18 November 2018

Roger Willemsen: Die Enden der Welt - Mandalay

Mandalay 
Ein Traum vom Meer 

Aufgewachsen bin ich in jener Hügellandschaft, die man geographisch die Voreifel nennt, Liebhaber bezeichnen sie auch als »Rheinische Toskana«. Doch das ist schon keine Beschönigung mehr, sondern eine Irreführung. [...]
Als ich etwa siebenjährig einmal in der ersten Morgenfrühe mit meiner Mutter über diesen Kiesweg in die Senke einbog, lag der Frühnebel so dicht über dem Tal, dass ich unwillkürlich dachte, man habe mir die ganze Wahrheit über meine Heimat unterschlagen, und ich greinte: »Warum habt ihr mir verschwiegen, dass wir am Meer wohnen?« Ich glaubte damals an eine besondere Wirkung des Meers. Dort müsste das Leben ein anderes sein, von den Städten abgewandt, durch den dauernden Anblick des Wassers geklärt. [...] (S.262/3)
"Die Kompartimente der birmanesischen Staatsbahn bestehen aus zwei einander gegenüberstehenden hellen Holzbänken, auf denen jeweils drei schmale Menschen nebeneinander Platz finden können - oder ein Ehepaar mit Truthahn, wie mir gegenüber. Der Truthahn ist eine hässliche Kreatur, die dauernd dünkelhaft aus dem Fenster sieht und jeden Augenkontakt vermeidet. Unter dem Kopf hängt der rote Hautlappen wie ein Tumor. Das Besitzerpaar dagegen ist wunderschön und animiert. Zu nächst traut sich nur der Mann mit den großen tiefen Augen, mich anzustrahlen. Maßlos, als flirte er, bleiben seine Augen an den meinen hängen. Seine Frau Mariam ist eine stillgelegte Schönheit, die offenbar von ihrem Reiz nicht weiß. Sie hat die Farbe der Erde, ihre Gliedmaßen sind schwer, ihre Augen ruhen lange auf einem Ding, ehe sie sich erschöpfen, und wenn sie einen Gegenstand nimmt, dann schwebt ihre Hand an, legt sich darauf wie zum Schmusen und hat ihn gestreichelt, ehe sie ihn benutzt. Auch ihr Lachen macht sich von sehr weit innen auf den Weg. Wenn es aber auf dem Gesicht angekommen ist, dann breitet es sich aus und geht nicht, bis es nicht alle Winkel des Gesichts durchflutet hat. Man kann nicht aufhören, sie anzusehen." (S.271/72)
"Khin Maung und Mariam wohnen in einem Dorf nördlich von Myitkyina, im verbotenen, für Fremde gesperrten Distrikt, nicht weit von der Grenze zu China. Myitkyina ist ein Zentrum, wo Gold, Jade und Bernstein gewonnen werden, aber auch die Wanderfeldbauern kommen hier her auf die Märkte, und die hiesigen Kachins sind immer noch in Stämmen unter Häuptlingen organisiert. Die Eisenbahn endet hier, aber die Straße führt immer weiter bis nach Indien und China.
 Mariam macht sich den unsteten Truthahn mit einem Griff an seinen Hals gefügig. Khin Maung hält einen Leinensack Zucker zwischen seinen Knien. Zu Hunderten nehmen die Fliegen darauf Platz. Draußen breitet sich schwarze Erde aus, die Glockenkelche der Pagoden leuchten in Weiß oder Gold, und wenn die Menschen eine Errungenschaft gemacht haben, dann sind es Schirmmützen. Es riecht nach Hirse und fauligem Gemüse. Aber das Lachen sitzt locker. 
Über die Wasserspiegel morastiger Teiche staksen die Hütten dahin auf morschen Balken. Man sieht den Seuchen in der Entstehung zu, und da die Fenster offen bleiben, schwärmen an jeder Haltestelle des Zuges die Insekten herein, trunken vom Fäulnisgeruch." (S.274/75)
"Mandalay, die rebellische, der Moderne zugewandte Siedlung, deutete sich draußen mit den ersten Ausläufern einer werdenden Millionenstadt an, die sich aus ihrer dörflichen Vergangenheit nicht lösen kann." (S.281)
"Ich wünschte, wir hätten das Selbstverständliche tun, am Meer stehen, in ihr Dorf reisen, bleiben können, doch dieses Mal ist unsere Trennung nicht kulturell bedingt, sondern politisch. Ich habe nicht vermocht, ihnen das Meer, das sie nie sahen, erfahrbar zu machen. Mein Meer ist ein anderes, und ihr Dorf suche ich in ihren Augen, in der Textur ihrer Hände, in ihren Blicken nacheinander, ihren Stoffen und Utensilien, doch suche ich vergeblich.
 Deshalb hängen unsere Blicke ineinander, weil wir nichts anderes haben, die Wirklichkeit des Gegenübers zu entziffern, und diese Blicke wollen und wollen sich nicht lösen, als ich am Bahngleis in Mandalay vor dem Abteilfenster stehe und sich der Zug mit ihnen in Bewegung setzt, sie haben die Hände nur halbhoch zum Gruß erhoben. Sein Glühen bleibt, ihr Strahlen hängt weiter in der Luft, und als sie den Augen entschwunden sind, ist da noch etwas Immaterielles auf diesem Bahn steig, das ich betrachte wie Kunst. Es ist der Nimbus einer Grenze, die sich soeben als unpassierbar, aber durchlässig erwiesen hat." (S.283/84)

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