17 April 2013

Rilke


Von allen diesen hat vielleicht keiner leiser, geheimnisvoller, unsichtbarer gelebt als Rilke. Aber es war keine gewollte, keine forcierte oder priesterlich drapierte Einsamkeit, wie etwa Stefan George sie in Deutschland zelebrierte; die Stille wuchs gewissermaßen um ihn, wohin er ging und wo er sich befand. Da er jedem Lärm und sogar seinem Ruhm auswich – dieser „Summe aller Mißverständnisse, die sich um seinen Namen sammeln“, wie er einmal so schön sagte –, netzte die eitel anstürmende Woge der Neugier nur seinen Namen und nie seine Person. Rilke war schwer zu erreichen. Er hatte kein Haus, keine Adresse, wo man ihn suchen konnte, kein Heim, keine ständige Wohnung, kein Amt. [...]
Er hatte eine unbeschreibbar leise Art des Kommens, des Sprechens. Wenn er in ein Zimmer eintrat, wo eine Gesellschaft versammelt war, geschah es dermaßen lautlos, daß kaum jemand ihn bemerkte. Still lauschend saß er dann, hob manchmal unwillkürlich die Stirn, sobald ihn etwas zu beschäftigen schien, und wenn er selbst zu sprechen begann, so immer ohne jede Affektation oder heftige Betonung. Er erzählte natürlich und einfach, wie eine Mutter ihrem Kind ein Märchen erzählt und genauso liebevoll; es war wunderbar, ihm zuzuhören, wie bildhaft und bedeutend auch das gleichgültigste Thema sich ihm formte. Aber kaum spürte er, daß er in einem größeren Kreise der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wurde, brach er ab und senkte sich wieder in sein schweigsames, aufmerksames Lauschen zurück. [...]
Wie man sich Rilke selbst unmöglich heftig denken konnte, so auch keinen andern, der in seiner Gegenwart durch die ausströmende Schwingung seiner Stille nicht jede Lautheit und Anmaßung verloren hätte. Denn sein Verhaltensein schwang aus als eine geheimnisvoll fortwirkende, eine erziehliche, eine moralische Kraft. Nach jedem längeren Gespräch mit ihm war man für Stunden oder sogar Tage unfähig irgendeiner Vulgarität. Freilich setzte anderseits diese ständige Temperiertheit seines Wesens, dieses Nie-sich-voll-geben-Wollen jeder besonderen Herzlichkeit eine frühe Grenze; ich glaube, daß nur wenige Menschen sich rühmen dürfen, Rilkes „Freunde“ gewesen zu sein. In den sechs veröffentlichten Bänden seiner Briefe findet sich fast nie diese Ansprache, und das brüderlich vertrauliche Du scheint er seit seinen Schuljahren kaum irgend jemandem gewährt zu haben. Seiner außerordentlichen Sensibilität war es unerträglich, irgend jemanden oder irgend etwas an sich allzu nah herankommen zu lassen, und insbesondere alles stark Maskuline erregte bei ihm ein geradezu physisches Unbehagen. Frauen gab er sich leichter im Gespräch. Ihnen schrieb er viel und gern und war viel freier in ihrer Gegenwart. [...]
Aber am schönsten war es, mit Rilke in Paris spazierenzugehen, denn das hieß, auch das Unscheinbarste bedeutsam und mit gleichsam erhelltem Auge sehen; er bemerkte jede Kleinigkeit, und selbst die Namen der Firmenschilder sprach er, wenn sie ihm rhythmisch zu klingen schienen, gerne sich laut vor; diese eine Stadt Paris bis in ihre letzten Winkel und Tiefen zu kennen, war für ihn Leidenschaft, fast die einzige, die ich je an ihm wahrgenommen.

Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Paris, die Stadt der ewigen Jugend

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