23 April 2013

Émile Verhaeren


Unsere Zeit erlebt zu rasch und zuviel, um sich ein gutes Gedächtnis zu bewahren, und ich weiß nicht, ob der Name Emile Verhaerens noch heute etwas bedeutet. Verhaeren hatte als erster von allen französischen Dichtern versucht, Europa das zu geben, was Walt Whitman Amerika: das Bekenntnis zur Zeit, das Bekenntnis zur Zukunft. Er hatte die moderne Welt zu lieben begonnen und wollte sie für die Dichtung erobern. Während für die anderen die Maschine das Böse, die Städte das Häßliche, die Gegenwart das Unpoetische waren, hatte er für jede neue Erfindung, jede technische Leistung Begeisterung, und er begeisterte sich an seiner eigenen Begeisterung, er begeisterte sich wissentlich, um sich in dieser Leidenschaft stärker zu spüren. Aus den kleinen Gedichten des Anfangs wurden große, strömende Hymnen. ›Admirez-vous les uns les autres‹, war seine Parole an die Völker Europas. Der ganze Optimismus unserer Generation, dieser in der heutigen Zeit unseres grauenhaftesten Rückfalls längst nicht mehr verständliche Optimismus fand bei ihm den ersten dichterischen Ausdruck, und einige seiner besten Gedichte werden noch lange das Europa und die Menschheit bezeugen, die wir damals erträumt.
Verhaeren kennenzulernen, war ich eigentlich nach Brüssel gekommen. Aber Camille Lemonnier, dieser kräftige, heute zu Unrecht in Vergessenheit geratene Dichter des ›Mâle‹, von dem ich einen Roman selbst ins Deutsche übertragen, sagte mir bedauernd, daß Verhaeren nur selten von seinem kleinen Dörfchen nach Brüssel komme und auch jetzt abwesend sei. Um mich für meine Enttäuschung zu entschädigen, gab er mir Einführungen herzlichster Art an die anderen belgischen Künstler. So sah ich den greisen Meister Constantin Meunier, diesen heroischen Arbeiter und stärksten Bildner der Arbeit, und nach ihm van der Stappen, dessen Name in der Kunstgeschichte heute ziemlich verschollen ist. Aber doch, welch ein freundlicher Mann war er, dieser kleine, pausbackige Flame, und wie herzlich empfingen sie mich jungen Menschen, er und seine große, breite, heitere holländische Frau. Er zeigte mir seine Werke, wir sprachen lange an diesem hellen Vormittag von Kunst und Literatur, und die Güte dieser beiden Menschen nahm mir bald jede Scheu. Unverhohlen sagte ich ihnen mein Bedauern, in Brüssel gerade den zu versäumen, um dessentwillen ich eigentlich gekommen war: Verhaeren.
Hatte ich zuviel gesagt? Hatte ich etwas Törichtes gesagt? Jedenfalls bemerkte ich, daß sowohl van der Stappen als seine Frau leise zu lächeln begonnen hatten und sich verstohlene Blicke zuwarfen. Ich fühlte ein geheimes Einverständnis zwischen ihnen durch meine Worte erregt. Ich wurde befangen und wollte Abschied nehmen, aber beide wehrten sie ab, ich müsse zu Tisch bleiben, unbedingt. Wieder ging das seltsame Lächeln von Augenstern zu Augenstern. Ich fühlte, daß, wenn es hier ein Geheimnis gebe, dies ein freundliches sei, und verzichtete gern auf meine beabsichtigte Fahrt nach Waterloo.
Es war rasch Mittag, wir saßen schon im Speisezimmer – es lag zu ebener Erde wie in allen belgischen Häusern –, und man sah von dem Gemach aus durch die farbigen Scheiben auf die Straße, als plötzlich ein Schatten scharf vor dem Fenster stehenblieb. Ein Knöchel pochte an das bunte Glas, schroff schlug zugleich die Glocke an. »Le voilà!« sagte Frau van der Stappen und stand auf, und er trat ein, schweren starken Schritts: Verhaeren. Auf den ersten Blick erkannte ich das mir von den Bildern längst vertraute Gesicht. Wie so oft war Verhaeren auch diesmal bei ihnen Hausgast, und als sie hörten, daß ich ihn in der ganzen Gegend vergeblich gesucht, hatten sich beide mit einem raschen Blick verständigt, mir nichts davon zu sagen, sondern mich mit seiner Gegenwart zu überraschen. Und nun stand er mir gegenüber, lächelnd über den gelungenen Streich, den er vernahm. Zum erstenmal fühlte ich den festen Griff seiner nervigen Hand, zum erstenmal faßte ich seinen klaren, gütigen Blick. Er kam – wie immer – gleichsam geladen mit Erlebnis und Enthusiasmus ins Haus. Noch während er fest zupackte beim Essen, erzählte er schon. Er war bei Freunden gewesen und in einer Galerie und flammte noch ganz von dieser Stunde. Immer kam er so heim, von überall und von allem gesteigert am zufälligen Erlebnis, und diese Begeisterung war ihm eine heilige Gewohnheit geworden; wie eine Flamme schlug sie immer und immer wieder von den Lippen, und wunderbar wußte er mit scharfen Gesten das Gesprochene nachzuzeichnen. Mit dem ersten Wort griff er in die Menschen hinein, weil er ganz aufgetan war, zugänglich jedem Neuen, nichts ablehnend, jedem einzelnen bereit. Er warf sich gewissermaßen gleich mit seinem ganzen Wesen aus sich heraus einem entgegen, und wie in dieser ersten Stunde selbst, habe ich hundert- und hundertmal diesen stürmischen überwältigenden Anprall seines Wesens an andere Menschen beglückt miterlebt. Noch wußte er nichts von mir, und schon bot er mir Vertrauen, bloß weil er hörte, daß ich seinem Werke nahe war.
Nach dem Mittagessen kam zur ersten guten Überraschung die zweite. Van der Stappen, der schon lange sich und Verhaeren einen alten Wunsch erfüllen wollte, arbeitete seit Tagen an einer Büste Verhaerens; heute sollte die letzte Sitzung sein. Meine Gegenwart sei, sagte van der Stappen, eine freundliche Gabe des Schicksals, denn er brauche gerade jemanden, der mit dem allzu Unruhigen spreche, während er ihm Modell sitze, damit sich das Gesicht im Sprechen und Hören belebe. Und so sah ich zwei Stunden lang tief in dies Gesicht hinein, dies unvergeßliche, die hohe Stirn, schon siebenfach durchpflügt von Falten böser Jahre, darüber rostfarbig der Sturz des braunen Gelocks, hart das Gefüge des Gesichts und streng umspannt von bräunlicher, windgegerbter Haut, felsig vorstoßend das Kinn und über der schmalen Lippe groß und mächtig der hängende Vercingetorix-Schnurrbart. Die Nervosität, sie saß in den Händen, in diesen schmalen, griffigen, feinen und doch kräftigen Händen, wo die Adern stark unter der dünnen Haut pochten. Die ganze Wucht seines Willens stemmte sich vor in den breiten, bäuerischen Schultern, für die der nervige knochige Kopf fast zu klein schien; erst wenn er ausschritt, sah man seine Kraft. Wenn ich heute die Büste anblicke – nie ist van der Stappen Besseres gelungen als das Werk jener Stunde –, so weiß ich erst, wie wahr sie ist, und wie voll sie sein Wesen faßt. Sie ist Dokument einer dichterischen Größe, das Monument einer unvergänglichen Kraft.

In diesen drei Stunden lernte ich den Menschen schon so lieben, wie ich ihn dann mein ganzes Leben geliebt. In seinem Wesen war eine Sicherheit, die nicht einen Augenblick selbstgefällig wirkte. Er blieb unabhängig vom Geld, lebte lieber in einer ländlichen Existenz, statt eine Zeile zu schreiben, die nur dem Tag und der Stunde galt. Er blieb unabhängig vom Erfolg, mühte sich nicht, ihn durch Konzessionen und Gefälligkeiten und Camaraderie zu mehren – ihm genügten seine Freunde und deren treue Gesinnung. Er blieb unabhängig sogar von der gefährlichsten Versuchung eines Charakters, vom Ruhm, als dieser endlich zu dem auf der Höhe seines Lebens Stehenden kam. Er blieb offen in jedem Sinn, mit keiner Hemmung belastet, von keiner Eitelkeit verwirrt, ein freier, freudiger Mensch, leicht jeder Begeisterung hingegeben; wenn man mit ihm war, spürte man sich belebt in seinem eigenen Willen zum Leben.
Da stand er also leibhaftig vor mir, dem jungen Menschen – der Dichter, so wie ich ihn gewollt, so wie ich ihn geträumt. Und noch in dieser ersten Stunde persönlicher Begegnung war mein Entschluß gefaßt: diesem Manne und seinem Werk zu dienen. Es war ein wirklich verwegener Entschluß, denn dieser Hymniker Europas war damals in Europa noch wenig bekannt, und ich wußte im voraus, daß die Übertragung seines monumentalen Gedichtwerks und seiner drei Versdramen meiner eigenen Produktion zwei oder drei Jahre wegnehmen würde. Aber indem ich mich entschloß, meine ganze Kraft, Zeit und Leidenschaft dem Dienst an einem fremden Werke zu geben, gab ich mir selbst das Beste: eine moralische Aufgabe. Mein ungewisses Suchen und Versuchen hatte jetzt einen Sinn. Und wenn ich heute einen jungen Schriftsteller beraten sollte, der noch seines Weges ungewiß ist, würde ich ihn zu bestimmen suchen, zuerst einem größeren Werke als Darsteller oder Übertragender zu dienen. In allem aufopfernden Dienen ist für einen Beginnenden mehr Sicherheit als im eigenen Schaffen, und nichts, was man jemals hingebungsvoll geleistet, ist vergebens getan.
In diesen zwei Jahren, die ich fast ausschließlich daran wandte, die Gedichtwerke Verhaerens zu übertragen und ein biographisches Buch über ihn vorzubereiten, bin ich zwischendurch viel gereist, zum Teil auch, um öffentliche Vorträge zu halten. Und schon hatte ich einen unerwarteten Dank für die scheinbar undankbare Hingabe an das Werk Verhaerens; seine Freunde im Ausland wurden auf mich aufmerksam und bald auch meine Freunde. So kam eines Tages Ellen Key zu mir, diese wundervolle schwedische Frau, die mit einer Kühnheit ohnegleichen in jenen noch borniert widerstrebenden Zeiten für die Emanzipation der Frauen gekämpft und in ihrem Buch ›Das Jahrhundert des Kindes‹ lange vor Freud die seelische Verwundbarkeit der Jugend warnend gezeigt; durch sie wurde ich in Italien bei Giovanni Cena und seinem dichterischen Kreise eingeführt und gewann in dem Norweger Johan Bojer einen bedeutenden Freund. Georg Brandes, der internationale Meister der Literaturgeschichte, wandte mir sein Interesse zu, und bald begann in Deutschland dank meiner Werbung der Name Verhaerens schon bekannter zu sein als in seinem Vaterland. Kainz, der größte Schauspieler, und Moissi rezitierten öffentlich seine Gedichte in meiner Übertragung. Max Reinhardt brachte Verhaerens ›Kloster‹ auf die deutsche Bühne: ich durfte zufrieden sein.

Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, Universitas vitae

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