13 November 2018

Roger Willemsen: Die Enden der Welt - Chiang Mai

Chiang Mai
Opium
"Ich fuhr nach Chiang Mai zum »Opiumessen«. Seit Thomas De Quincey ist das der geläufige Ausdruck. Auch, wenn man es längst nicht mehr isst, im Hustensaft zu sich nimmt oder gegen die Grippe schluckt wie noch zur vorletzten Jahrhundertwende. Man raucht, man inhaliert es, man nimmt es sich zur Brust und lässt es schwärmen, und ich denke, jeder sollte in seinem Leben einmal Opium geraucht haben. Jeder sollte wissen, was das Gehirn kann, und wer sagt: Dafür muss ich nur Berge er klimmen, Marathon laufen, von Klippen springen oder ganz schnell die Treppe hoch steigen, der weiß nicht, wie viele Metamorphosen das wilde Tier durchmachen kann, das wir in unserem Schädel beherbergen." (S.457)
"Wer ein Pfeifchen wollte, legte sich im rechten Winkel zum Medizinmann, der selbst anrauchte. Der Dorfälteste sah abseits zu, wie zuerst das Opium aus einem Döschen genommen, portioniert, zwischen den Fingern erwärmt, gerollt und dann als Kügelchen auf den kleinen Trichter der langen Pfeife gesetzt wurde. Ein, zwei Atemzüge nur, dann war das Klümpchen, blasenwerfend und siedend, durchgeschmurgelt und in den Abendhimmel entkommen. Sein Aroma aber blieb, dieses frische, Kräuter und Blätter sanft und würzig mischende Aroma ohne jede rauchige Note, es blieb und weitete sich zu einem Wohlgefühl aus, einem Behagen, nicht mehr. Nein, dieser Rausch würde keine Geiseln nehmen, er würde nicht mit halluzinatorischen Schwärmen und Phantasmagorien kommen, nicht rücklings über das Bewusstsein herfallen, er war im ersten Augenblick vollentfaltet da, schwach, aber klar und freundlich. [...]  Mit der zweiten Pfeife vergrößerte sich der Abstand vom Boden, und der Überblick wurde besser. Wir waren Freunde. Alle Lebenslinien trafen unter diesem Dach auf ihrem einzigen möglichen Schnittpunkt zusammen. Da war kein Jenseits zu diesem Moment. Man musste nur in die Tiefe des Wohlwollens hinuntersteigen und bleiben." (S.462/63)
"Auf allen vieren erreichen wir unsere Hütte, krauchen die Bretter zu den Einstiegsöffnungen hinauf in die schwindelerregende Drei-Meter-Höhe und legen uns auf unsere Matten, Helen und Mark in die eine, ich in die andere Ecke.
Der direkte Niederschlag des Behagens kommt im Lächeln. Das heißt, die Mundwinkel auseinanderweichen zu lassen, ihre Bewegung nachzuvollziehen, und als eine Folge der Bewegung froh zu sein, leise amüsiert. Zufrieden, dass die Mimik der Erregung folgt, nein, einverstanden, dass die Erregung der Mimik folgt, nein, glücklich, dass die Bewegung der Bewegung folgt, denn es gibt kein Früher und Später, kein Motiv und keine Folge, es liegt alles auf dieser Amplitude des Glücks, die weiter und weiter ausschlägt, die Mundwinkel über die Grenzen des Gesichts hinaustreibt, so dass man jetzt, außerhalb seiner selbst Mundwinkel hat, die sich jenseits der Konturen des Gesichts weiter dehnen und heben wollen, bis sie allein in der Nachtluft flattern. Ah, die Nachtluft! Schon befand ich mich in den Abgründen einer Illusion.
 Der Rausch, das ist auch das Abziehen der Oberfläche. Die Gebrauchsseite der Welt zerfällt. Wie sollte man also und mehr noch, warum sollte man in ihr handeln? War um sollte man zu etwas nutze sein? Was ist das überhaupt: ein Nutzen?
 Aus dem Dorf klingen ein paar Fetzen Musik. Musik ohne den Charakter der Begleitung. Das Subjekt der Musik sind in diesem Augenblick nicht die Musiker, eher die Instrumente. Sie singen sich ihr Innenleben aus dem Leib." (S.463/64)
"Es ist Jetzt: Endlich ist das Auge angekommen in der Vogelperspektive über dem Baukasten des eigenen Innenlebens. Nichts wie Intelligenz existiert da noch. Was bleibt, ist allein das Konstruktionsprinzip unpersönlicher Verbindungen, die ihre Wege nehmen, und in einem wohlwollenden, von keiner Einschränkung bedrohten Anerkennen wird man gewahr: Das Persönliche ist unpersönlich, Angst leitet oder etwas, das den Namen Angst erhalten hat, Angst führt die Regie über Lust und Unlust, sie sagt: Geh nicht von A nach B, der direkte Weg ist nicht die Luftlinie, sondern der Fluchtweg. Alles vermeintlich Inspirierte ist nichts als eine Art, Umwege ein zuschlagen, auszuweichen.
Und so lag das Modell, das chemische Modell meiner persönlichen Unvernunft unter mir und gebar das Wort  »Ich« als das Symptom einer Störung. Was »Bewusst sein« hieß, war jetzt nichts als eine in ihrer Einzigartigkeit faszinierende Wunde, die kein Trägermedium hatte und auch nicht heilte. Erst sieben Stunden später lösten sich die Phantasmen ab, und ich erwachte aus dem »Es denkt« in die Illusion des »Ich denke«. (S.470/71)

(Roger Willemsen: Die Enden der Welt, Chiang Mai)

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