezogen, nicht ins abgrundtief Böse. 
Kann es sein, ich ziehe nur das traditionelle Happyend der plakativen Entsagung vor?
Wer mit dem Schlusse hier nicht zufrieden ist, kann noch bis zum Schluss der Erzählung lesen (er findet sich dann auf Seite 629). Auf diesem Wege findet sich noch mancher triviale Zug, doch in dem Verhältnis, das die Kinder zu Apollonius haben, wird doch deutlich, dass seine Pflichterfüllung nicht das Ideal, sondern sehr deutlich nur das Zweitbeste ist:
Aber das Kind konnte sich erst freuen, wenn er vorübergegangen war. Bei aller Freundlichkeit hatte die große Gestalt etwas so Ernstes und Feierliches, daß das Kind vor Respekt nicht zur Freude kommen konnte.(S.622)

Schuldgefühle


Apollonius hatte deshalb den Arzt sich verbeten. Er hatte wohl gewußt, für seine Krankheit gab es keinen Arzt. Wo der Bauherr die Ursache davon suchte, lag sie nur zum Teile. Die Überanstrengung hatte bloß den Boden für die Schmarotzerpflanze bestellt, die an Apollonius' innerm Lebensmark zehrte. In Gemütsbewegungen lag ihr Keim, aber nicht in denen, die der Bauherr wußte. Nicht in dem Schrecken über des Bruders Unglück, sondern in dem Zustande, worin der Schreck ihn traf. Die ersten Zeichen der Krankheit schienen körperlicher Natur. In dem Augenblick, wo der Bruder neben ihm vorbei in den Tod stürzte, hatten die Glocken unter ihnen zwei geschlagen. Von da an erschreckte ihn jeder Glockenton. Was ihm schwerere Besorgnis erregte, war ein Anfall von Schwindel. Aller Schrecken jenes Tages hatte ihm die Unruhe nicht verdunkeln können, die ihn nicht losließ, wenn er eine Ungenauigkeit an einer Arbeit gefunden, bis sie beseitigt war. Jeder Glockenschlag, der ihn erschreckte, schien ihm eine Mahnung dazu. Schon den andern Morgen öffnete er, die [596] Dachleiter in der Hand, die Ausfahrtür. Es war ihm schon aufgefallen, wie unsicher sein Schritt auf der Leitertreppe geworden war; jetzt, als er durch die Öffnung die fernen Berge, die er sonst kaum bemerkte, sich wunderlich zunicken sah und der feste Turm unter ihm sich zu schaukeln begann, erschrak er. Das war der Schwindel, des Schieferdeckers ärgster tückischster Feind, wenn er ihn plötzlich zwischen Himmel und Erde auf der schwanken Leiter faßt! Vergeblich strebte er, ihn zu überwinden; sein Vorhaben mußte heut aufgegeben sein. So schwer war Apollonius noch kein Weg geworden als der die Turmtreppe von Sankt Georg herab. Was sollte werden! Wie sollte er sein Wort erfüllen, wenn ihn der Schwindel nicht verließ! Noch denselben Tag hatte er auf dem Nikolaiturme etwas nachzusehen. Hier mußte er mehr wagen als dort; die Glocken schlugen, als er am gefährlichsten stand, vom Schwindel fühlte er keine Spur. Freudig eilte er nach Sankt Georg zurück; aber hier zitterte wieder die Treppenleiter unter seinen Füßen, und wie er hinaussah, nickten die Berge wieder, schaukelte wieder der Turm. Er war schon auf den untersten Stufen der Treppe, als oben ein Stundenschlag begann. Die Töne dröhnten ihm durch Mark und Bein, er mußte sich am Geländer festhalten, bis das letzte Summen verklungen war. Er machte noch Versuch über Versuch; er bestieg alle Dächer und Türme mit seiner alten Sicherheit; nur zu Sankt Georg wohnte der Schwindel. Dort hatte er seine bösen Gedanken in die Arbeit hineingehämmert; er hatte damals schon gefühlt, er hämmere einen Zauber zurecht, ein kommend Unheil fertig. Tag und Nacht verfolgte ihn das Bild der Stelle, wo er die Bleiplatte einzusetzen und den Zierat festzunageln vergessen. Die Lücke war wie ein böser Fleck, ein Fleck, wo eine Untat begonnen oder vollbracht ist und kein Gras wächst, kein [597] Schatten wird; wie eine offene Wunde, die nicht heilt, bis sie gerächt ist; wie ein leeres Grab, das sich nicht schließt, eh' es seinen Bewohner aufgenommen hat. War nur die Lücke geschlossen, dann hatte der Zauber keine Macht mehr. Er konnte das einem Gesellen auftragen, aber der Gedanke, einen andern seine verwahrlosete Arbeit nachbessern zu lassen, trieb das Rot der Scham auf seine bleichen Wangen. Und die Bleiplatte, von einem andern aufgenagelt, mußte wieder abfallen. Die Lücke rief nach ihm, und nur er konnte sie schließen, oder den Gesellen faßte das Verderben, das er dort eingehämmert, der Schwindel, der dort wohnte, und stürzte ihn herab.
