Timbuktu
Der Junge Indigo
"Da liegt es, das Land der Sahara mit seinen Schorfschichten in Gelb, Hellrosa, Blutrot, die Siedlungen gepfercht,
umzingelt von irgendeiner Natur, die aus den schütteren
Wäldern, den flachen Bergen, den dürren Ebenen Gefahren schicken könnte, der Niger breit und mürrisch, in
einem opulenten Becken von kleinen Inseln besetzt,
briefmarkengroße Felder darauf. [...] Ja, so trumpft sie auf,
diese Übermacht an Landschaft, die nicht eigentlich schön,
eher wie strapazierte Haut wirkt, wie ein interessant ab
gearbeitetes Gesicht.
Man wird hier keine moderne Physiognomie finden.
Die Menschen haben die Züge vorzeitlicher Propheten
oder Götzen, deren Augen hellgrau in einem wässrigen
Hof liegen, und auch der Fluss ist nicht blau, nicht grün,
sondern graugelb in seinem rissigen Uferstreifen aus
Hornhaut. (S.161)
"Der Niger, ein Delta aus zahllosen Rinnsalen, Einzelläufen, Strömen, Kanälen und Seebecken wird immer
neu zur Demarkationslinie zwischen Schwemmland und
roter Wüste. Dann wieder schwindet sein Einfluss, und
er trägt das Grün seiner Ufer allenfalls ein paar Meter
weit ins Land. Orte wie Wüstenfriedhöfe liegen zu seinen Seiten." (S.162)
"Doch hier, am legendären Ort, im Innern der Verwahrlosung, wird Indigo gewonnen. Als sei dieses Blau die
Farbe des Blutes dieser Stadt, deren Menschen selbst blau
häutig wirken. Warum fliehen sie nicht? Anderswo wäre
Wasser, Versorgung, Unterstützung, Schutz. Doch bis
man dahin gelangt wäre, müsste man durch die Wüste,
die Hitze, das Massaker, den Überfall, man müsste sich
als lebende Beute durch ein Inferno retten." (S.163)
"Timbuktu ist Sand, vor allem Sand, alles sinkt in Sand,
ist aus Sand gemacht oder nimmt seine Farbe, selbst seinen Geruch an. Der Sand strahlt die Hitze ab, der Sand
holt sich die Stadt, zu Sand soll sie werden. Das einzige,
dem Verfall offenbar entzogene Objekt ist auf einer Fassade die bronzene Tafel mit der Aufschrift: »Hier lebte
der Afrikaforscher Heinrich Barth. Dieses Haus besuchte
im Jahre 1956 Präsident Heinrich Lübke.«
Dies wird bleiben." (S.164/65)
" Sein Charme
ist leise, aber unwiderstehlich. Er weiß nicht von sich,
nicht von seiner Grazie, die noch betont wird, wenn er
lachend den Wildwuchs seiner Zähne entblößt. Doch im
nächsten Augenblick sitzt er da wie der antike
Dorn-Auszieher mit den zerschundenen Beinen, dem Handgelenk
mit der offenen, kaum angeheilten Lochwunde, mal in
sich selbst versunken, mal ein Verhältnis suchend wie das
des Zöglings zum Mentor, eine Geheimbeziehung, eine
diskrete, von Unterwerfung und Achtung getragene Beziehung.
Seine Augen sind immer schon da. Wann immer ich
schaue, hat er schon geschaut. Manchmal legt er sein
Knabengesicht in die Falten eines Herrn und reibt sich die
nackten Fußsohlen im Sitzen. Anders als andere bietet er
keine Dienste an, fragt nicht nach unserer Herkunft, um
wirbt nicht »Madame« und sucht auch keine Kenntnisse
über unser Land, unseren Sport. Nur einmal zuckt er bedauernd die Achseln: Ja, die bettelnden Kinder seien lästig. Aber ohne sie abzuwerten, meint er das, eher mit Verständnis für mich, der sie anstrengend finden könnte." (S.179)
"Wir bewegen uns auf die Propellermaschine zu: das
Rudel der tobenden Kinder rund um Anna, der Junge
ernst und stumm an meiner Seite. Er schreitet routiniert
barfuß über den Sand, dessen Hitze ich durch die Sohlen
meiner Schuhe fühle, und lässt meine Hand nicht los. In
meiner Linken habe ich einen Schein vorbereitet, einen
großen, für ihn sehr großen Schein, die einzige Möglichkeit des Augenblicks, seinem Leben einen Effet zu geben,
etwas zu bewirken, das bleibt. Ich gebe ihm die Hand
zum Abschied, dann schiebe ich den Schein nach.
Er blickt mir seelenruhig in die Augen mit diesem cremigen Blick, der so ambitionslos kommt, als wolle er nur
verweilen. Dann brechen seine Augen für einen Wimpernschlag aus, schnellen hinab auf die Hand, dann noch
einmal hoch zu mir: Ob ich weiß, was ich tue? Ob ich
mich geirrt haben und gleich alles rückgängig machen
könnte?
Er lässt mich fahren, den Schein in der Faust, und
läuft - nicht zurück, wo noch die Passagiere mit ihren Begleitern und Angehörigen nachdrängen, sondern voraus,
an der Gangway vorbei, unter der Maschine hindurch,
über die Landebahn, auf der anderen Seite die Böschung
aufwärts und wieder abwärts in den Dünensand, er läuft
und läuft, sieht sich keinmal um. Seine Sohlen klöppeln
den Wüstensand, helle Wölkchen steigen unter jedem
Tritt hoch, seine beiden jüngeren Vasallen sind ihm jetzt
auf den Fersen, doch er dreht sich nicht um, er läuft, er
läuft, er läuft.
Ich lasse Anna und die anderen Passagiere an mir vor
bei die Gangway hochsteigen und blicke ihm weiter
nach, bis er zuletzt nur noch ein Partikel in der Land
schaft ist, der sich immer langsamer fortbewegt, über die
Dünen, in die Senken. Erst als ich dann am Fenster sitze,
die Maschine abhebt und Höhe gewinnt, kann ich erkennen, dass er ins Nichts läuft mit keinem Haus, keiner
Hütte, keiner Siedlung als Ziel. In dieser ganzen Zone
der Sahara ist nichts als diese Bewegung, die Bewegung
einer Flucht ohne Fluchtpunkt, die von nichts angetrieben wird, als von der Möglichkeit zu fliehen." (S.180/181)