16 November 2018

Roger Willemsen: Die Enden der Welt - Kamtschatka

Kamtschatka 
Asche und Magma 

"Man wacht auf und überfliegt ein Gehirn, rot und zerklüftet, bizarr geformt, mit mäandernden Nervenbahnen, man überfliegt es in 31 000 Fuß Höhe, und es sieht aus wie ein Organismus. Man bewegt sich auf einen Punkt zu, achttausend Kilometer von zu Hause, über eine Formation aus pathetisch getürmten Felsmassiven, Abgründen, nackten tektonischen Schichtungen. Malerisch. Fremd. Man sollte Seemannslieder singen, Heim weh haben, Dschunken passieren lassen.
 Doch auf dem Monitor des Bordfernsehens bewegt sich das Symbol des Flugzeugs auf seiner gestrichelten Linie nur ganz langsam und ruckhaft durch elf Zeitzonen. Bald wird die Regierung sie auf acht reduzieren." (S.222)
"Kamtaschatka. Ein Name wie ein Takt aus einem Marsch, gesungen von einem Männerchor." (S.223)
"Erdbeben gibt es hier manchmal mehrmals pro Woche, und wenn es klirrt oder schaukelt, dann werden sich die Einwohner bloß mal wieder ihrer Sterblichkeit bewusst und der Tatsache, dass sie auf einem jungen, sehr jungen Landzipfel wohnen, einem nicht fertiggestellten, und sie könnten sich darüber klarwerden, dass wir einen lebenden Planeten bewohnen, mit immenser Energie in seinem Kern. Geologen warnen, dass es hier in absehbarer Zeit zur Katastrophe kommen muss. Die Stadt wird verschwinden, einem Ausbruch oder Beben zum Opfer fallen, aber die Einheimischen bleiben und sagen: Nicht jetzt, nicht heute, nicht zu unseren Lebzeiten. Wo sollen wir sonst hin? Sie leben anders als wir, bewusster befristet.
 Neun Stunden braucht man ab Moskau, um den russischen Kontinent zu überfliegen, bis in die äußerste Spitze, wo man von den Herren in Moskau seit alters her wenig weiß und noch weniger wissen will. Das also ist Kamtschatka, der Küste vorgelagerte Halbinsel, die fernste Ferne, von der auch Moskau lange Zeit nur eine diffuse Vorstellung besaß. Ein Trio von Vulkanen ist das Wahrzeichen dieser Region. Knapp sieben Monate Froststarre bewahren Kamtschatka wenigstens zeitweise vor ihrer Energie, [...]" (S.226/27)
"Die Landung des Kosaken Wladimir Atlassow im Jahr 1697 wird allgemein als die Entdeckung dieser Halbinsel in Russisch-Fernost angesehen. [...] Aber erst als Zar Peter 1724 den Dänen Vitus Bering einbestellte und ihn mit dem Auftrag versah, herauszufinden, wo das russische Reich genau ende, wo die Landmassen auf das Meer stießen, und ob sich dort nicht vielleicht einzunehmendes Land öffne, war der Grundstein zur Erforschung der äußersten Grenze des Reiches gelegt. Bering brach auf, der Zar starb ein Jahr später, lange bevor der Däne 1730 seine Ergebnisse heimbrachte, die dann weder Anna Iwanowa noch sonst jemanden sonderlich interessierten. Nur Bering selbst war von seiner Mission überzeugter denn je und machte sich fieberhaft an die Vorbereitung der Großen Nordischen Expedition, zu der er 1733 aufbrechen, die er aber nicht überleben sollte. [...] Schließlich aber wurden wie überall die Ureinwohner in brutalen Kämpfen unterworfen und für die eigenen Zwecke dienstbar gemacht, ehe man im 20. Jahrhundert, im Verlauf ihres Aussterbens gewissermaßen, die Tschuktschen ethnologischer Forschungen für würdig erachtete. [...]
 Die Beamten der Zaren verzweifelten an der Mentalität der ungebärdigen Bauern, die die Landwirtschaft ebenso wenig wie die Schafzucht in Angriff nehmen wollten. Stattdessen widmete man sich dem Lachsfang, und noch heute gibt es nirgends auf der Welt einen so reichen Bestand der unter schiedlichsten Arten wie hier, wo der Wildachs in solchem Überfluss vorkommt, dass er sogar als Tierfutter verwendet wird.
Ähnlich gibt es auch kaum irgendwo auf der Erde eine vergleichbar starke Bären-Population. Doch kämpften sich die frühen Trapper durch den Winter, durch die Entbehrung eines Lebens in Laub- und Erdhütten, so kommen die Jagdgesellschaften heute mit Privatflugzeugen aus Moskau, knallen manchmal aus der Luft ihre Beute ab und sind wieder weg. Andere Jäger konzentrieren sich vor allem auf die Bärengalle, der in China aphrodisierende Wirkung nachgesagt wird, [...]" (S.227/28)

