24 April 2013

Ein weites Feld (Stifter)


»Das ist ein weites Feld, von dem ihr da redet«, sagte ich, »und da steht der menschlichen Erkenntnis ein nicht unwichtiger Gegenstand gegenüber. Er beweist wieder, daß jedes Wissen Ausläufe hat, die man oft nicht ahnt, und wie man die kleinsten Dinge nicht vernachlässigen soll, wenn man auch noch nicht weiß, wie sie mit den größeren zusammenhängen. So kamen wohl auch die größten Männer zu den Werken, die wir bewundern, und so kann mit Hereinbeziehung dessen, von dem ihr redet, die Witterungskunde einer großen Erweiterung fähig sein.«
»Diesen Glauben hege ich auch«, erwiderte er. »Euch Jüngeren wird es in den Naturwissenschaften überhaupt leichter, als es den Älteren geworden ist. Man schlägt jetzt mehr die Wege des Beobachtens und der Versuche ein, statt daß man früher mehr den Vermutungen, Lehrmeinungen, ja Einbildungen hingegeben war. Diese Wege wurden lange nicht klar, obgleich sie Einzelne wohl zu allen Zeiten gegangen sind. Je mehr Boden man auf die neue Weise gewinnt, desto mehr Stoff hat man als Hilfe zu fernern Erringungen.
Man wendet sich jetzt auch mit Ernst der Pflege der einzelnen Zweige zu, statt wie früher immer auf das Allgemeine zu gehen; und es wird daher auch eine Zeit kommen, in der man dem Gegenstande eine Aufmerksamkeit schenken wird, von dem wir jetzt gesprochen haben. Wenn die Fruchtbarkeit, wie sie durch Jahrzehnte in der Naturwissenschaft gewesen ist, durch Jahrhunderte anhält, so können wir gar nicht ahnen, wie weit es kommen wird. Nur das eine wissen wir jetzt, daß das noch unbebaute Feld unendlich größer ist als das bebaute.«
[...]
»In meinem Garten und in meinem Gewächshause sind Pflanzen«, sagte er, »welche einen auffallenden Zusammenhang mit dem Luftkreise zeigen, besonders gegen das Nahen der Sonne, wenn sie lange in Wolken gewesen war. Aus dem Geruche der Blumen kann man dem kommenden Regen entgegen sehen, ja sogar aus dem Grase riecht man ihn beinahe. Mir kommen diese Dinge so zufällig in den Garten und in das Haus; ihr aber werdet sie weit besser und weit gründlicher kennen lernen, wenn ihr die Wege der neuen Wissenschaftlichkeit wandelt und die Hilfsmittel benützt, die es jetzt gibt, besonders die Rechnung. Wenn ihr namentlich eine einzelne Richtung einschlagt, so werdet ihr in derselben ungewöhnlich große Fortschritte machen.«
»Woher schließt ihr denn das?« fragte ich.
»Aus eurem Aussehen«, erwiderte er, »und schon aus der sehr bestimmten Aussage, die ihr gestern in Hinsicht des Wetters gemacht habt.«
»Diese Aussage war aber falsch«, antwortete ich, »und aus ihr hättet ihr gerade das Gegenteil schließen können.«
»Nein, das nicht«, sagte er, »eure Äußerung zeigte, weil sie so bestimmt war, daß ihr den Gegenstand genau beobachtet habt, und weil sie so warm war, daß ihr ihn mit Liebe und mit Eifer umfaßt; daß eure Meinung deßohngeachtet irrig war, kam nur daher, weil ihr einen Umstand, der auf sie Einfluß hatte, nicht kanntet und ihn auch nicht leicht kennen konntet; sonst würdet ihr anders geurteilt haben.«
»Ja, ihr redet wahr, ich würde anders geurteilt haben«, antwortete ich, »und ich werde nicht wieder so voreilig urteilen.«

»Ihr habt gestern gesagt, daß ihr euch mit Naturdingen beschäftiget«, fuhr er fort, »darf ich wohl fragen, ob ihr eine bestimmte Richtung gewählt habt und welche.«
Ich war durch die Frage ein wenig in Verwirrung gebracht und antwortete: »Ich bin doch im Grunde nur ein gewöhnlicher Fußreisender. Ich besitze gerade so viel Vermögen, um unabhängig leben zu können, und gehe in der Welt herum, um sie anzusehen. Ich habe wohl vor Kurzem alle Wissenschaften angefangen; aber davon bin ich zurückgekommen und habe mir nur hauptsächlich die einzelne Wissenschaft der Erdbildung zur Aufgabe gemacht. Um die Werke, welche ich hierin lese, zu ergänzen, suche ich auf den Reisen, die ich in verschiedene Landesteile mache, zu beobachten, schreibe meine Erfahrungen auf und verfertige Zeichnungen. Da die Werke vorzüglich von Gebirgen handeln, so suche ich auch vorzüglich die Gebirge auf. Sie enthalten sonst auch Vieles, das mir lieb ist.«
»Diese Wissenschaft ist eine sehr weite«, entgegnete mein Gastfreund, »wenn sie in der Bedeutung der Erdgeschichte genommen wird. Sie schließt manche Wissenschaften ein und setzt manche voraus. Die Berge sind wohl jetzt, wo diese Wissenschaft noch jung ist und wo man ihre ersten und greifbarsten Züge sammelt, von der größten Bedeutung; aber es wird auch die Ebene an die Reihe kommen, und ihre einfache und schwerer zu entziffernde Frage wird gewiß nicht von geringerer Wichtigkeit sein.«
»Sie wird gewiß wichtig sein«, antwortete ich. »Ich habe die Ebene und ihre Sprache, die sie damals zu mir sprach, schon geliebt, ehe ich meine jetzige Aufgabe betrieb und ehe ich die Gebirge kannte.«
»Ich glaube«, entgegnete mein Begleiter, »daß in der gegenwärtigen Zeit der Standpunkt der Wissenschaft, von welcher wir sprechen, der des Sammelns ist. Entfernte Zeiten werden aus dem Stoffe etwas bauen, das wir noch nicht kennen. Das Sammeln geht der Wissenschaft immer voraus; das ist nicht merkwürdig; denn das Sammeln muß ja vor der Wissenschaft sein; aber das ist merkwürdig, daß der Drang des Sammelns in die Geister kömmt, wenn eine Wissenschaft erscheinen soll, wenn sie auch noch nicht wissen, was diese Wissenschaft enthalten wird. Es geht gleichsam der Reiz der Ahnung in die Herzen, wozu etwas da sein könne und wozu es Gott bestellt haben möge. Aber selbst ohne diesen Reiz hat das Sammeln etwas sehr Einnehmendes. Ich habe meine Marmore alle selber in den Gebirgen gesammelt und habe ihren Bruch aus den Felsen, ihr Absägen, ihr Schleifen und ihre Einfügungen geleitet. Die Arbeit hat mir manche Freude gebracht, und ich glaube, daß mir nur darum diese Steine so lieb sind, weil ich sie selber gesucht habe.«

Adalbert Stifter: Der Nachsommer, Die Beherbergung

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