Seit das Weib des Bruders in seinen Armen gelegen, führte er ein Doppelleben. Er schaffte den Tag lang außen, nachts saß er in seinem Stübchen bei seinen Büchern; das spann sich alles mechanisch ab; er war trotz seines Kämpfens nur mit halber Seele dabei; die andere Hälfte hatte ihr Leben für sich, immer schwebte sie mit den Dohlen um die Lücke an dem Turmdach und brütete, welches kommende Unheil es sei, das er fertig gehämmert jenen Morgen. Seine Seele träumte den sündhaften Traum wieder durch, kämpfte den schrecklichen Kampf mit dem Bruder wieder durch. War es des Bruders Sturz, was er gehämmert hat? Dann fällt ihm ein, ob's nicht möglich gewesen, den Wahnsinnigen zu retten. Dann suchte er ängstlich nach den Möglichkeiten, wie der Bruder zu retten gewesen, und schreckte doch zurück, wenn er dachte, er könnte eine finden. So hatte ihn des Bruders Schuld aus seinen Fugen gezerrt. Aber auch in seinem Brüten zeigte sich noch der Gegensatz zu seines Bruders Natur. In jenem überwucherte die Selbstsucht, die schlimme Anlage; in Apollonius überspannte sich, was Gutes in ihm war: seine Gewissenhaftigkeit, seine Anhänglichkeit [598] und sein Sauberkeitsbedürfnis. Er wälzte nicht seine Schuld ab von sich auf den Bruder; er hob mit liebender Hand die Schuld des Bruders herüber auf sich. Denn immer klarer wird es ihm, daß er den Bruder noch zuletzt vor dem Sturze retten konnte. Er hätte die Wege, die es gab, damals finden müssen, wenn sein Herz und Kopf nicht voll gewesen wäre von den wilden verbotenen Wünschen, hätte er dem Wahnsinnigen nicht gezürnt, den er hätte bedauern sollen. Ja, er hatte dem Bruder das Unheil fertig gehämmert mit seinen bösen Gedanken. Ohne die Gedanken war er früher mit seiner Arbeit fertig, und der Bruder fand ihn nicht mehr auf dem Turme; der Bruder kam zu spät und gewann Zeit, seinen Entschluß zu bereuen. Und war er noch oben, so war er der Stärkere, der Besonnenere und mußte Mittel finden, das Unheil zu verhindern. – Auch im äußeren Benehmen zeigte sich dieser Gegensatz mit dem Bruder. Wie dieser immer selbstsüchtiger, wilder und rücksichtsloser geworden war, machte Apollonius das Seelenleiden immer milder und stiller. Er verlor über dem eigenen Zustande nicht das Mitgefühl mit fremdem Leiden. Er bedauerte nicht sich. Dachte er an die Menschen, die ihm liebend nahestanden, so war sein Schmerz mehr ein Mitleid mit ihrem Mitleid. Selbst sein Sofa vergaß er nicht zu streicheln; er tat es, wie man einen Diener tröstet, der das Unglück seines Herrn als sein eigenes fühlt. Natürlich, daß auch ihn die Leute mit der Heirat neckten, die ihnen notwendig schien. Er mußte sich sagen, daß er dachte wie sie und daß seine Wünsche keine unerlaubten mehr waren. Aber daß sie es einmal gewesen, warf seinen Schatten herüber auf das vorwurfsfreie Jetzt. Seine Liebe, ihr Besitz schien ihm wie beschmutzt. Was Verstand und Liebe sagen mochten, er fühlte in der Heirat eine Schuld. Daher kam's, daß Christianens Nähe ihn nicht heiterer [599] machte. Es gab Augenblicke, wo seine Verdüsterung ihm selbst wie eine Krankheit vorkam und er hoffte, sie werde vorübergehen. Aber auch da trat er Christianen nicht näher, sosehr sein Herz ihn zog. Er blieb gegen sie wie damals, wo er den Knaben zwischen sie und sich gestellt hatte. Die kleinste Annäherung sah er nach seiner Weise für eine Bindung an, und dachte er sich die Heirat entschieden, so lastete wiederum das Gefühl von Schuld auf ihm. Er rückte den Gedanken daran in eine unbestimmte Zukunft hinaus, dann fühlte er seinen Zustand erträglich. Er, der sonst ein unklares Verhältnis nicht ertragen konnte! Darin aber war er sich noch völlig gleich, daß er in seiner Vorstellung eine mögliche Schuld nur immer als die seine empfand. Sie blieb ihm unter allen Umständen heilig und rein.
Otto Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S.595-599