  "Ich sehe einem Gehörlosen-Pärchen auf dem Bürgersteig zu. Er bockt, hat seine Hand der ihren entzogen. Sie redet mit geräuschlos belfernden Lippen auf ihn ein. Er wischt alles weg. Ihre Gesten werden größer, sie machen sich Luft. Er stimmt ein gestisches Anschreien an, raum greifend, mit den klobigen Händen die Luft sichelnd. Ja, auch sonst scheint er ein Wunderlicher zu sein. Sie weicht 
zurück mit einer Mimik wie im Stummfilm, aber er hat nicht genug. Erst fährt seine Faust in den Himmel, darauf zieht er dreimal hintereinander eine jähe Linie zwischen sich und sie. Dann wendet er sich weg und lässt sie stehen. Aber schon wenige Meter später weiß er kaum, wie er sich noch orientieren soll. Synchron wenden sie sich wieder einander zu, getrennt, doch unfähig, es zu sein." (S.233/34)
"Und da ganz Kamtschatka, immerhin doppelt so groß wie Deutschland, nur über 130 Kilometer eines zerrissenen Netzes asphaltierter Straßen verfügt und nach sieben Monaten im Schnee nur eine kurze Blüte im schwelgerischen Sommer erlebt, ist die Natur hier schwerlich totzukriegen. Sie übernimmt hinter der Stadt mit Steinbirken-Hainen auf sumpfigem Grund, Halbstauden und Kiefernwäldern, in die sich ab und zu ein »Schaschlik Cafe« schiebt. Im Sommer sind die Wegränder staubig, und auch der Baum bei der silberhaltigen Quelle, an den man Stoff fetzen bindet für sich, die Frau, die Geliebte oder künftige Frau, steht behaucht vom gelben Film des Straßenstaubs. 
 An den Hängen aber funkeln sie wieder, die Birken, die man in dieser dunklen Gegend als die Lichtbringerinnen liebt. Das Silber ihrer Stämme schimmert noch durch die Dämmerung - ein Naturzauber, der sich edelmetallisch gegen das ganztägige Zwielicht durchsetzt." (S.234/35) 
"Am dritten Tag sammeln wir zwei Wanderer auf, die verloren durch die Sonne traben, Jelena und Kolja, sie von hintergründiger, pausbackiger Selbstversunkenheit, scheu und verlangsamt in allem, was sie sagt, und versonnen selbst im Gehen, er ein schmaler, kluger Junge mit schnellen kurzen Bemerkungen und guter Beobachtungsgabe. [...] Wir schrauben uns hoch in die unwirtliche Vulkanlandschaft. Das Mondtal, in dem der gelbe, lagerartige Trakt des Kraftwerks liegt, ist umgeben von Warnschildern, Wellblechhütten, Containern, [...]" (S.236)

"Jelena hat keine Eltern mehr. Sie ist so introvertiert, dass sie wohl eigentlich nur ein einziges Gesicht machen möchte. Das macht sie immer. Manchmal wendet es sich gütig dem Mann zu, manchmal fragend uns." (S.237/38)
"Unseren letzten Abend verbringen wir in der unbenutzt wirkenden Anlage eines Hotel-Freibads, dessen Becken gerade durch einen Schlauch mit schwefligem Thermalwasser befüllt wird. Kurzatmig lagern wir im Wasser. Kolja taucht mit Kopfsprung ins Becken, Jelena zieht sich einen schwarzen Bikini an und drückt ihren stämmigen Körper rasch unter die milchige Wasseroberfläche, während Sergej den allgemeinen Frohsinn unermüdlich weiter stimuliert. Wir trinken Bier aus Plastikbechern und toben ein bisschen herum. Einmal drückt Jelena unter Wasser meine Hand. [...]
 Unter den buschigen Bäumen vor der armseligen Siedlung, die sie bewohnen, holen wir zur Verabschiedung von Jelena und Kolja aus. Wir stehen um den Wagen, die Männer umarmen sich fast ohne Körperkontakt. Als ich Jelena die Arme öffne, kommt sie, von einem leichten Sonnenbrand vergoldet, und drückt sich rückhaltlos in diese Umarmung, als wolle sie so, als Passform, erhalten bleiben. Dann wendet sie sich Nastja zu, damit sie übersetze:
»Wir haben eine Zeit mit vielen schwarzen Streifen erlebt. Nie hätten wir gedacht, dass uns hier ein so weißer Streifen erwartet.«
Darauf schenkt sie mir noch einmal ihren gedrungenen Körper, von dem sie weiß, dass man ihn gerne in den Arm nimmt, und lässt ihn ruhen. Kolja ist ins Haus gegangen, um Geschenke zu holen.
 »Du wirst mir fehlen«, sage ich. 
Als ich im nächtlichen Hotelzimmer die Geschenke öffne, sind es ein Wimpel von Koljas U-Boot-Stützpunkt, ein grünmetalliger Schlüsselanhänger mit dem Emblem desselben, dazu eine blau-weiß-geringelte ärmellose Weste. Sie passt, sieht aber aus wie ein Ringer- Leibchen aus einem Badeort an der Cöte d'Azur der zwanziger Jahre. Das ist ihr Geschenk. Ich trage es eine Nacht lang und eine weitere, bis es sich unwiederbringlich anfühlt. Ja, sie fehlt mir." (S.260/61)

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