03 April 2013

In der Falle

Während Victor so durch die Eisenstäbe hinein schaute und an ihnen allerlei Versuche machte, ob er nicht eine Vorrichtung fände, durch die das Gitter aufgehe, trat ein alter Mann aus dem Gebüsche und sah nach Victor hin.
»Habt die Freundschaft,« sagte dieser, »öffnet mir das Tor und führt mich zu dem Herrn des Hauses, wenn nämlich dieses Gebäude die Klause heißt.«
Der Mann sagte auf die Worte nichts, sondern ging näher, schaute Victor eine Weile an und fragte dann: »Bist du zu Fuße gekommen?«
»Bist zu der Hul bin ich zu Fuße gegangen«, antwortete Victor.
»Ist es aber auch wahr?«
Victor wurde glühend rot im Angesichte; denn er hatte nie gelogen.
»Wenn es nicht so wäre,« antwortete er, »so würde ich es[315] nicht sagen. Wenn Ihr mein Oheim seid, wie es fast scheint, so habe ich hier einen Brief von meinem Vormunde, der Euch dartun wird, wer ich bin, und daß ich nur auf Euer ausdrückliches Verlangen die Fußreise hieher angetreten habe.«
Mit diesen Worten zog der Jüngling das reinlich erhaltene Schreiben, wie es ihm seine Ziehmutter anbefohlen hatte, hervor und reichte es zwischen den Eisenstäben hinein.
Der alte Mann nahm das Schreiben und steckte es ungelesen sein.
»Dein Vormund ist ein Narr, und ein beschränkter Mensch,« sagte er, »ich sehe, daß du deinem Vater ganz und gar gleich siehst, da er anhob, die Streiche zu machen. Ich habe dich schon über den See fahren gesehen.«
Victor, der in seinem Leben keine rücksichtslosen Worte gehört hatte, war stumm, und wartete nur, daß der andere das Gitter öffnen werde.
Dieser aber sagte: »Nimm eine Schnur mit einem Steine und ertränke diesen Hund in dem See, dann komme wieder hieher, ich werde derweilen öffnen.« »Wen soll ich ertränken?« fragte Victor. »Nun den Hund, den du da mitgezogen.« »Und wenn ich es nicht tue?«
»So öffne ich dir diese Pforte nicht.« »So komme, Spitz«, sagte Victor.
Er kehrte sich bei diesen Worten um, lief über die Treppe in den Graben, stieg jenseits empor, lief durch den Zwerggarten, durch die Ahornanlage, durch das folgende Gestrippe und langte an der Seebucht an, mit allen Kräften, deren sein Körper fähig war, hinaus rufend: »Schiffer! alter Schiffer!«
Aber es war unmöglich, daß ihn dieser hören konnte. Den Knall eines Scheibengewehres hätte man in dieser Entfernung nicht mehr vernommen. Wie eine schwarze Fliege[316] stand das Schiffchen neben der dunkeln Fußspitze des Orlaberges, die weit in den Abendglanz des Sees hinaus stach. Victor nahm sein Sacktuch hervor, knüpfte es an seinen Stab und tat allerlei Schwenkungen in die Luft, damit er gesehen würde. Allein man sah ihn nicht, und zuletzt, wie er noch immer schwenkte, war auch die schwarze Fliege um die Bergspitze verschwunden. Der See war ganz leer, und nur die leise schäumende Brandung sah Victor im Abendwinde, der sich indessen gehoben hatte, längs den Felsen der Insel spielen.
»Es tut nichts – es tut auch nichts,« sagte er, »komme, Spitz, wir werden uns da am Ufer ins Gebüsche setzen und die Nacht über sitzen bleiben. Morgen zeigt sich wohl ein Kahn, den wir herzu winken werden.«
Was er sagte, tat er auch. Er suchte eine Stelle, wo das Gras des Rasens kurz und trocken war, und wo die Büsche dicht überhingen, ohne ihm die Aussicht auf den See zu benehmen.
