27 Juni 2020

Michael Thomas: Deutschland, England über alles

Michael Thomas: Deutschland, England über alles. Rückkehr als Besatzungsoffizier *
ist ein 1984 erschienener autobiographischer Bericht von Michael Thomas (Geburtsname: Ulrich Hollaender), der sich vornehmlich mit dem Wiederaufbau einer demokratischen Politik in Deutschland ab 1945 beschäftigt.
Thomas[1] war bei Kriegsausbruch am 1.9.1939 auf englischem Boden. Als Sohn von Felix HollaenderWikipedia-logo.png war er nach Nazigesetzen deutscher Halbjude, wurde als solcher in England interniert, meldete sich zum britischen Militärdienst, kämpfte von der InvasionWikipedia-logo.png (6. Juni 1944) ab gegen Nazideutschland und beobachtete als Verbindungsoffizier von General TemplerWikipedia-logo.png den Aufbau der deutschen Nachkriegspolitik in der britischen Zone aus nächster Nähe. Vermutlich war sein Einfluss darauf, dass die britische Militärregierung ihr Misstrauen gegenüber den deutschen Politikern trotz anfänglich sehr großen Vorbehalten dann doch relativ rasch abbaute, nicht gering.
Als Sohn seines Vaters kannte er die intellektuelle Szene um Max Reinhardt (wenn auch nur aus der Perspektive des Kindes), als Schüler stand er in enger Beziehung mit Personen des Stefan-George-KreisesWikipedia-logo.png nahe, den er freilich nicht so genannt sehen wollte, als Student gewann er die Freundschaft oder doch zumindest ein freundschaftliches Verhältnis zu Carlo Schmid. In seiner Eigenschaft als Presseoffizier freundete er sich mit dem damals 23-jährigen Rudolf Augstein an.
Dass er als Konservativer Kurt SchumacherWikipedia-logo.png näher stand als Konrad Adenauer (S.149) und als Freund Rudolf AugsteinsWikipedia-logo.png Axel SpringerWikipedia-logo.png als ideenreichen Innovateur des deutschen Pressewesens schildert (S.176-179), macht seinen Bericht als Quelle noch wertvoller.
Ein Interview mit ihm ist 1984 in der ZEIT erschienen.[2].*
Zitat über britische Internierungslager:
 Zitat
Ich ließ nicht locker und wurde nun mit den haarsträubenden Vorgängen in Bad Nenndorf konfrontiert. - Folterungen bei Verhören! Nazimethoden in den eigenen Reihen! Ich traute meinen Ohren nicht.
[...] Ich wußte, daß die Verpflegung in den Lagern miserabel war, aber ich hatte keine Ahnung von den Verhörmethoden, bei denen, wie man später erfuhr, Grausamkeiten und Folter vorkamen. Und mit einem der Verantwortlichen hatte ich das Badezimmer geteilt.
Wer aber hätte mir meine Unkenntnis geglaubt? Seither kann ich mir vorstellen, daß es selbst im ReichssicherheitshauptamtWikipedia-logo.png Leute gab, die "von alledem nichts gewußt" haben.
Michael Thomas: Deutschland ..., S.165

* Diesen Text habe ich im wesentlichen 2012 verfasst. Er ist im ZUM-Wiki  und nachfolgend in ZUM-Unterrichten weiter verbessert worden. (OER-Material, d.h. Lizenz ccbysa)
Ich ergänze noch unsystematisch zusätzliche Notizen, die ich mir 2012 gemacht habe und die in einen ausgearbeiteten Artikel nicht hineingehören, die ich aber wiederfinden möchte und deshalb nicht nur auf einem Zettel aufbewahren möchte.

Harte Behandlung als Internierter in England, dann als Soldat und Offiziersanwärter in der Armee. Gerät über eine Studie über die deutsche Jugend in Besatzungsoffiziersaufgaben. (Intelligence). Verbindungsoffizier zu Hamburger Oberbürgermeister Petersen und Oberpräsidenten.
"Ich bin kein Adept Jüngers, aber es besteht für mich kein Zweifel, dass er zu den großen schöpferischen Figuren dieses Jahrhunderts gehört." (Seite 135) 

Gespräch mit Adenauer (Seite 136)
"Nach der Diskussion mit Bridge trug Generalinspekteur Halland sein Konzept für den Neuaufbau der Polizei vor. Ich glaube, die Bundesrepublik verdankt der klugen Politik dieses Mannes die vorzügliche Basis der deutschen Polizei. Ähnlich wie bei der Zoll- und Finanzverwaltung wurden dank des britischen Einflusses vielleicht die maßvollsten und zivilsten Behörden dieser Art in Europa geschaffen. Möglicherweise haben die Schüler die Lehrmeister noch übertroffen. "(Seite 146)
"Da ich mich geistig zum Widerstand zählte und in den mir gegenübersitzenden Deutschen meine Gesinnungsgenossen sah, kämpfte ich im Hauptquartier um Verständnis - nicht nur bei der allgemeinen politischen Meinungsbildung, sondern vor allem bei konkreten Maßnahmen." (Seite 147)
Th. hatte Hochachtung für Adenauer und stand seiner politischen Richtung näher. Trotzdem "habe ich mich für Schumacher schon beim ersten Treffen persönlich mehr erwärmt, als ich es für Adenauer je vermochte." (Seite 149)
Über Österreich: "Fast alle englischen Offiziere von Stand waren in Windeseile vom österreichischen Adel vereinnahmt worden; sie begannen Deutsch im nasalem Adelsdialekt zu sprechen, was im übrigen nicht schlecht zum 'Oxford accent' passte. (Seite 159)


Gespräch mit dem österr. Bundeskanzler Figl über britische Internierungslager (Seite 160)


"Ich ließ nicht locker und wurde nun mit den haarsträubenden Vorgängen in Bad Nenndorf konfrontiert – Folterungen bei Verhören!  Nazimethoden in den eigenen Reihen. Ich traute meinen Ohren nicht." (Seite 165 - zum Weiteren sieh das obige Zitat))
Joseph Rovan "Professor an der Sorbonne und neben Alfred Grosser wohl der beste Deutschland-Kenner in Frankreich". (S. 171)
Klaus von Bismarck Jugendhof Vlotho (Seite 169-171)

"Von General Templer habe ich bis heute eine hohe Meinung [...] entscheidungsfreudig, wenn auch bisweilen zu impulsiv [...] Seine Detailkenntnis war gefürchtet." (S.169)

Axel Springer: 1.12.1946 erste Nummer der Hörzu Grundlage des Imperiums (Seite 176 ff)
Über Axel Springer:
"Aber nicht nur die Fähigkeit, andere zu faszinieren, sondern auch die andere zu perhorreszieren, gehört zum Geheimnis dieser Persönlichkeit." (Seite 179)


Über den Zonenbeirat:"In diesem 'Vorparlament' trafen sich jene Persönlichkeiten, die dann in der Bizone und schließlich in der Bundesrepublik eine Rolle spielen sollten. (Seite 180)
Adenauer über Michael Thomas: "Sie sind einer der wenigen Männer, die Deutschland und England kennen und verstehen." (Seite 187)
"Wohl kein zweiter Dichter hat so in die Geisteswissenschaften seiner Zeiten hineingewirkt wie Stefan George. Es gab kaum eine Universität in Deutschland, an der nicht Lehrstühle aus dem Umkreis Stefan Georges besetzt waren (Seite 195) z.B: Gundolf
Seite 192: Freundeskreis von Stefan-George-Anhängern im Studium
Carlo Schmid (Seite 199ff) 
Schmid: "Die SPD war nie meine geistige Heimat, aber eine Familie, die man nicht einfach wechseln kann, wenn es einmal Krach gibt" (Seite 219)
Grotewohl und Pieck( Seite 230 unten bis Seite 231 unten)
Foreign Office Seite 243 ff
Mit Augstein befreundet (Seite 245-248)
Abendpost Hannover Nannen (Stern) Seite 248f
ZEITSeite 249-252
Friedländer-Adenauer-Schuman-Aussöhnung Seite 252f
Währungsreform Seite 256f: der Amerikaner Tannenbaum "eigentlicher Architekt der Währungsreform"
Blockade, Seite 260 F
Edgar Salin (George-Kreis) Nationalökonom, Seite 260
Vorbereitungen der Bundeswehr Seite 262: 
Graf Schwerin ab 1950 "Berater des Bundeskanzlers in Sicherheitsfragen", seine Abteilung unter dem Decknamen "Zentrale für Heimatdienst" im Bundeskanzleramt geführt (Seite 263)
Oktober 1950 Schwerin durch Theodor Blank ersetzt
Sohl (Seite 264 unten bis 265 oben)
Dr. Heinrich Oberheid war der Erfinder und eigentliche Führer der deutschen Christen (Seite 267) Reichsbischof Müller nur seinen Strohmann. [O. geörte freilich lt. Wikipedia nicht zum engeren Kreis der Gründer.] Nach Röhmputsch war Oberheid aus der NSDAP ausgetreten. Nach dem Krieg wieder zu Stinnes. Spitzname "Eisenbischof" (S.268)


* Aus dem Interview mit der ZEIT:

"ZEIT: Sie sind ein Mann nicht nur mit zwei Herzkammern, sondern auch mit zwei Vaterländern. Welches ist das schwierigere Vaterland?
Thomas: Das kann man, glaube ich, nicht beantworten. Wollte man eine Antwort versuchen, dann wäre das schwierigere Vaterland wahrscheinlich England. Denn ich denke, daß Arroganz und Zynismus in England eine größere Schwelle sind als im gegenwärtigen Deutschland die Fehler und Unzulänglichkeiten deutscher Politik; die englische Arroganz und den englischen Zynismus, besonders in der Außenpolitik, finde ich doch manchmal sehr schwer zu ertragen, während ich auf der deutschen Seite zumindest in dieser Phase der deutschen Geschichte, etwas Ähnliches nicht sehe. Auch ist das deutsche Vorurteil gegen meine England-Bindung geringer als das englische gegen meine deutsche Herkunft. Auf der anderen Seite habe ich natürlich eine ganz große Bewunderung für das englische Wesen, für den Umgang untereinander, für das Augenmaß und für die, wenn man so will, strategische Weisheit der Engländer, auch wenn diese sich im letzten Krieg übernommen und einen Pyrrhussieg errungen haben."

26 Juni 2020

Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen VIII

Wir finden den Baron Manfred fern von seinem stillen, grünen Revier wieder, aus dem ihn eine Familienangelegenheit von besonderer Dringlichkeit verlockt hatte. [...]
Es war ein schöner Sommerabend, als er zwischen Wiesen und nickenden Kornfeldern den bezeichneten Bergen zuritt. Ein Gewitter war über das Gebirge fortgezogen, und blitzende Tropfen hingen noch in Zweigen und Gras, aus dem ein erquickender Wohlgeruch emporstieg. Ein Holzhauer hatte ihm den Pfad nach der Einsiedelei gewiesen, die Gegend wurde immer höher, kühler und stiller, nur die Abendglocken schallten noch durch das feierliche Rauschen des Waldes aus den Tälern herauf. [...]
Durch solche Betrachtungen war er nach und nach ganz in Eifer geraten und nahm sich eben ernstlich vor, den Einsiedler durch vernünftige Überredung womöglich der Welt wieder zuzuwenden, als sein Pferd sich plötzlich scheute und heftig zur Seite sprang. Denn eine wundersame Gestalt war auf einmal zwischen den Bäumen hervorgetreten, unter denen nun auch die in den Fels gehauene, von wilden Weinranken kühl verhangene Einsiedelei nebst einem sorgfältig umzäunten Gärtchen sich zeigte. Der Eremit trug einen breiträndigen Pilgerhut, ein ungeheurer, alter Schlafpelz, der ihm überall zu weit war, rauschte im Grase hinter ihm her, während er aus einer langen Pfeife Tabak rauchte. Manfred traute seinen Augen nicht. »Wie!« rief er, »Herr Dryander – Sie also sind der Vitalis!?« – »Vitalis? Warum denn nicht?«erwiderte Dryander gelassen, »aber bleiben Sie mir mit dem dummen, wilden Pferde ein wenig vom Leibe.«
[...] Hier zog und qualmte der Zelot so heftig aus seiner Tabakspfeife, die ihm über dem Reden ausgehen wollte, daß Manfred mitten in seinem Ärger in ein lautes Gelächter ausbrach. Das steckte Dryandern an, er stimmt unaufhaltsam mit ein. Beide aber wandten sich erschrocken, als plötzlich hinter ihnen das herzhafte Lachen noch eines Dritten dareinschallte.
Ein großer, starkknochiger Mann mit gebräuntem Gesicht und wild herabhängendem Haar, eine grobe Kutte mit einem Strick um den Leib gebunden, trat aus dem Gebüsch hervor und konnte sich, noch immer lachend, gar nicht satt sehen an dem abenteuerlichen Aufzuge des Dichters. Es ergab sich nun, daß der Neuangekommene der eigentliche Besitzer der Klause sei und daß Dryander erst vor wenigen Stunden, auf seiner Fußreise vom Gewitter überrascht und ganz durchnäßt, sich hierher geflüchtet und, während der Eremit in den Wald nach Holz gegangen, es sich in dessen trockenem Pelze bequem gemacht hatte.
[...] Dryander, den der viele Kohl im Garten ärgerte, nannte ihn einen Canonicus in herbis und sprach wütend das tollste Küchenlatein, der Einsiedler antwortete ebenso und schien erst recht vergnügt in dieser barbarischen Sprachverwirrung. Dazwischen rauchte er, heftig dampfend, stinkenden Tabak aus einer kurzen ungarischen Pfeife, im Wein aber tat er wenig Bescheid, er mache ihn, sagte er, aufgeblasen und zänkisch. Er erzählte ihnen, daß er Frater Sammler in dem Kloster oben gewesen, nach dessen Aufhebung aber sich hier angesiedelt habe [...]
Manfred betrachtete, nicht ohne tiefe Wehmut, den fidelen Einsiedler, den das Leben mit allen seinen Stößen nicht hatte unterkriegen können und der nun die Frömmigkeit frisch weg wie ein löbliches Handwerk trieb. – »Es ist ganz unmöglich«, rief er endlich nach einigem Nachsinnen aus, »auch Sie sind nicht der Vitalis!«
»Oho!« erwiderte der Waldbruder, »ich und Herr Vitalis! wo denkt Ihr hin, nicht seine Schuhriemen aufzulösen, bin ich würdig und ich tät's ihm gern heut und allezeit, wenn er es litte! Nein, nein, der wohnt dort im ehemaligen Konvente.« – »Als Nachteule«, sagte Dryander, »um die Mäuse wegzuschnappen, die nach deinen Speckschwarten gehen.« – »Still«, fiel ihm der Einsiedler mit überfliegender Röte schnell ins Wort, »schnattert nicht so ungewaschen ins Zeug hinein, wenn Ihr nichts von der Geistlichkeit versteht. ›Contenti estote‹, sagte einmal ein Kapuziner in einer Komödie, die ich noch als Soldat gesehen habe, das heißt: begnügt euch mit eurem Kommißbrote, wenn ihr das Himmelsmanna nicht vertragen könnt!« – »Na, seid nur nicht gleich so grob«, lachte Dryander, den der Vorwurf heimlich wurmte.
»Abgemacht!« rief der gutmütige Klausner. »Aber vom Herrn Vitalis muß ich euch noch erzählen.« – [...] Ich tret' heraus, da steht ein schöner, wilder Jägersmann dicht vor mir. »Laudetur Jesus Christus«, sage ich. Er aber, ohne Amen zu sagen: »Was machst du da?« – »Wie Ihr seht, Herr, ich bin ein Einsiedler und bete, wenn die andern schlafen.« – »Und schläfst, wenn die andern beten, das ist alles eins!« – »Gewiß, so lösen wir einander ab auf der himmlischen Schildwacht.« – Der Jäger darauf stöbert mir in der Hütte herum, sieht mein Moosbett, das Kreuz, den Totenkopf. »Vollständige Dekoration«, sagt er, »bist du so faul, daß dich der Kahlkopf da mit seinen gefletschten Zähnen erst jeden Abend ins Gewissen beißen muß, um zu beten?« – »Herr«, erwidere ich, »Ihr werdet mir nichts weismachen, ich bin Soldat und Mönch in dem Kloster da droben gewesen und weiß wohl, daß es leichter ist, eine Festung als das Himmelreich zu erobern. Nun möcht' ich doch den Prahlhans sehen, der eine Festung ohne Bajonett, Leiter und Handwerkszeug nehmen wollte! Und Ihr wollt den Himmel, der höher liegt, stürmen, nackt und erbärmlich, wie Ihr seid, ohne Wehr und Rüstung und tägliche Übung in den Waffen? Ich sage Euch: Demut ist der Anfang und Ende, hochmütiger Mensch!« – Der Fremde sah mich groß an mit funkelnden Augen, dann stützte er auf dem Tische den Kopf in die Hand, ich meint', er betrachtete den Totenkopf, der vor ihm lag, aber er mochte wohl andere Gedanken haben. Sitz du, solange du willst, dachte ich, ich fürcht' dich nicht, ich trau' dir nicht. Damit streckt' ich mich auf meine Streu und behielt ihn in den Augen, bis sie mir am Ende zufielen.
Als ich aufwachte, waren meine Augen noch immer auf den Tisch gerichtet, aber der Jäger saß nicht mehr auf demselbigen Punkt. Als ich aber vor die Klause trat, sah ich ihn in der Morgendämmerung schon von dem alten Kloster herabkommen. Es war ein prächtiger Morgen, die Hähne krähten unten in den Dörfern, hin und her klang schon eine Morgenglocke durch die stille Luft. Auch der Fremde, nachdem er mich freundlich gegrüßt hatte, blieb stehen und sah lange ins Tal hinaus. »Sieh«, sagte er, »das ist ein Friede Gottes überall, als zögen die Engelscharen singend über die Erde! die armen Menschenkinder! Sie hören's nur wie im Traum. Müde da unten, verirrt in der Fremde und Nacht, wie sie weinend rufen und des Vaters Haus suchen, und wo ein Licht schimmert, klopfen sie furchtsam an die Tür, und es wird ihnen aufgetan, aber sie sollen den Fremden dienen um das tägliche Brot; darüber werden sie groß und alt und kennen die Heimat und den Vater nicht mehr. O wer ihnen allen den Frieden bringen könnte! Aber wer das ehrlich will, muß erst Frieden stiften in sich selbst, und wenn er darüber zusammenbräche, was tut's! – Sieh, Gesell, und das ist geistliches Recht und Tagewerk.«
Ich alter Kerl stand ganz verblüfft vor ihm, denn ich verstand schon gleich damals so viel davon, daß ich bisher eigentlich noch gar nichts verstanden hatte von meinem Metier. Vor meiner eigenen Tür wollt' ich kehren und die ewige Seligkeit für mich allein zusammenknicken, wie ein filziger Schuft, als wär's dem lieben Gott um mich allein zu tun in der Welt. – Und seht, von der Stund' ab blieb der Jäger hier auf den Bergen und wohnte im Kloster droben und machte sich gemein mit mir, wie ein getreuer Kamerad, und ist doch ein grundgelehrter Herr. »Denn du gefällst mir«, sagte er, »du machst keine Flausen mit deiner Frömmigkeit.«[...]"
(Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen 3. Buch 21. Kapitel)

Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen VII

Graf Victor gerät in eine Aufführung seines Theaterstücks über die spanische Gräfin und gerät in Zweifel über seine dichterische Tätigkeit.

"Das Haus war prächtig erleuchtet und zum Erdrücken voll, aus der fürstlichen Loge zwischen den reichen Vorhängen blitzt' und schimmerte es von Sternen, Lichtern und schönen Frauenaugen blendend herüber. [...]
»Was gibt's da?« frägt die Fürstin, sich weit aus ihrer Loge hervorlehnend. – Ein Kammerherr drängt sich eilig vor, auf Lothario deutend: »Dort, der Dichter selbst, sie haben ihn erkannt, Graf Victor von Hohenstein.« – » Der?!« – entgegnet die Fürstin und sinkt verwirrt auf ihren Sessel zurück.
Unterdes war der Vorhang gefallen, ein wütender Applaus brach plötzlich los, sich immer wieder erneuernd. Den Grafen Victor aber – denn er war es wirklich – erfaßte ein seltsames Grauen vor dem hohlen Sturm des Beifalls, er sah noch einmal dazwischen einen sengenden Blick der Fürstin nach ihm herüberschießen, dann stürzte er entsetzt über die noch leeren Treppen ins Freie hinaus. [...]
Die plötzliche Erinnerung an die Zeit, wo er das Stück geschrieben, versenkte seine ganze Seele wie ein ein Meer von Wehmut. Auf dem Gebirge in Spanien, als er an jenem stillen Abend, im Wald auf den Franzosen St. Val zielend, zum erstenmale Juanna erblickte, da war's ihm, wie in die Sonne zu sehen – sie war schon lange untergegangen, aber Wald und Berge schimmerten und sprühten noch in wunderbaren Funken – damals dichtete er das Schauspiel von der wilden Gräfin. Da dachte er nicht, daß es so kommen würde! Und als es dann Friede und alles wieder still und nüchtern wurde, kehrte auch er nach Deutschland zurück, und der Frühling und das Grün der wechselnden Landschaften breiteten sich wie ein Schleier milde über das schöne Bild im Herzen. [...]
Victors Sinn war heut wie ein schneidendes Schwert. – »Und red mir nicht von Poesie, von Dichterberuf«, fuhr er fort, »du hast nicht mehr davon als ein verliebtes Mädchen. Es gibt nur wenige Dichter in der Welt, und von den wenigen kaum einer steigt unversehrt in diese märchenhafte, prächt'ge Zaubernacht, wo die wilden, feurigen Blumen stehen und die Liederquellen verworren nach den Abgründen gehen, und der zauberische Spielmann zwischen dem Waldesrauschen mit herzzerreißenden Klängen nach dem Venusberg verlockt, in welchem alle Lust und Pracht der Erde entzündet und wo die Seele, wie im Traum, frei wird mit ihren dunkelen Gelüsten« Hier hielt sich Otto nicht länger. Es überlief ihn eiskalt, als zuckte ein Blitz durch die Nacht und erleuchtete auf einmal gräßlich sein ganzes verlorenes Leben. Noch ganz verwirrt, im Innersten getroffen, ergriff er wie ein Rasender einen nahe gelegenen Theaterdegen und drang sinnlos auf Victorn ein. Dieser schleuderte den Wütenden weit von sich, daß ihm der Degen entfiel. »Ruhig!« rief er, »und bedenke meine Worte, ehe alles zu spät! Mich aber laß, ich habe mit mir selbst zu fechten, Gott gnad' uns beiden!«"
(Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen 3. Buch 19. Kapitel)

25 Juni 2020

Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen VI

Währenddes war Fortunat in Neapel und Sizilien umhergestreift. In seiner poetischen Behaglichkeit hatte er sich alles aus dem Sinn geschlagen und macht überhaupt aus seiner Liebe gar nichts als ein langes Gedicht in vielen Gesängen und verschiedenen Silbenmaßen, worin ein schönes, schlankes italienisches Mädchen die Hauptfigur spielte. Da begab sich's aber, daß er im Schreiben sich nach und nach in diese Figur selbst verliebte, und je verliebter er wurde, je ähnlicher wurde sie unvermerkt der kleinen Marchesin, als ob Fiametta oft plötzlich zwischen den Blütengewinden der Verse hervorguckte und, ihn auslachend, ausrief: »Siehst du, ich hab' dich doch!« – Ja, als er in Sizilien eines Abends auf einem hohen, senkrechten Felsen über dem Meere eingeschlummert war, träumte ihm, die blaue Flut teile sich leise, und mit langem, grünem Haar und glänzenden Schultern tauche Fiametta unten empor, in irren Tönen wehmütig klagend. – Als er erwachte, war der Mond schon über dem Meere aufgegangen, in der Ferne aber sah er ein Segel schwellend durch die weite Stille nach dem jenseitigen Ufer Italiens hinübergleiten. – Da faßte ihn eine unwiderstehliche Sehnsucht, und schon die folgende Nacht segelt' er selber hinüber. Und so geschah es, daß aus demselben Morgenrot, in welchem Rom hinter Otto versank, die Gärten, Trümmer und Kuppeln vor dem glückseligen Fortunat duftig wieder emporsteigen.
[...]
Da sangen die Vögel und rauschten die Brunnen noch immer wie damals. Aber an der Hauptallee sah er Wäsche zum Trocknen aufgehängt, einzelne Ziegen weideten ungestört zwischen den verwilderten Blumenbeeten. Endlich glaubte er in einiger Entfernung deutsch reden zu hören. Er ging dem Klange nach und begegnete einem alten, unbekannten, etwas schäbigen Diener. Hastig fragte er nach dem Marchese A. und seiner Tochter. Der Alte sah ihn von oben bis unten an und sagte dann verdrießlich: dieser Palast sei von einem deutschen Kavalier bewohnt. Fortunat war wie im Traum. – Er verlangte nun, den Herrn zu sprechen. Der Bediente wies schweigend nach einer Laube und ging fort, ohne sich weiter um den Gast zu bekümmern.
[...]
als er in die bezeichnete Laube trat und in dem deutschen Kavalier unseren Freund Grundling erkannte: in dem geblümten Schlafrock des Marchese auf einem halbzerrissenen damastenen Sofa ausgestreckt, eine lange Tabakspfeife und ein Buch in der Hand, Talglicht, Fidibus und Kaffeekanne vor sich.
[...]
»wo ist Fiametta? Was macht sie?« – »In Deutschland wahrscheinlich und weint«, erwiderte Grundling gelassen. – »Warum weint sie?« – »Weil sie ein junges, albernes Ding ist, dem ein konfuser Wein, der noch moussiert, lieblicher in die Nase sticht als ein würdiges, abgelegenes Gewächs; das will heißen: die einen brutalen Phantasten, der sein Liebchen verläßt und seine Freunde drosselt, charmanter findet als -« »Und wem gehört jetzt dieser Palast?« unterbrach ihn Fortunat ungeduldig wieder.
[...]
Und als er nun endlich tief aufatmend draußen in den prächtigen Abend hineinfuhr, blühten alle Gärten, und ein Regenbogen stand über der Gegend, als müßte nun alles, alles wieder gut werden.  (18. Kapitel)

Drittes Buch 
19. Kapitel
Auf dem fürstlichen Jagdschlosse, wo im vorigen Jahre alles so bunt und fröhlich war, sieht es jetzt ganz anders aus. Die Vögel picken frühmorgens auf der marmornen Treppe zwischen den Säulen, ein lässiger Gärtnerbursch dehnt sich in der Morgenkühle und schickt sich an, die verschlungenen Gänge notdürftig in Ordnung zu bringen, die überall blühend verwildern. [...]
Der Fürst gedachte nicht mehr des Schlosses, er war selber lange verwildert. Zwischen Genuß und Reue, Lust und Grauen war er allmählich immer tiefer hinabgestiegen in die schimmernden Abgründe, wo mit verlockendem Gesang die Nixen im Mondschein auf den Klippen ihr feuchtes Haar kämmen, das ferne Wetterleuchten der Religion verwirrte ihn nur noch mehr; so hatte er sich im schönen Leben verirrt und konnte sich nicht wieder nach Hause finden. Da schlug die himmlische Liebe ihren Sternenmantel um den Todmüden. Er verfiel in eine schwere Krankheit, und als er wieder genas, war auf einmal alles vorbei. Die Leute nannten ihn wahnsinnig, er aber war vergnügt und blätterte Tag für Tag mit stiller, herzlicher Lust in den alten Bilderbüchern, die er als Kind gelesen; alles andere hat er vergessen. Sie hatten ihn endlich in einem entlegenen Flügel des Schlosses absondern müssen von der Welt, die er nur noch wie im Traume von ferne sah, nur die unschuldigen Vögel sangen alle Morgen vor seinen Fenstern von der alten Zeit, daß er oft erschrocken von seinen Bildern aufhorchte.
Aus seiner Hand aber hatte die Fürstin rasch die Zügel des Regiments ergriffen und lenkte keck, die Rosse peitschend, in die neue Freiheit hinaus. In dieser Zeit kam Lothario eines Abends einsam von dem Gebirge herab. Wir wissen nicht, wohin er wanderte, sein Weg führte ihn durch die Stadt. Der Mond trat manchmal heimlich lauernd zwischen den Wolken hervor, da lag die alte Residenz unten wie eine Ruine phantastisch in der schwülen Nacht umher, es war schon alles still, nur ein Mädchen sang noch zur Gitarre aus einem Garten drüben und die Nachtigallen schlugen von den Bergen.

Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen V

Otto hatte nun den Wein zu bezahlen, die Neige kam ihm jetzt schal vor, da sie die brennendroten Lippen nicht mehr darin kühlte. Draußen aber war unterdes der Abend verklungen und verblüht, nur von den Bergen sah man noch einzelne Leuchtkugeln aufsteigen. Wie im Taumel wanderte er zwischen den Gitarrenklängen, dem Singen und Plaudern der Heimschwärmenden durch die laue Nacht, als mitten in dem Jubel eine dunkle Gestalt an ihm vorüberstreifte, dann aber, plötzlich zurückgewandt, ihm fest ins Auge blickte. Mit Erstaunen sah er den Maler Albert vor sich stehen: ganz bleich, verwildert und abgerissen. – »Mein Gott! Wie kommen Sie nach Rom, und in diesem Zustande?« rief der Überraschte aus. – »Verloren, alles verloren!« erwiderte Albert finster und mit solchem Ausdruck des tiefsten Grams, daß Otton schauderte. »Aber hier belauscht uns der Mond noch, auch er ist falsch in diesem Lande«, fuhr er fort, indem er Ottos Hand faßte und ihn tiefer in den Wald hineinzog. Rasch und unzusammenhängend erfuhr nun Otto, daß sein wunderlicher Landsmann, von heimlich aufschlagenden [...]
So waren sie auf einen Felsen gekommen, der schwindelerregend über eine unermeßliche, dämmernde Tiefe hinüberhing. Albert stand am äußersten Rande und wies mit seinem Schwerte schweigend in die Ferne. – »Großer Gott, wie herrlich!« rief Otto überrascht aus – Rom lag da unten still und feierlich im Mondglanz. – Da hörte er auf einmal ein Geräusch, er sah Albert plötzlich wanken, sinken. Der Unglückliche hatte sich mit heidnischer Tugend in sein eignes Schwert gestürzt. – »Grüße das Vaterland – ich sterbe – frei«, sagte er ohne Zeichen des Schmerzes, wehrte die Hand des hinzugesprungenen Otto kräftig ab und glitt, eh' ihn dieser wieder fassen konnte, rettungslos in den Abgrund hinab.
[...]
Da träumte ihm, er läge in dem schönen Garten zu Hohenstein und sähe die steinernen Götterbilder vor sich im hellen Mondschein auf den Gängen stehen. Es war, als flüsterten sie in der Stille heimlich untereinander, und als er recht hinsah, regte sich das Venusbild und stieg langsam von dem marmornen Fußgestell herab. Mit Grauen erkannte er seine Annidi, sie kam gerade auf ihn zu, eine Marmorkälte durchdrang plötzlich alle seine Glieder, daß er erschrocken aufwachte. Als er aber noch ganz verwirrt umherblickte, stand wirklich die weiße Gestalt in der Haustür, leise flüsternd nach jemand zurückgewandt, den er nicht sehen konnte. Auf einmal schlug sie einen weiten Mantel auseinander, und Annidi trat aus den Falten hervor. Ein junger, hoher Mann umschlang und küßte sie, dann warf sie ihm lachend den Mantel zu und schlüpfte ins Haus, der Fremde schwang sich rasch über den Garten Zaun – und alles war wieder totenstill. Otto starrte lange regungslos auf den dunklen Fleck, wo der furchtbare Spuk zerronnen. Darauf stürzte er aus dem Garten in die Nacht hinaus, ohne zu wissen wohin. [...]
Zu seinem Erstaunen fand er die Tür nur leicht angelehnt, ein Licht brannte drin. Als er in die Stube trat, sah er Kordelchen auf der Erde knien zwischen Wäsche und Kleidern, die sie eifrig in einen Mantelsack packte. Sie blickte erstaunt, fast erschrocken nach ihm herum. »Was willst du denn jetzt hier?« sagte sie, »Guido ist noch auf dem Lande, und kommt erst in einigen Tagen zurück.« – Otton aber wollte das Herz zerspringen, er warf sich auf das Sofa und brach, sein Gesicht mit beiden Händen bedeckend, in ein unaufhaltsames Weinen aus. Da stutzte Kordelchen, sie ließ alles liegen, setzte sich zu ihm und tröstete und streichelte ihn neugierig und mit herzlicher Teilnahme, bis sie nach und nach sein ganzes Unglück erfahren. Sie hörte alles still und nachdenklich an. Als er aber schwieg, sprang sie plötzlich fröhlich auf. »Wir reisen zusammen!« rief sie aus, »das ist eine langweilige Wirtschaft hier, und ich und Guido, wir paßten eigentlich niemals zusammen.
Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen, 18. Kapitel

24 Juni 2020

Zur literarischen Behandlung des Ödipusstoffes

Als Ausgangspunkt die Hinweise der Wikipedia:
"Als Inbegriff einer griechischen Tragödie wurde das Thema schon in der Antike künstlerisch mehrfach bearbeitet. Sophokles gestaltete Ödipus’ Schicksal gleich in mehreren Stücken. Die Ödipus-Dramen von Aischylos und Euripides sind uns nicht erhalten geblieben. Ebenso verarbeitete Seneca diesen Stoff.
Auch mehrere neuzeitliche Künstler haben den Ödipus-Mythos dargestellt bzw. variiert: z. B. Pierre CorneilleVoltaire (die Tragödie Oedipe), J. PéladanHugo von HofmannsthalAndré GideJean CocteauMax Frisch (Roman Homo faber) und Haruki Murakami (Roman Kafka am Strand) in der Literatur sowie Igor StrawinskiGeorge Enescu (die Oper Oedipe), Bohuslav MartinůThe Doors und Carl Orff in der Musik, Andreas Schmitz in seinen 2006 uraufgeführten „Schwellfußeinlagen“ und zuletzt Bodo Wartke in seinem Solo-Theaterstück König Ödipus von 2010."

Ergänzende Bemerkungen zu einzelnen Autoren:
Seneca: Teiresias beschwört Laios
Corneille fügt eine Liebeshandlung mit Wettstreit in Opferbereitschaft hinzu
Voltaire fügt eine anders geartete Liebeshandlung ein
A. Gide baut - untypisch für ihn - Sozialkritik ein
 (Sieh Kindlers Literaturlexikon)

Bodo Wartke versucht eine "barrierefreie" Einführung in Sophokles' Werk in einer Einmannaufführung

22 Juni 2020

Fontane und Raabe

Ich habe einmal gelesen, Emilie Fontane habe Raabes Werke denen ihres Mannes vorgezogen.
Ich muss ihr Abbitte leisten.
Nicht weil ich von Fontane als meinem Lieblingsautor abgerückt wäre, sondern weil ich mehr darüber gelesen habe, wie oft Emilie die Romane ihres Mannes wieder abgeschrieben hat.
Ein Meisterwerk wie "Irrungen, Wirrungen" oder "Der Stechlin" in seinen Schönheiten zu genießen und in wiederholten Lektüren neue Schönheiten zu entdecken, ist doch etwas ganz anderes, als aus einem schwer leserlichen Manuskript eine saubere, fehlerfreie Abschrift herzustellen und dann dasselbe Manuskript mit einer Fülle kleiner Änderungen vorgelegt zu bekommen, weil der holde Ehegatte wieder einmal daran 'gepuzzelt' hat, weil er sich 'einbildet, ein Stilist zu sein'. So hat er selbst darüber gesprochen.
Und sie verstand etwas von Literatur und kannte die Klagen ihres Mannes über seine Leserschaft, die mit wenigen Ausnahmen den Unterschied zwischen den Fassungen gar nicht beurteilen konnte.
Was nutzte es ihr, dass die besten Werke ihres Mannes die gesellschaftliche Wirklichkeit ihrer Zeit hervorragend widerspiegelten und das auch noch ästhetisch befriedigend?
Raabe konnte auch gut schreiben, und man konnte sich an seinen stilistischen Finessen freuen. Dass seine Helden nicht schablonenhaft, sondern oft originell sind, erweckt Interesse. Freilich gemischte Charaktere wie Botho von Rienecker oder Herr von Gordon, liebenswert, aber nicht fähig, sich zu bescheiden, die finden sich bei Raabe nicht, wo Effekt wichtiger ist als feinfühlige Psychologie.
Vermutlich wusste Emilie sehr wohl, worin Fontane Raabe übertraf.  Aber wer liest schon zur Entspannung einen Text, den er bis in alle Einzelheiten kennt und der ihm so viele Mühe bereitet hat?
Anstoß zu diesen Formulierungen war mir Raabe: Das letzte Recht.

20 Juni 2020

Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen - Personen

Während Ahnung und Gegenwart während Eichendorffs von mancherlei Reisen unterbrochenen Studiums entstand, 1812 vollendet war und 1815 erschien, als Eichendorff als Landwehrleutnant Teil der preußischen Besatzungstruppen in Frankreich war, erschien Dichter und ihre Gesellen 1834, als er bereits 18 Jahre als Jurist im preußischen Staatsdienst arbeitete, zuletzt in Berlin für verschiedene Ministerien.

Fortunat - Hauptfigur, Dichter, in mancher Weise Eichendorffs vom Schicksal begünstigtere alter ego. Während Eichendorff aufgrund der Überschuldung seines Vaters den Verkauf der geliebten Stätten seiner Jugend verlor, kann sich Fortunat leisten, die Begegnung mit Natur und Kultur im Sehnsuchtsland der Deutschen (Winckelmann, Goethe, Karl Philipp Moritz, Seume, Gregorovius ...) zu suchen.
Walter - der Beamte, der heiraten will und eine gesicherte Stellung anstrebt - Er war Fortunats Freund, wird von diesem aufgefordert, mit nach Italien zu reisen, entscheidet sich aber für Heirat, Aktenstudium und gesicherte Stellung. - Insofern steht er für das, was Eichendorff nach dem Verlust der meisten der Güter der Familie geworden ist: Beamter, der für seinen Lebensunterhalt seine Berufung zum Dichter zurückstellen muss.
Freilich hat Eichendorff es verstanden, neben dem Beruf ein bedeutendes lyrisches Werk und eine Reihe wichtiger Prosawerke zu schaffen. Fortunat und Walter stehen insofern für zwei Seiten seines Lebens.
Lothario, Graf Victor von Hohenstein, Vitalis - ebenfalls ein alter ego Eichendorffs, freilich nicht so unbekümmert wie Fortunat, deutlicher unter seinen inneren Widersprüchen leidend.
Eine autobiographische Entsprechung findet der Graf in Otto von Loeben, der Eichendorff in seinen dichterischen Bestrebungen ermutigte, so wie Victor als der arrivierte Dichter dem noch unbekannten Dichter Fortunat als - nicht unkritisch gesehenes - Vorbild gegenüber steht.
Der ältere Eichendorff nannte Otto "in seiner späten autobiographischen Schrift „Halle und Heidelberg“ die „erstaunlichste Karikatur der Romantik“, um die „wahre“ Romantik von den negativen Assoziationen dieses Klischees zu befreien." (Deutsche Biographie)

Hier muss darauf eingegangen werden, dass Eichendorff  mit manchem auf Goethes Wilhelm Meister anspielt.
1. Fortunat entspricht Wilhelm, der auf Reisen geht und auf die Schauspieler trifft
2. Walter entspricht dem Kaufmann Werner, der Wilhelms Eskapaden wohlwollend kritisch von zu Hause aus begleitet.
3. Lothario/Graf/Vitalis entspricht in manchem dem Goetheschen Lothario, der im Mittelpunkt der Turmgesellschaft steht
4. Kordelchen, das sinnliche Frauenzimmer entspricht Philine (ihre kurzzeitige Verbindung mit Otto hat eine Parallele in der Schauspielerin Marianne, in die Wilhelm sich verliebt.)
5. Fürst und Fürstin, bei denen die Schauspielertruppe unterkommt, entsprechen Graf und Gräfin in Wilhelm Meister.
6. Otto, der sich den Schauspielern anschließt, aber als Dichter erfolglos bleibt, entspricht dem Wilhelm der ersten Phase, bevor er unter den Einfluss der Turmgesellschaft gerät. Andererseits dürfte sich hier auch schon die kritischere Sicht Eichendorffs auf seinen 9 Jahre zuvor verstorbenen Jugendfreund niederschlagen.
7. Grundling, der komische Vertreter der Aufklärung, der von Kordelchen gefoppt und in die Kleidung eines Jesuiten gesteckt wird, hat keine deutliche Entsprechung bei Goethe. Wohl aber erinnert der Name an den Historiker Gundling, den Mann, der am Hof der Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. trotz seiner Funktion als Präsident der Preußischen Akademie der Wissenschaften unfreiwillig die Rolle des Hofnarren zu spielen hatte. Die Rolle eines Narren, über den man sich lustig macht, hat im Kreise der Romantiker auch Grundling, den man, weil er für die Aufklärung eintritt nicht ernst nimmt. 

Freilich, so gut sich Bezüge herstellen lassen, so weit ist dieser verwirrend/verwirrte romantische Roman vom Bildungsroman Goethes entfernt.
So hat z.B. die spanische Gräfin Juana hat gewiss keine Ähnlichkeit mit Nathalie, sondern eher mit der Gräfin Rosa in Ahnung und Gegenwart.

mehr zum biographischen Hintergrund:
J. v. Eichendorff war nie in Italien. Seine Bildungsreise ins Ausland erfolgte nach Paris.
Zunächst studierte er mit seinem anderthalb Jahre älteren Bruder Wilhelm v. E. in Halle, dann in Heidelberg, wo beide in den Kreis der Heidelberger Romantiker gerieten. Sein Bruder Wilhelm ging im Unterschied zu Joseph in den österreichischen Staatsdienst und wurde, als er in Trient die Revolutionäre von 1848 nicht konsequent genug bekämpfte, strafversetzt nach Innsbruck. Auch er dichtete, doch sind von ihm nur wenige Gedichte im Internet zugänglich (Beispiele).

19 Juni 2020

Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen IV

Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen

[...] es war schlechterdings keine Ordnung und kein künstlerisches Motiv hineinzubringen.
Über dem dunkelen Berge aber trat plötzlich der Mond aus einer Wolke und beschien die stillen Wälder und Gründe; da war auf einmal alles in der rechten, wunderbaren Beleuchtung: das öde Haus, der altmodische, halbverfallene Garten, die wildverwachsenen Statüen und die abenteuerlichen Gestalten, die auf den Bassins der vertrockneten Wasserkünste umhersaßen, wie eine Soldatennacht im Dreißigjährigen Kriege. –
»Preziöschen!« rief Fortunat Kordelchen zu, »bellt von fern ein Hund
liegt ein Dorf im Grund,
schläft Bauer und Vieh,
gibt was zu schnappen hier!« –
Kordelchen antwortete munter:
»Heult der Wolf in der Heid',
ist mein Schatz nicht mehr weit;
stellt aus die Wacht,
gibt heut eine gute Zigeunernacht.« –
»Willewau, wau, wau, witohu!« riefen die andern jauchzend dazwischen.
 Kordelchen aber schwang plötzlich ein Tamburin, daß es schwirrte, tanzte mit ihren roten polnischen Stiefeln auf zigeunerisch und sang dazu:
Am Kreuzweg, da lausche ich, wenn die Stern
Und die Feuer im Walde verglommen,
Und wo der erste Hund bellt von fern,
Da wird mein Bräut'gam herkommen.
Fortunat antwortete lustig:
Und als der Tag graut' durch das Gehölz,
Sah ich eine Katze sich schlingen,
Ich schoß ihr auf den nußbraunen Pelz,
Die macht' einmal weite Sprünge!
Kordelchen sang wieder:
's ist schad nur ums Pelzlein, du kriegst mich nit!
Mein Schatz muß sein wie die andern:
Braun und ein Stutzbart auf ungrischen Schnitt
Und ein fröhliches Herze zum Wandern. [...]

»Aber«, fuhr er fort, »die Seele des Dichters ist wie eine Nachtigall, je tiefer man ihren Käfig verhängt, je schöner schlägt sie, [...]

Hörst du nicht die Bäume rauschen
 Draußen durch die stille Rund?
Lockt's dich nicht, hinabzulauschen
Von dem Söller in den Grund,
Wo die vielen Bäche gehen
Wunderbar im Mondenschein,
Und die stillen Schlösser sehen
In den Fluß vom hohen Stein?
»Das ist das Lied!« – rief Otto und eilte ganz verwirrt den Berg hinab. Unten aber sang es von neuem:
Kennst du noch die irren Lieder
Aus der alten, schönen Zeit?
Sie erwachen alle wieder
Nachts in Waldeseinsamkeit,
Wenn die Bäume träumend lauschen
Und der Flieder duftet schwül
Und im Fluß die Nixen rauschen
Komm herab, hier ist's so kühl.
[...]
Es war eine von den prächtigen Sommernächten jenes Landes, die alles wunderbar in Traum verwandeln. [...]
Erzählung von der spanischen Gräfin
In dieser Not erblickte der Rittmeister auf einmal die Gräfin hoch über sich wie den Todesengel zwischen den Flammen. Ihm vergingen die Sinne bei dem Anblick, er vergaß Heimat, Liebchen und Ruhm, er wollte nur sie retten oder sterben. [...]
Vergebens riefen ihm die Seinigen nach, er hörte nicht mehr und drang verblendet die brennende Treppe hinan, unter sich in der wilden Beleuchtung sah er den Garten, die Schlüfte und den Strom, der wie eine glühende Schlange an dem Schlosse vorüberschoß – schon lange er nach ihr, sie zu umschlingen und hinabzutragen, da stieß sie ihn mächtig von der Zinne hinab, daß die Flammen wie fliegende Fahnen den braven Soldaten bedeckten. Bald darauf stürzte der ganze Bau donnernd über Freund und Feind zusammen – man hat seitdem die Gräfin nicht wiedergesehen.« [...]
»Sie ist mitverbrannt«, hört ich einen von ihnen sagen. – »So war denn alles nur ein prächtiger Traum!« rief ein anderer schmerzlich aus; dann stürzten sie in den Wald, den Flüchtlingen nach. – »Später hörte ich, daß die schwarzen Gesellen von der englisch-deutschen Legion gewesen, welche das Schloß hatten entsetzen wollen.« »Und sahen Sie den Offizier nicht, der sie anführte?« fragte der Fürst wieder. »Ich erblickte ihn nur fern und flüchtig in der wilden Nacht«, erwiderte der Lord, »bei meinem Regiment aber nannten sie nachher einen deutschen Grafen: Victor von Hohenstein.« [...]
Da fuhr plötzlich der Lord auf: »Seht da, wahrhaftig, die wilde Gräfin!« – der Mond war auf einmal zwischen den Wolken hervorgetreten und beleuchtete flüchtig Juanna, die jenseits noch auf dem Balkon stand. – Der Fürst aber schloß schnell das Fenster.
»Still, still«, sagte er zu dem erstaunten Lord, der diesen Ausruf nur so gedankenlos hingeworfen, »verratet es niemand, daß Ihr sie kennt.«

Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen III

»überall vertreten einem solche lange Gesichter das Morgenlicht! Lassen sich da von irgendeinem kritischen Kleinmeister eine angeräucherte Brille aufheften, womit sie dann in alle Welt gehen, die Völker zu richten. So zieht das Geschmeiß, wie die Wanderraupen, durch den Glanz der Länder in stillem Wahnwitz fort, wenn es sonst Wahnsinn ist, die Dinge anders anzusehen, als sie wirklich sind!« – Zuletzt mußte er selbst laut auflachen über den wunderlichen Zorn, in den ihn das Larven-Kunstkabinett des Malers versetzt hatte. Die Morgensonne spielte golden durch die Wipfel der Bäume, und unzählige Vögel sangen. Er blickte fröhlich umher und fand, daß die Welt trotz aller Narren so schön und lustig blieb, wie sie war.
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Unter ihnen fiel der lange Schütz von gestern am meisten auf, ein reisender Lord, der überall wie ein Kamelhals mit seiner Lorgnette über die andern hervorragte.
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Dem Fürsten aber waren die Blicke der Gräfin Juanna – so nannte man die schöne Jägerin – nicht entgangen, er wurde auf einmal verstimmt, und entließ schnell die Schauspielergesellschaft. »Das ist ein lustiges Metier«, sagte er dabei noch mit besonderem Nachdruck zu Fortunaten, »sich so täglich in einen andern zu verwandeln, gestern ein Graf, heute ein Schauspieler und immer ein Poet.« – »Ganz interessant«, meinte die Fürstin, »die Exposition ist romantisch, die Motive lassen sich ahnen, ich bin nur auf den letzten Akt begierig.« – Fortunat war ganz verwirrt, noch mitten in dem Getümmel des Abschiednehmens konnte er bemerken, wie die Fürstin der unterdes hinzugetretenen Gräfin Juanna sehr lebhaft etwas zuflüsterte, das ihm zu gelten schien. »Also dieser?« – sagte die Gräfin, den schönen Mund spöttisch aufwerfend. – Und wie sie so fortgingen und die Terrasse hinter ihnen versank und nur noch Juanna an dem marmornen Geländer hoch über dem schönen, weiten Kreise der Wälder stand, da war es, als sei sie die Fürstin hier, der alle andern dienten.
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Fortunat eilte sogleich zu den Schauspielern hinüber. Aber eine tiefe Kluft lag dazwischen; er verlor sie im Walde bald aus dem Gesicht und wußte nicht, wo er war, als auf einmal der Wanderer, der gleichfalls den nächsten Weg gesucht und den rechten verfehlt hatte, sich mühsam neben ihm durch das Gestrüpp hervorarbeitete. »Fortunat!« rief er höchst überrascht und sichtbar verlegen aus, da er den alten Bekannten erblickte. »Mein Gott! Otto!« erwiderte jener, »wie kommen Sie hierher?« – »Ich« – sagte der Student ganz verwirrt – »ist denn das nicht der fürstliche Park, wo die Schauspielergesellschaft des Herrn Sorti« Fortunat aber hatte keine Zeit mehr zu antworten, denn um eine Waldecke sahen sie plötzlich einen ganzen Haufen Lumpengesindel von weitem auf sich zuwanken, das sie im ersten Augenblick für Zigeuner erkannten. Sie schienen untereinander in Händel geraten zu sein und kamen in vollem Zanke daher, einige von ihnen waren bemüht, von hinten einen widerspenstigen Esel vorzuschieben, auf dem eine seltsame, phantastisch geschmückte Weibergestalt saß, die voll Zorn nach den ungestümen Treibern zurückschimpfte. Wie eine Zigeunerkönigin hatte sie ihr langes, zottiges Haar mit einer Schnur von Gold und Edelsteinen oben in ein Krönchen zusammengefaßt, in den Ohren trug sie schwere Gehenke von geschmelzter Arbeit, ihre Schabracke war von Scharlach, das grüne Kleid mit silbernen Posamenten verbrämt, und ihr schneeweißes Hemd an den Nähten mit schwarzer Seide nach böhmischer Art ausgenäht, woraus sie hervorschien, wie eine Heidelbeere aus der Milch. – Jetzt erst erkannte Fortunat in dem Gesindel nach und nach die Gesichter der Schauspieler, ohne zu begreifen, wie sie zu dem Narrenstreiche kamen. Seitwärts bemerkte er nun auch Kamilla, welche die Rolle der Preziosa übernommen zu haben schien, wozu sie ihre große, noble Figur besonders geeignet glaubte. Sie schwärmte abgesondert von den andern, eine Gitarre im Arm, und sang: »Einsam bin ich nicht alleine.« Aber sie blieb doch allein, denn alles lief einer jungen, schönen Zigeunerin nach, die plötzlich wie ein wildes Reh aus dem Walde brach. Die pechschwarzen Haare hingen glänzend über Stirn und Wangen, ihr Gesicht war wie eine schöne Nacht. Sie blieb dicht vor Otto stehen und funkelte ihn neugierig mit den Augen von oben bis unten an. »Wußt' ich's doch«, sagte sie dann, »daß es so kommen wird.« – Es war Kordelchen. »Silentium!« hörte man nun auf einmal die abenteuerliche Gestalt durch das Getümmel rufen, die unterdes auf ihrem Esel herangekommen war. »Ei, mein schöner, weißer, junger Gesell«, redete sie Otton an, »was machst du hier? Wo kommst du so allein daher?« – Der Esel, der unterwegs ein Maul voll Gras genommen, sah die Gesellschaft, seine lange Ohren schüttelnd, ruhig an und hieb mit dem einen Hinterfuß nach den Komödianten, die ihn heimlich zwickten.

15 Juni 2020

Stanišić: Herkunft

Saša Stanišić: Herkunft (Wikipedia)

Stanišić stammt aus Višegrad  an der Drina.  Mit 14 Jahren kam er 1992 nach Deutschland, seine Eltern konnten nicht in ihrem Beruf arbeiten, ließen ihn aber nicht spüren, wie große Probleme sie hatten. So konnte er sich entfalten dank eines Deutschlehrers, der ihm half, seine serbokroatischen Gedichte ins Deutsche zu übersetzen und dann auf Deutsch zu schreiben. Mehrere Vertreter der Flüchtlingsbehörden nutzen ihren Ermessensspielraum, um ihm eine Karriere als deutscher Schriftsteller zu ermöglichen.
Sein Bericht spielt mit den Elementen Erinnerung, Fiktion, Herkunft und Entfaltung in Deutschland.
Auffallend: wie bei "Wir neuen Deutschen" die Selbstlosigkeit der Eltern, ihre Erwartung besonderen Einsatzes und Personen auf dem Lebensweg, die sich besonders um ihn gekümmert haben.


09 Juni 2020

Über die Liebe


363 Wie jedes Geschlecht über die Liebe sein Vorurteil hat. – 
Bei allem Zugeständnisse, welches ich dem monogamischen Vorurteile zu machen willens bin, werde ich doch niemals zulassen, daß man bei Mann und Weib von gleichen Rechten in der Liebe rede: diese gibt es nicht. Das macht, Mann und Weib verstehen unter Liebe jeder etwas anderes – und es gehört mit unter die Bedingungen der Liebe bei beiden Geschlechtern, daß das eine Geschlecht beim andren Geschlecht nicht das gleiche Gefühl, den gleichen Begriff »Liebe« voraussetzt. Was das Weib unter Liebe versteht, ist klar genug: vollkommne Hingabe (nicht nur Hingebung) mit Seele und Leib, ohne jede Rücksicht, jeden Vorbehalt, mit Scham und Schrecken vielmehr vor dem Gedanken einer verklausulierten, an Bedingungen geknüpften Hingabe. In dieser Abwesenheit von Bedingungen ist eben seine Liebe ein Glaube: das Weib hat keinen anderen. – Der Mann, wenn er ein Weib liebt, will von ihm eben diese Liebe, ist folglich für seine Person selbst am entferntesten von der Voraussetzung der weiblichen Liebe; gesetzt aber, daß es auch Männer geben sollte, denen ihrerseits das Verlangen nach vollkommner Hingebung nicht fremd ist, nun, so sind das eben – keine Männer. Ein Mann, der liebt wie ein Weib, wird damit Sklave; ein Weib aber, das liebt wie ein Weib, wird damit ein vollkommneres Weib... Die Leidenschaft des Weibes, in ihrem unbedingten Verzichtleisten auf eigne Rechte, hat gerade zur Voraussetzung, daß auf der andren Seite nicht ein gleiches Pathos, ein gleiches Verzichtleisten-Wollen besteht: denn wenn beide aus Liebe auf sich selbst verzichteten, so entstünde daraus – nun, ich weiß nicht was, vielleicht ein leerer Raum? – Das Weib will genommen, angenommen werden als Besitz, will aufgehn in den Begriff »Besitz«, »besessen«; folglich will es einen, der nimmt, der sich nicht selbst gibt und weggibt, der umgekehrt vielmehr gerade reicher an »sich« gemacht werden soll – durch den Zuwachs an Kraft, Glück, Glaube, als welchen ihm das Weib sich selbst gibt. Das Weib gibt sich weg, der Mann nimmt hinzu – ich denke, über diesen Natur-Gegensatz wird man durch keine sozialen Verträge, auch nicht durch den allerbesten Willen zur Gerechtigkeit hinwegkommen: so wünschenswert es sein mag, daß man das Harte, Schreckliche, Rätselhafte, Unmoralische dieses Antagonismus sich nicht beständig vor Augen stellt. Denn die Liebe, ganz, groß, voll gedacht, ist Natur und als Natur in alle Ewigkeit etwas »Unmoralisches«. – Die Treue ist demgemäß in die Liebe des Weibes eingeschlossen, sie folgt aus deren Definition; bei dem Manne kann sie leicht im Gefolge seiner Liebe entstehn, etwa als Dankbarkeit oder als Idiosynkrasie des Geschmacks und sogenannte Wahlverwandschaft, aber sie gehört nicht ins Wesen seiner Liebe – und zwar so wenig, daß man beinahe mit einigem Rechte von einem natürlichen Widerspiel zwischen Liebe und Treue beim Manne reden dürfte: welche Liebe eben ein Haben-Wollen ist und nicht ein Verzichtleisten und Weggeben;das Haben-Wollen geht aber jedesmal mit dem Haben zu Ende... Tatsächlich ist es der feinere und argwöhnischere Besitzdurst des Mannes, der dies »Haben« sich selten und spät eingesteht, was seine Liebe fortbestehn macht; insofern ist es selbst möglich, daß sie noch nach der Hingebung wächst – er gibt nicht leicht zu, daß ein Weib für ihn nichts mehr »hinzugeben« hätte."
(Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft, 5. Buch Nr.363)

Vom heutigen Standpunkt aus gesehen würde man sagen: Männerphantasie.
Eine - durchaus auf Emanzipation bedachte Frau hat - ebenfalls im 19. Jahrhundert - Folgendes geschrieben:


"Ein Frauenherz, in dem einmal der Strahl wahrer Liebe gezündet, erkennt seinen Besieger in dem Manne, fühlt sich ihm untertan, als Sklavin seines Willens, und möchte doch aus angeborenem Schamgefühl nicht dem Auge jedes Ungeweihten die Fessel zeigen, durch die es gebunden wird, die oft blutig drückt und selbst zerbrochen unvertilgbare Narben zurücklässt. Geliebt werden ist das Ziel der Frauen. Ihr Ehrgeiz ist Liebe erwerben; ihr Glück lieben, und die Liebe, nach der sie gestrebt, nicht erlangen können, unglücklich lieben, eine Kränkung, welche nur die edelsten Frauennaturen ohne Schädigung zu tragen vermögen. So beruht die ganze Entwicklung der weiblichen Seele auf dem Verhältnis zum Manne; und man darf das Weib nicht der Falschheit anklagen, wenn es den geheimnisvollen Prozess seines geistigen Werdens schamhaft der Welt verbergen möchte. (S.201)
Es schien ihr leichter, Unrecht zu haben, sich selbst eines Fehlers zu bezichtigen, als Reinhard eine Schuld beizumessen: denn wahre Frauenliebe klagt lieber sich als den Geliebten an." (Fanny Lewald: Jenny, S.302)

Nietzsche: Aphorismen

Morgenröte:
297 Verderblich. – Man verdirbt einen Jüngling am sichersten, wenn man ihn anleitet, den Gleichdenkenden höher zu achten als den Andersdenkenden.

552 Die idealische Selbstsucht. – Gibt es einen weihevolleren Zustand als den der Schwangerschaft? Alles, was man tut, in dem stillen Glauben tun, es müsse irgendwie dem Werdenden in uns zugute kommen! Es müsse seinen geheimnisvollen Wert, an den wir mit Entzücken denken, erhöhen! Da geht man vielem aus dem Wege, ohne hart sich zwingen zu müssen! Da unterdrückt man ein heftiges Wort, man gibt versöhnlich die Hand: aus dem Mildesten und Besten soll das Kind hervorwachsen. Es schaudert uns vor unsrer Schärfe und Plötzlichkeit: wie wenn sie dem geliebtesten Unbekannten einen Tropfen Unheil in den Becher seines Lebens gösse! Alles ist verschleiert, ahnungsvoll, man weiß von nichts, wie es zugeht, man wartet ab und sucht bereit zu sein. Dabei waltet ein reines und reinigendes Gefühl tiefer Unverantwortlichkeit in uns, fast wie es ein Zuschauer vor dem geschlossenen Vorhange hat – es wächst, es tritt an den Tag: wir haben nichts in der Hand, zu bestimmen, weder seinen Wert noch seine Stunde. Einzig auf jeden mittelbaren segnenden und wehrenden Einfluß sind wir angewiesen. »Es ist etwas Größeres, das hier wächst, als wir sind« ist unsere geheimste Hoffnung: ihm legen wir alles zurecht, daß es gedeihlich zur Welt komme: nicht nur alles Nützliche, sondern auch die Herzlichkeiten und Kränze unserer Seele. – In dieser Weihe soll man leben! Kann man leben! Und sei das Erwartete ein Gedanke, eine Tat – wir haben zu allem wesentlichen Vollbringen kein anderes Verhältnis als das der Schwangerschaft und sollten das anmaßliche Reden von »Wollen« und »Schaffen« in den Wind blasen! Dies ist die rechte idealische Selbstsucht: immer zu sorgen und zu wachen und die Seele still zu halten, daß unsere Fruchtbarkeit schön zu Ende gehe! So, in dieser mittelbaren Art, sorgen und wachen wir für den Nutzen aller; und die Stimmung, in der wir leben, diese stolze und milde Stimmung, ist ein Öl, welches sich weit um uns her auch auf die unruhigen Seelen ausbreitet. – Aber wunderlich sind die Schwangeren! Seien wir also auch wunderlich und verargen wir es den anderen nicht, wenn sie es sein müssen! Und selbst, wo dies ins Schlimme und Gefährliche sich verläuft: bleiben wir in der Ehrfurcht vor dem Werdenden nicht hinter der weltlichen Gerechtigkeit zurück, welche dem Richter und dem Henker nicht erlaubt, eine Schwangere zu berühren!


Im Süden
So häng ich denn auf krummem Aste
Und schaukle meine Müdigkeit.
Ein Vogel lud mich her zu Gaste,
Ein Vogelnest ists, drin ich raste.
Wo bin ich doch? Ach, weit! Ach, weit!


Das weiße Meer liegt eingeschlafen,
Und purpurn steht ein Segel drauf.
Fels, Feigenbäume, Turm und Hafen,
Idylle rings, Geblök von Schafen, –
Unschuld des Südens, nimm mich auf!


Nur Schritt für Schritt – das ist kein Leben,
Stets Bein vor Bein macht deutsch und schwer.
Ich hieß den Wind mich aufwärts heben,
Ich lernte mit den Vögeln schweben, –
Nach Süden flog ich übers Meer.


Vernunft! Verdrießliches Geschäfte!
Das bringt uns allzubald ans Ziel!
Im Fliegen lernt ich, was mich äffte, –
Schon fühl ich Mut und Blut und Säfte
Zu neuem Leben, neuem Spiel...


Einsam zu denken nenn ich weise,
Doch einsam singen – wäre dumm!
So hört ein Lied zu eurem Preise
Und setzt euch still um mich im Kreise,
Ihr schlimmen Vögelchen, herum!

So jung, so falsch, so umgetrieben
Scheint ganz ihr mir gemacht zum Lieben
Und jedem schönen Zeitvertreib?
Im Norden – ich gestehs mit Zaudern –
Liebt ich ein Weibchen, alt zum Schaudern:
»Die Wahrheit« hieß dies alte Weib...

Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft,  Lieder des Prinzen Vogelfrei, Im Süden


Andere Version

Prinz Vogelfrei

So hang ich denn auf krummem Aste
Hoch über Meer und Hügelchen:
Ein Vogel lud mich her zu Gaste
Ich flog ihm nach und rast’ und raste
Und schlage mit den Flügelchen.
Das weisse Meer ist eingeschlafen,
Es schläft mir jedes Weh und Ach.
Vergessen hab’ ich Ziel und Hafen,
Vergessen Furcht und Lob und Strafen:
Jetzt flieg ich jedem Vogel nach.
Nur Schritt für Schritt - das ist kein Leben!
Stäts Bein vor Bein macht müd und schwer!
Ich lass mich von den Winden heben,
Ich liebe es, mit Flügeln schweben
Und hinter jedem Vogel her.
Vernunft? - das ist ein bös Geschäfte:
Vernunft und Zunge stolpern viel!
Das Fliegen gab mir neue Kräfte
Und lehrt’ mich schönere Geschäfte,
Gesang und Scherz und Liederspiel.
Einsam zu denken - das ist weise.
Einsam zu singen - das ist dumm!
So horcht mir denn auf meine Weise
Und setzt euch still um mich im Kreise,
Ihr schönen Vögelchen, herum!

Friedrich Nietzsche: Prinz Vogelfrei