Stefan Zweig ist in der jungen Sowjetunion unterwegs und weiß nicht recht, wie er den neuen Staat einschätzen soll.
"In der einen Stunde hatte man Zuversicht, in der andern Mißtrauen. Je mehr ich sah, desto weniger wurde ich mir klar.
Aber lag das Zwiespältige an mir, lag es nicht vielmehr im russischen Wesen begründet, lag es nicht sogar in Tolstois Seele, den wir zu feiern gekommen waren? Auf der Bahnfahrt nach Jasnaja Poljana sprach ich darüber mit Lunartscharskij. »Was war er eigentlich«, sagte mir Lunartscharskij, »ein Revolutionär oder ein Reaktionär? Hat er es selbst gewußt? Als richtiger Russe wollte er alles zu rasch, nach Tausenden von Jahren die ganze Welt ändern in einem Handumdrehen. – Ganz wie wir«, fügte er lächelnd bei, »und mit einer einzigen Formel genau wie wir. Man sieht uns falsch, uns Russen, wenn man uns geduldig nennt. Wir sind geduldig mit unseren Körpern und sogar mit unserer Seele. Aber mit unserem Denken sind wir ungeduldiger als jedes andere Volk, wir wollen alle Wahrheiten, ›die‹ Wahrheit immer sofort wissen. Und wie hat er sich gequält darum, der alte Mann.« Und wirklich, als ich durch Tolstois Haus in Jasnaja Poljana ging, fühlte ich nur immer dies ›wie hat er sich gequält, der große alte Mann‹. Da war der Schreibtisch, an dem er seine unvergänglichen Werke geschrieben, und er hatte ihn verlassen, um nebenan in einem ärmlichen Gemach Schuhe zu schustern, schlechte Schuhe. Da war die Tür, da war die Treppe, durch die er diesem Haus, durch die er dem Zwiespalt seiner Existenz hatte entflüchten wollen. Da war die Flinte, mit der er im Kriege Feinde getötet, der er doch Feind alles Krieges war. Die ganze Frage seiner Existenz stand stark und sinnlich vor mir in diesem niederen weißen Gutshause, aber wunderbar war dies Tragische dann gelindert durch den Gang an seine letzte Ruhestätte.
Denn nichts Großartigeres, nichts Ergreifenderes habe ich in Rußland gesehen als Tolstois Grab. Abseits und allein liegt dieser erlauchte Pilgerort, eingebettet im Wald. Ein schmaler Fußpfad führt hin zu diesem Hügel, der nichts ist als ein gehäuftes Rechteck Erde, von niemandem bewacht, von niemandem gehütet, nur von ein paar großen Bäumen beschattet. Diese hochragenden Bäume hat, so erzählte mir seine Enkelin vor dem Grab, Leo Tolstoi selbst gepflanzt. Sein Bruder Nicolai und er hatten als Knaben von irgendeiner Dorffrau die Sage gehört, wo man Bäume pflanze, werde ein Ort des Glückes sein. So hatten sie halb im Spiel ein paar Schößlinge eingesetzt. Erst später entsann sich der alte Mann dieser wunderbaren Verheißung und äußerte sofort den Wunsch, unter jenen selbstgepflanzten Bäumen begraben zu werden. Das ist geschehen, ganz nach seinem Willen, und es ward das eindrucksvollste Grab der Welt durch seine herzbezwingende Schlichtheit. Ein kleiner rechteckiger Hügel mitten im Wald von Bäumen überblüht – nulla crux, nulla corona! kein Kreuz, kein Grabstein, keine Inschrift. Namenlos ist der große Mann begraben, der wie kein anderer an seinem Namen und seinem Ruhm litt, genau wie ein zufällig aufgefundener Landstreicher, wie ein unbekannter Soldat. Niemandem bleibt es verwehrt, an seine letzte Ruhestätte zu treten; der dünne Bretterzaun ringsherum ist nicht verschlossen. Nichts behütet die letzte Ruhe des Ruhelosen als die Ehrfurcht der Menschen. Während sich sonst Neugier um den Prunk eines Grabes drängt, bannt hier die zwingende Einfachheit jede Schaulust. Wind rauscht wie Gottes Wort über das Grab des Namenlosen, sonst keine Stimme, man könnte daran vorbeigehen, ohne mehr zu wissen, als daß hier irgendeiner begraben liegt, irgendein russischer Mensch in der russischen Erde. Nicht Napoleons Krypta unter dem Marmorbogen des Invalidendomes, nicht Goethes Sarg in der Fürstengruft, nicht jene Grabmäler in der Westminsterabtei erschüttern durch ihren Anblick so sehr wie dies herrlich schweigende, rührend namenlose Grab irgendwo im Walde, nur vom Wind umflüstert und selbst ohne Botschaft und Wort."
Stefan Zweig: Die Welt von Gestern, Sonnenuntergang
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