14 November 2018

Roger Willemsen: Die Enden der Welt - Timbuktu

Timbuktu 
Der Junge Indigo 
 "Da liegt es, das Land der Sahara mit seinen Schorfschichten in Gelb, Hellrosa, Blutrot, die Siedlungen gepfercht, umzingelt von irgendeiner Natur, die aus den schütteren Wäldern, den flachen Bergen, den dürren Ebenen Gefahren schicken könnte, der Niger breit und mürrisch, in einem opulenten Becken von kleinen Inseln besetzt, briefmarkengroße Felder darauf. [...] Ja, so trumpft sie auf, diese Übermacht an Landschaft, die nicht eigentlich schön, eher wie strapazierte Haut wirkt, wie ein interessant ab gearbeitetes Gesicht. 
Man wird hier keine moderne Physiognomie finden. Die Menschen haben die Züge vorzeitlicher Propheten oder Götzen, deren Augen hellgrau in einem wässrigen Hof liegen, und auch der Fluss ist nicht blau, nicht grün, sondern graugelb in seinem rissigen Uferstreifen aus Hornhaut. (S.161)
"Der Niger, ein Delta aus zahllosen Rinnsalen, Einzelläufen, Strömen, Kanälen und Seebecken wird immer neu zur Demarkationslinie zwischen Schwemmland und roter Wüste. Dann wieder schwindet sein Einfluss, und er trägt das Grün seiner Ufer allenfalls ein paar Meter weit ins Land. Orte wie Wüstenfriedhöfe liegen zu seinen Seiten." (S.162) "Doch hier, am legendären Ort, im Innern der Verwahrlosung, wird Indigo gewonnen. Als sei dieses Blau die Farbe des Blutes dieser Stadt, deren Menschen selbst blau häutig wirken. Warum fliehen sie nicht? Anderswo wäre Wasser, Versorgung, Unterstützung, Schutz. Doch bis man dahin gelangt wäre, müsste man durch die Wüste, die Hitze, das Massaker, den Überfall, man müsste sich als lebende Beute durch ein Inferno retten." (S.163)
"Timbuktu ist Sand, vor allem Sand, alles sinkt in Sand, ist aus Sand gemacht oder nimmt seine Farbe, selbst seinen Geruch an. Der Sand strahlt die Hitze ab, der Sand holt sich die Stadt, zu Sand soll sie werden. Das einzige, dem Verfall offenbar entzogene Objekt ist auf einer Fassade die bronzene Tafel mit der Aufschrift: »Hier lebte der Afrikaforscher Heinrich Barth. Dieses Haus besuchte im Jahre 1956 Präsident Heinrich Lübke.« Dies wird bleiben." (S.164/65)
" Sein Charme ist leise, aber unwiderstehlich. Er weiß nicht von sich, nicht von seiner Grazie, die noch betont wird, wenn er lachend den Wildwuchs seiner Zähne entblößt. Doch im nächsten Augenblick sitzt er da wie der antike Dorn-Auszieher mit den zerschundenen Beinen, dem Handgelenk mit der offenen, kaum angeheilten Lochwunde, mal in sich selbst versunken, mal ein Verhältnis suchend wie das des Zöglings zum Mentor, eine Geheimbeziehung, eine diskrete, von Unterwerfung und Achtung getragene Beziehung.
Seine Augen sind immer schon da. Wann immer ich schaue, hat er schon geschaut. Manchmal legt er sein Knabengesicht in die Falten eines Herrn und reibt sich die nackten Fußsohlen im Sitzen. Anders als andere bietet er keine Dienste an, fragt nicht nach unserer Herkunft, um wirbt nicht »Madame« und sucht auch keine Kenntnisse über unser Land, unseren Sport. Nur einmal zuckt er bedauernd die Achseln: Ja, die bettelnden Kinder seien lästig. Aber ohne sie abzuwerten, meint er das, eher mit Verständnis für mich, der sie anstrengend finden könnte." (S.179)
"Wir bewegen uns auf die Propellermaschine zu: das Rudel der tobenden Kinder rund um Anna, der Junge ernst und stumm an meiner Seite. Er schreitet routiniert barfuß über den Sand, dessen Hitze ich durch die Sohlen meiner Schuhe fühle, und lässt meine Hand nicht los. In meiner Linken habe ich einen Schein vorbereitet, einen großen, für ihn sehr großen Schein, die einzige Möglichkeit des Augenblicks, seinem Leben einen Effet zu geben, etwas zu bewirken, das bleibt. Ich gebe ihm die Hand zum Abschied, dann schiebe ich den Schein nach.
Er blickt mir seelenruhig in die Augen mit diesem cremigen Blick, der so ambitionslos kommt, als wolle er nur verweilen. Dann brechen seine Augen für einen Wimpernschlag aus, schnellen hinab auf die Hand, dann noch einmal hoch zu mir: Ob ich weiß, was ich tue? Ob ich mich geirrt haben und gleich alles rückgängig machen könnte?
Er lässt mich fahren, den Schein in der Faust, und läuft - nicht zurück, wo noch die Passagiere mit ihren Begleitern und Angehörigen nachdrängen, sondern voraus, an der Gangway vorbei, unter der Maschine hindurch, über die Landebahn, auf der anderen Seite die Böschung aufwärts und wieder abwärts in den Dünensand, er läuft und läuft, sieht sich keinmal um. Seine Sohlen klöppeln den Wüstensand, helle Wölkchen steigen unter jedem Tritt hoch, seine beiden jüngeren Vasallen sind ihm jetzt auf den Fersen, doch er dreht sich nicht um, er läuft, er läuft, er läuft.
Ich lasse Anna und die anderen Passagiere an mir vor bei die Gangway hochsteigen und blicke ihm weiter nach, bis er zuletzt nur noch ein Partikel in der Land schaft ist, der sich immer langsamer fortbewegt, über die Dünen, in die Senken. Erst als ich dann am Fenster sitze, die Maschine abhebt und Höhe gewinnt, kann ich erkennen, dass er ins Nichts läuft mit keinem Haus, keiner Hütte, keiner Siedlung als Ziel. In dieser ganzen Zone der Sahara ist nichts als diese Bewegung, die Bewegung einer Flucht ohne Fluchtpunkt, die von nichts angetrieben wird, als von der Möglichkeit zu fliehen." (S.180/181)

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