»Siehst du,« sagte er, »wie es gut ist, wenn man täglich früh morgens etwas zu sich stecht. Du erprobest es auf dieser Reise schon zum zweiten Male.«
Bei diesen Worten zog er die zwei Brode heraus, die er heute früh in dem Afelwirtshause mitgenommen hatte, und begann teils selber davon zu essen, teils den Hund damit zu füttern. Da dieses Geschäft vollendet war, saß der Wanderer, der das Ziel seiner Reise erreicht zu haben glaubte, heute zum ersten Male in der einfachen Herberge des freien Himmels, und schaute die Gegenstände um sich herum an. Die Berge, die schönen Berge, die ihm, da er gegen sie heran kam, gar so sehr gefallen hatten, wurden immer schwärzer und legten drohende dunkle und zersplitterte Flecke auf den See, auf welchem noch das Blattgold des Abendhimmels lag, das selbst in den dunklen Bergspieglungen zuweilen aufzuckte. [...]  Er saß mit dem Spitze an seiner Seite so lange, bis endlich das Dunkel mit immer größerer Schnelligkeit sich über See, Gebirge und Himmel webte. Dann beschloß er, sich nieder zu legen. Er machte alle Knöpfe seines Rockes zu, wie es ihn die Ziehmutter gelehrt hatte, daß er sich nicht verkühle – er band das Halstuch, das er unter Tags abgetan hatte? wieder um – er tat sein Regenmäntelchen aus Wachstaffet heraus und nahm es über – dann richtete er sich das Ränzchen als Kissen und legte das Haupt darauf, da die Finsternis schon wie eine Mauer um ihn stand. Das Begehren nach Schlummer zog sich, da er lag, bald durch alle seine ermüdeten Glieder. Die Gesträuche flüsterten, da sich das Lüftchen von dem See bis hieher gezogen hatte, und die Brandung murmelte deutlich von Wand zu Wand.
In diese Eindrücke, deren Wirkungen immer schwächer wurden, versanken seine Sinne, und das Bewußtsein wollte eben verschwinden, als er durch ein leises Knorren seines Hundes geweckt wurde. Er schlug die Augen auf – da stand einige Schritte vor ihm dicht am Landungsplatze eine menschliche Gestalt, sich dunkel gegen das schillernde Wasser des Sees werfend. Victor strengte seine Augen an, mehr von der Gestalt zu erkennen, aber die Umrisse zeigten nur, daß sie ein Mann sei, und es ließ sich nicht ermitteln, ob jung oder alt. Die Gestalt stand ganz ruhig[318] und schien unverwandt auf das Wasser hinaus zu schauen. Victor richtete sich zu sitzender Stellung empor, und blieb ebenfalls ruhig. Auf ein neues, stärkeres Knurren des Hundes drehte sich die Gestalt plötzlich um und rief:
»Seid Ihr da, junger Herr?«
»Ein junger Wandersmann mit seinem Hunde ist da,« sagte Victor, »was wollt Ihr?«
»Daß Ihr zum Abendessen kommt, denn die Stunde ist fast schon vorüber.«
»Zum Abendessen? – zu wessen Abendessen? – und wer ist es, den Ihr suchet?«
»Ich suche unsern Neffen; denn der Oheim wartet schon eine Viertelstunde.«
»Seid Ihr sein Gesellschafter, oder sein Freund?« »Ich bin sein Diener, namens Christoph.« »Des Herrn der Klause, meines Oheims?« »Des nämlichen. Er hat die Anzeige Eurer Herreise erhalten.«
»Nun so sagt ihm,« sprach Victor, »daß ich hier die ganze Nacht sitzen will, und daß ich mir eher einen Stein um den Hals hängen und mich in den See werfen lasse, als daß ich den Hund ertränke, der mit mir ist.«
»Ich werde es ihm sagen.«
Mit diesen Worten kehrte sich der Mann um und wollte fortgehen.
