16 November 2018

Roger Willemsen: Die Enden der Welt - Tangkiling

Tangkiling
 Die Straße ins Nichts 

"So hoch, so stetig über der Wüste durch die Wolken schwimmend, verliert man das elementare Gefühl für die Bewegung. Auf der Erde sind alle Beschleunigungen mit einer Blickgeschwindigkeit verbunden. Dieses Tauchen durch die Luft jedoch, das Gleiten über entfernte Muster und Schraffuren, Wölbungen und Dehnungen, Flächen und Senken versagt dem Auge die Fähigkeit, den Tempobezeichnungen der Außenwelt, dem Wechsel ihrer Proportionen, dem Schwinden und Entstehen ihrer Farbigkeit zu begegnen." (S.198)
Die Fernsehwerbung war von der Regierung hier schon Vorjahren abgeschafft worden, um »keine falschen Bedürfhisse« zu wecken. In den Läden ihrer Dörfer aber fanden die Siedler die Glanzbildchen der Produkt-PR und daneben vor allem Rohstoffe, Naturprodukte, nicht-designtes Essen - Früchte, Knollen, Hühner- und grüne Gänseeier, Dörrfisch, Gewürztütchen und in den Vitrinen das prachtvolle Rot-Gold der Nelkenzigaretten, an den Wänden einzelne Kalenderblätter mit Ansichten von Teneriffa oder Garmisch-Partenkirchen." (S.203)
"In Palangkaraya [220 000 E.] aber, der erst 1957 gegründeten Hauptstadt von Zentralkalimantan, kann man fotokopieren und technische Apparate kaufen. Hier gibt es vier Kinos, aber Straßenbeleuchtung noch nicht lange. [...]  Es gibt Computerspezialisten und korrespondierende Mitglieder wissenschaftlicher Zeitschriften, aber nicht selten sind es dieselben, deren Glaubenspraxis rituelle Schlachtungen und Trance-Tänze einschließt.
 Der letzte Gouverneur der Region, immerhin im Rang eines Ministerpräsidenten, verfügte testamentarisch, sein Sarg solle aus dem Holz eines sogenannten »Herzbaums« gefertigt werden, eines Baums also, bei dessen Pflanzung in der Wurzel ein menschliches Herz eingesetzt wurde." (S.205)
"Hier, wo mehrere hundert Sprachen und Dialekte vor kommen, aber kein Englisch und kaum die sterile Amtssprache mit dem Namen Indonesisch, hier kam ich zu mindest bei den Zahlen mit Indonesisch aus. Fragte ich aber, wann das Schiff ablegte, streckte mir ein Hafenar beiter die fünf Finger einer Hand entgegen und sagte »Empat«, aber »Empat« heißt »vier«. Also »Lima« konterte ich und streckte ihm meine ganze Hand entgegen für die Fünf. Nein, »Empat« beharrte mein Gegenüber, wieder seine ganze Hand hinhaltend. [...] Endlich erfuhr ich: Für den Einheimischen Borneos zählt der Daumen nicht als vollständiger Finger. Also signalisiert man mit zwei vollen Händen die Zahl Acht, und ich gewann beim Übersetzen einen neuen Blick auf den Körper."(S.207)
"Am folgenden Tag besuchte ich drei Missionarsschwestern, die unter einem Fliegenfänger am Tisch saßen und karge Mahlzeiten einnahmen. Sie erzählten, wie sich das indonesische Hausmädchen anfänglich immer mit zusammengelegten Händen vor dem Fliegenleimband verbeugt habe, hielt sie es doch für ein christliches Requisit, das es zu achten gelte." (S.208)
"Seine Fruchtbarkeit verdankt der tropische Regenwald Borneos also nicht primär dem Boden. Sie liegt vielmehr in der Luft, im Blattgrün, in den zahllosen symbiotischen Verbindungen zwischen Pflanzen und Tieren. Vierzig Meter über dem Boden wachsen in toten Bäumen Sträucher und Blumen aus den verlassenen Nestern der Orang Utans. Kerne, verfaulte Früchte, Kot und vermodernde Zweige mischen sich zum Kompost und lassen neue Mikrokosmen entstehen mit einem hoch verletzlichen inneren Gleichgewicht.
(S.209)
"Als im Jahr 1982 die Regenzeit jedoch ungewöhnlich lange ausblieb, dörrten die Sümpfe aus und das Feuer zerstörte ein Stück Regenwald von der Größe Taiwans. Dieser schlimmste Brand in der Geschichte aller verzeichneten Brände wurde erst 1983 durch die endlich ein setzenden Regenfälle gelöscht." (S.211)
"So ist der Orang-Utan als das einzige Tier zugleich gierig und stark genug, die schwere Durian-Frucht - Delikatesse für Einheimische und Menschenaffen - nicht nur zu ernten, sondern sie viele Meter weit in das heimische Nest zu schleppen, wo der Kern, in den Kot dieses Nests eingelassen oder aus den Wipfeln abgeworfen, noch die Chance des Überlebens und der Fortpflanzung erhält. Stirbt der Orang-Utan aus, so fallen auch die Kerne der Durian unter die immer selben Bäume, und so wäre der legendäre Baum Südostasiens ohne den Pongo pygmaeus in dieser Region vom Aussterben bedroht.
 Ein ähnlich symbiotisches Verhältnis hat sich zwischen den Umsiedlern und der Holzindustrie gebildet. Einmal in die entstandenen Schneisen eingefallen, sengen und sicheln die Ansiedler Gestrüpp, Kleinholz und Macchie herunter, den Kahlschlag vollendend, der mittelfristig auch ihren eigenen Lebensraum zerstören wird." (S.212)
"Nur in Tangkiling, jenem Dorf, zu dem die Straße von Palangkaraya führt, da gibt es nichts, und nicht einmal die Straße findet einen anständigen Abschluss. Sie endet, ohne zu enden, sie verläuft sich einfach, als sei sie bloß zu erschöpft, weiterzumachen. Was sie versammeln konnte, das hat sie versammelt, nun ist sie müde wie der Boden.
 Dies ist allenfalls der Brückenkopf in den Dschungel, in das Nichts-als-Dschungel. Erst hier öffnet sich das mythische Land der Ureinwohner dieser Wildnis, der Waldmenschen, wie sie wörtlich heißen, der Orang-Utan, die heute gejagt und vertrieben, von Transmigranten eingekesselt oder als Haustiere missbraucht werden und die man früher einmal wie eine eigene Bevölkerung ehrte. Bei den Dayak, den Ureinwohnern Borneos, liegt ein Tabu auf dem Inzest und auf der Lächerlichmachung von Tieren. (S.218/19)
"Die Straße nach Palangkaraya lag wieder vor mir." (S.221)

Keine Kommentare: