20 November 2018

Roger Willemsen: Die Enden der Welt - Der Fuciner See

Der Fuciner See
Die Auszehrung
"[...] Sie [Clarisse] schrieb über Kafka, aber Forschung konnte man es nicht nennen. Kafka zwang ihr seinen Willen auf, er übte einen Bann aus. Nichts und niemand bestand gegen ihn. Es war ein Fall von Ernst-Nehmen, das jedes Maß sprengte, der ideale Fall eigentlich, nahm sie ihn doch ernster, als er sich wohl selbst genommen hatte. Es war eine Geiselnahme, mit ihr selbst als Geisel.
 Kafka höhlte ihr Leben aus und bewegte sich in ihr, und wenn sie ihn ihren »geistigen Vater« nannte, tat sie es nicht, ohne den leiblichen Vater herabzusetzen, der als abruzzesischer Gastarbeiter nach Österreich gekommen war - in ihren Worten ein verachtenswerter, dort nie hei misch gewordener Mann, der sich in ihrer Kindheit Zweideutigkeiten mit ihr erlaubt hatte." ("286/87)
"Dann rief eines Abends ihr Vater bei mir an, was auf eigene Weise furchtbar war, denn vor meinem inneren Auge schwankte sein Bild zwischen dem abruzzesischen Arbeiter, der in die Fremde gekommen war, und dem zu dringlichen Familienpatriarchen. [...] Clarisse habe sich mit dieser Kafka-Arbeit ruiniert, sagte er. Natürlich sei er anfangs stolz gewesen, dass seine Tochter eine »dottoressa« sein werde. Er verstehe ja nichts von dem, was sie da schreibe, aber irgendwann sei das doch alles nicht mehr normal gewesen. Sie hatte ihm Kafka zu lesen gegeben, er hatte es auch wirklich »inter essant« gefunden, und manchmal sei der Mann ja auch »richtig lustig«, aber was sie daraus mache ...
 »Was macht sie denn daraus?« 
Vor zwei Monaten hatte sie um Aufnahme in einen Nonnenorden gebeten. Die Schwestern von M. hatten sie auch wirklich zur Probe akzeptiert, dann aber allmählich verstanden, dass es ihr nicht um den Dienst am Herrn ging, sondern dass sie sich im Kloster eigentlich aushungern wollte. Das gehöre sich natürlich nicht, und so hatte die Äbtissin befunden, dass Clarisse des Klosters wieder verwiesen werden müsse. Als der Vater die Tochter ab holte, war sie schmal und völlig verwildert. [...] »Sie kennen den Lago Fucino, ja? Auf der anderen Seite, also auf der Südseite des Lago Fucino, da liegt in den Bergen Campobasso.« »Da kommen Sie her?« »Ja.« »Haben Sie noch Familie dort?« »Nein.« »Von da rufen Sie mich an?« »Ja.« »Und was erwarten Sie von mir?« »Helfen Sie uns.« [...]
Der Lago Fucino, das war ein Topos aus einer Literatur, in der Italien noch »Arkadien« hieß und nach Zitronen und Friedhofsengeln roch. " (S.288-90)
"Ich saß in der Bahn und folgte dem Tiber-Tal Richtung Süden. Wenn die Reise einen Zweck gehabt hatte, so war er inzwischen verloren gegangen. Zu Anfang gab es einen Anlass, nicht mehr, und am Ende würde es eine Situation geben, nicht weniger. Dazwischen lag das Ver sprechen einer Erfahrung, anziehend wie Angstlust. Ich sah mich mit Clarisse irgendwo in den Bergen hinter dem Fuciner See sitzen, auf das Wasser blicken und darüber nachdenken, wie es weitergehen könnte. Aber das war nicht wirklich. Wirklich war Arkadien, die Landschaft uritalienischer Schäfer-Idylle. Denn im »grünen Herzen Italiens«, wie Carducci die Region in seinen berühmten Versen besang, finden sich tatsächlich noch Schäfereien und Hirten, die über die legendären »tratturi«, die antiken Viehpfade, ihre inzwischen geschrumpften Herden aus Apulien und Kalabrien herbeiführen." (S.295/296)
"Der Fuciner See ist nicht mehr, »non c'e piü il lago«, sagte der Mann an meiner Seite. Ausgetrocknet, nicht von der Zeit, sondern von der Arbeit des Menschen. [...]
Als er sich noch hier ausbreitete, soll er sehr fischreich gewesen sein, der See, an dessen Ufern die Marser und später die Römer Oliven, Wein und Früchte anbauten. Sein Klima galt zwar als rau, aber bis zu seiner Austrocknung ist er angeblich nur fünfmal zugefroren, zum ersten Mal im Jahr 1167. Rätselhaft erschien den Anwohnern wie den Historikern das Steigen und Fallen seines Wasserstandes. Im Jahr 1752 soll er so flach gewesen sein, dass man die Fundamente der antiken Stadt Marruvium erkennen und Statuen von Claudius und Agrippina bergen konnte." (S.298/99)

Als der Erzähler schließlich in Campobasso eintrifft, stellt sich Clarisses Sítuation als verzweifelt dar. Er kann ihr nicht helfen.

"Heute lebt Clarisse nicht mehr. Sie hat schließlich doch noch einen Ausgang gefunden, es war der aus ihrem Leben. " (S.307)

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