02 November 2018

Marah Durimeh im Reich des silbernen Löwen

Mara Durimeh im Karl-May-Wiki

Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen II:
"Nie vorher im Leben und auch nicht nachher habe ich eine Person gefunden, welche mir so ehrwürdig, beinahe möchte ich sagen, so heilig erschienen wäre wie diese mit ihrem Geiste schon mehr im jenseits als im Diesseits weilende Greisin. Nur ihre wohlthätige Menschenliebe, ihre segenspendende Barmherzigkeit gehörte noch der Erde an, sonst aber zählte sie zu denen, welche hinübergegangen sind nach den »Wohnungen in meines Vaters Hause«, von denen Christus spricht. Ich hatte damals für dieses Leben von ihr Abschied genommen, doch lebte sie so ethisch rein, so geistig klar und hoch, wie ich sie kennen gelernt hatte, in meinem Herzen fort. Und nun schien es, als ob ich sie gegen alles Erwarten jetzt wiedersehen sollte! Aber war sie es denn wirklich, war es keine andere? Adsy hatte von einer uralten Frau gesprochen, deren Jahre man gar nicht zählen könne. Das stimmte. Auch seine übrigen Bemerkungen konnten sich eher auf sie als auf eine andere, uns noch unbekannte greise Frau beziehen, obgleich das Wort es Sahira, die Zauberin, nicht auf Marah Durimeh paßte. Doch war diese Bezeichnung wohl nur die Folge des niedrigen Standpunktes, von welchem aus sie von den Kurden betrachtet und beurteilt wurde. Ihnen kam das ganze Wesen und Thun der Alten fremd und unbegreiflich vor, und was dem Naturmenschen unbegreiflich erscheint, das pflegt er am liebsten mit dem Begriffe der Zauberei zu erledigen. Es war ja, wie ich schon zu Halef gesagt hatte, möglich, daß wir diese Zauberin noch nie gesehen hatten, aber es lag nicht nur eine Ahnung, sondern wie eine Überzeugung in mir, daß uns diese Begegnung mit unserm »Geist der Höhle« zusammenführen werde. Bei diesem Gedanken stiegen die damaligen Erlebnisse wieder in mir auf, jene Kämpfe bei den Teufelsanbetern und bei den muhammedanischen und christlichen Anwohnern des Zabflusses, besonders mein Aufstieg nach der geheimnisvollen Höhle des Ruh 'i Kulian und mein mehrmaliges Gespräch mit diesem Geiste. Es fielen mir die Worte des Melek ein: »Sie wird dich morgen nach der Zeit des Mittages in meinem Hause besuchen, denn sie hat dich lieb, als ob du ihr Sohn oder ihr Enkel seist.« Und dann, als sie am andern Tage mit mir in ungestörter, weihevoller Einsamkeit oben am Berge saß, erklang es aus ihrem Munde: »Herr, blicke auf, dahin zwischen Süd und Ost! Diese Sonne bringt Frühling und Herbst, bringt Sommer und Winter; ihre Jahre sind mehr als hundertmal über mein Haupt gegangen. Siehe dieses Haupt an! Es hat nicht mehr das Grau des Alters, sondern das Weiß des Todes. Ich sagte dir bereits in Amadijah, daß ich nicht mehr lebe, und ich habe die Wahrheit gesprochen; ich bin ein – – Geist, der Ruh 'i Kulian.« Sie hielt inne. Ihre Stimme klang dumpf und hohl, wie wirklich aus dem Grabe heraus; aber sie vibrierte doch wie unter der Regung eines lebendigen Herzens, und die Augen, welche auf das Gestirn des Tages gerichtet waren, zeigten einen feuchten Glanz tiefer, seelischer Rührung. [...]
Die alte Marah Durimeh und der Ruh 'i Kulian sind dir ein Rätsel gewesen; sind sie es dir auch jetzt noch, mein Sohn? Oder beginnst du, mich zu begreifen?« Ja, ich begann damals, sie zu verstehen, und je länger ich an sie dachte, desto mehr wurde mir ihr Wesen und ihr Wollen klar. Sie war eine in menschlicher Gestalt wirkende Hand Gottes, welche sich in überquellender, erbarmender Liebe ausstreckt, die Irrenden zurechtzuweisen und die Abgefallenen zurückzuführen zum Heile, welches allen Menschen und nicht etwa nur wenigen Auserwählten beschieden ist. Indem sie nicht mehr der Erde angehörte, gehörte sie in ihrer reichen Liebe der ganzen Menschheit an! [...]
Ich hörte Marah Durimeh noch damals zum Abschiede sagen: »Mein Sohn, wenn du dieses Thal verlassen hast, so wird mein Auge dich nie wiedersehen, aber der Ruh 'i Kulian wird für dich beten und dich segnen, bis diese seine Augen, welche du jetzt offen siehst, sich für hier geschlossen haben!« Indem ich in meinem Innern diese Worte hörte, breitete sie die Hände segnend über mich aus; ein wonniges Gefühl des Glückes, des Friedens zog in mir ein; ich schloß die Augen zum Schlafe und wurde unendlichen, lichten Fernen entgegengetragen, die nur der Traum, nicht aber das wachende Auge kennt. [...]"

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