Victor rief ihm noch einmal nach: »Christoph, Christoph.«
»Was wollt Ihr, junger Herr?«
»Ist kein anderes Haus, oder eine Hütte, oder sonst ein Ding auf der Insel, in welchem man übernachten könnte?«
»Nein, es ist nichts da,« antwortete der Diener, »das alte Kloster ist zugesperrt, die Kirche auch, die Speicher sind mit altem Geräte vollgepfropft, ebenfalls verschlossen, und sonst ist nichts da.«
»Es ist auch gut,« sprach Victor, »das Haus meines Oheims besuche ich durchaus nicht – von diesem Hause[319] verlange ich keinen Schutz. – – Mir deucht, der alte Schiffmann, der mich herüber geführt hat, hat Euren Namen genannt und hat gesagt, daß Ihr manchmal in die Hul hinaus kämet.«
»Ich hole unsere Lebensmittel und andere Dinge herüber.«
»So hört mich an, ich will Euch Euren Fährlohn reichlich zahlen, wenn Ihr mich heute noch in die Hul hinüberschifft.«
»Und wenn Ihr noch mehr zahltet, als ich verlangen wollte, so wäre es dreimal unmöglich. Erstens stehen alle Kähne in dem Bohlenverschlusse, das Tor ist gesperrt, und jeder Kahn liegt noch mit einem Schlosse an seinem Balken angeschlossen, wovon ich keinen Schlüssel habe Zweitens, wenn auch ein Kahn wäre, so wäre kein Fährmann. Ich werde es Euch erklären. Seht Ihr dort gegen den Orla zu die weißen Flecke, die auf dem See sind? Das sind Nebelflecken, die gleichsam auf den Steinen des Orlaufers sitzen. Wir heißen sie die Gänse. Und wenn die Gänse einmal in einer Reihe da sitzen, dann kömmt Nebel. Wenn die Abendwehe, das ist der Wind, der nach jedem Sonnenuntergange aus den Schluchten auf den Sec heraus geht, aufhört, dann ist in einer halben Stunde der See mit Nebel angefüllt, und da kann man nicht wissen, wohin ein Kahn zu leiten ist. Unter dem Wasser laufen die Gebirgsgrate hin, die oft nur ein wenig bedeckt sind. Wenn man zu einem solchen Grate geriete und ein Leck in das Schiff stieße, da müßte man aussteigen und in dem Wasser stehen bleiben, bis man am Tage von jemanden gesehen würde. Aber man würde von niemanden gesehen, weil die Fischer niemals zu den Gebirgsgraten hinzufahren. Begreifet Ihr das, junger Herr?«
»Ja, ich begreife es,« antwortete Victor.
»Und zum dritten kann ich Euch nicht überführen, weil ich sonst ein ungetreuer Diener wäre. Der Herr hat mir[320] keinen Auftrag gegeben, Euch in die Hul zu führen, und wenn er dies nicht tut, so führe ich Euch nicht über.«
»Gut,« antwortete Victor, »so bleibe ich hier so lange sitzen, bis morgen ein Fahrzeug so nahe kömmt, daß ich es herzu zu winken vermag.«
»Es kömmt aber kein Fahrzeug so nahe«, erwiderte der Diener; »es ist über unseren See kein Warenzug, weil der einzige Weg, der vom andern Ufer weiter führt, nur ein Fußweg über die Grisel ist und die Wanderer zu diesem Fußwege an dem unserer Insel entgegengesetzten Seeufer hinfahren. Dann ist die Brandung an den Gestaden der Insel so groß, daß sich wenige Fische da aufhalten und selten Fischerboote so nahe kommen. Es könnten acht oder mehr Tage vergehen, ehe Ihr eines seht.«
»So muß mich morgen mein Oheim in die Hul zurückführen lassen, weil ich auf sein Verlangen hieher gekommen bin, und weil ich nicht mehr länger da bleiben will«, sagte Victor.
»Es kann sein, daß er es tut,« antwortete der Diener, »ich weiß das nicht; aber jetzt wartet er mit dem Abendessen auf Euch.«
»Wie kann er warten,« sagte Victor, »da er gemeint hat, ich solle meinen Spitz ertränken, da er gesagt hat, daß er nicht öffnen wolle, wenn ich es nicht tue, und da er mich hierauf fort gehen sah und mich nicht zurückgerufen hat.«
»Das weiß ich alles nicht,« erwiderte Christoph, »aber Eure Ankunft ist in der Klause bekannt, und es war auf dem Tische für Euch gedeckt. Der Herr hat mir aufgetragen, Euch zu rufen, weil Ihr die Eßstunde nicht wißt, sonst hat er nichts gesagt. Weil ich es aber gesehen habe, wie Ihr von dem Eisengitter fortgelaufen seid, so dachte ich gleich, als er mir den Auftrag gab, Euch zum Essen zu rufen, ich müsse an diesen Ort gehen, ich würde Euch hier finden. Anfangs, da ich Euch nicht sah, meinte ich[321] gar, Ihr seid gleich wieder über das Wasser davongefahren, aber es war ja nicht möglich, der Mann, der Euch gebracht hat, muß ja schon um die Orlaspitze zurück gewesen sein, als Ihr hieher wieder zurück kamet.«
Victor entschließt sich dann, mit dem Diener seines Onkels zu gehen.
 In dem Zimmer ließ Christoph den Jüngling, ohne weiter ein Wort zu sagen, stehen, und ging wieder rückwärts hinaus. An dem Tische dieses Zimmers saß der Oheim Victors ganz allein und aß. Er hatte abends, da ihn Victor zum ersten Male sah, einen weiten[323]grautuchenen Rock angehabt, jetzt hatte er diesen abgelegt und stak in einem weiten, großblumigen Schlafrocke, und hatte ein rotes, goldgerändertes Käppchen auf.
»Ich bin nun schon an den Krebsen,« sprach er zu dem eintretenden Jünglinge, »du bist zu lange nicht gekommen, ich habe meine festgesetzte Stunde, wie es die Gesundheit fordert, und gehe von derselben nicht ab. Man wird dir gleich etwas auftragen. Setze dich auf den Stuhl, der mir gegenüber steht.«
»Die Mutter und der Vormund lassen Euch viele Grüße sagen«, hob Victor an, indem er mit dem Ränzlein auf dem Rücken stehen blieb und zuerst die Aufträge seiner Angehörigen, dann seine eigene Ehrerbietung und Begrüßung darbringen wollte.
Der Oheim aber tat mit beiden Händen, in deren jeder er ein Stück eines zerbrochenen Krebsen hielt, einen Zug durch die Luft und sagte: »Ich kenne dich ja schon an dem Angesichte – so fange an, hier zu sein, wohin ich dich beschieden habe, und wo ich dich als den Beschiedenen erkenne. Wir sind jetzt bei dem Essen, daher setze dich nieder und iß. Was sonst alles zu tun ist, wird schon geschehen.« [...]
Victor nahm sein Ränzlein mit dem einen Riemen in den Arm, faßte seinen Stab, zog den Spitz an der Schnur und ging hinter dem Oheime her. Dieser führte ihn bei der Tür hinaus in einen Gang, in welchem der Reihe nach uralte Kästen standen, dann rechtwinklich in einen andern, und endlich eben so in einen dritten, der durch ein eisernes Gitter verschlossen war. Der Oheim öffnete das Gitter, führte Victor noch einige Schritte vorwärts, öffnete[327] dann eine Tür und sagte: »Hier sind deine zwei Zimmer.«
Victor trat in zwei Gemächer, wovon das erste größer, das zweite kleiner war.
»Du kannst den Hund in die Nebenkammer einsperren, daß er dir nichts tut,« sagte der Oheim, »und die Fenster verschließe wegen der Nachtluft.«
Mit diesen Worten zündete er die auf dem Tische des ersten Zimmers stehende Kerze an, und ging ohne weiters fort. Victor hörte, daß er das Gitter des Ganges zusperre, dann verklang der schleifende Tritt der Pantoffeln, und es war die Ruhe der Toten im Hause. Um sich zu überzeugen, daß er hinsichtlich des Gitters recht gehört habe, ging Victor auf den Gang hinaus, um nach zu sehen. Es war in der Tat so: das eiserne Gitter war mit seinen Schlössern verschlossen. (Stifter: Der Hagestolz, 4. Kapitel Wanderung)

Ich weiß nicht, wie es anderen Lesern geht. Ich sah, als Victor die Antwort »So öffne ich dir diese Pforte nicht.« erhält, ihn in einer ähnlich verzweiflungsvollen Situation wie den Mann vom Lande bei Kafkas Türhüter vor dem Gesetz. 
Die Erläuterungen des Dieners deuten eine ähnliche Hoffnungslosigkeit an wie die des Türhüters.
Als das Gitter verschlossen ist, sehe ich Victor ähnlich ausgeliefert wie die Helden in Kafkas oder Draculas Schloss.
Stifter aber fährt fort:
›Du armer Mann‹, dachte Victor, ›fürchtest du dich etwa vor mir?‹
Dann stellte er die Kerze, die er auf den Gang mit hinaus genommen hatte, wieder auf den Tisch neben das zinnene, verbogene Waschbecken und schritt gegen das große, vergitterte Fenster vor. Es waren zwei hart nebeneinander in steinene Simse gefügte Fenster. Victor sah, da das Glas geöffnet stand, durch das eiserne Gitter in die Nacht hinaus, und der Druck, der gleichsam auf seiner Seele lag, begann sich zu lösen. (4. Kapitel Wanderung)

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