Der Bericht Gustav von Risachs
„ Ich
bin im Dorfe Dallkreuz in dem sogenannten Hinterwalde geboren worden.
[…]
Als
ich ein Knabe von zehn Jahren war, kannte ich alle Bäume und
Gesträuche der Gegend und konnte sie nennen, ich kannte die
vorzüglichsten Pflanzen und Gesteine, ich kannte alle Wege, wußte,
wohin sie führten, und war in allen benachbarten Orten schon
gewesen, die sie berühren. Ich kannte alle Hunde von Dallkreuz,
wußte, welche Farben sie hatten, wie sie hießen, und wem sie
gehörten. Ich liebte die Wiesen, die Felder, die Gesträuche, unser
Haus außerordentlich, und unsere Kirchenglocken deuchten mir das
Lieblichste und Anmutigste, was es nur auf Erden geben kann.
[…]
Unser
Lehrer […] lehrte fragend.
[…]
Zur
Zeit des Todes des Vaters war ich zu jung gewesen, um ihn recht
empfinden zu können. Obwohl der erste Schmerz unsäglich heiß
gewesen war und ich geglaubt hatte, ihn nicht überleben zu können,
so verminderte er sich wider meinen Willen von Tag zu Tag immer mehr,
bis er zu einem Schatten wurde und ich mir nach Verlauf von einigen
Jahren keine Vorstellung mehr von dem Vater machen konnte. Jetzt war
es anders. Ich hatte mich daran gewöhnt, die Mutter als das Bild der
größten häuslichen Reinheit zu betrachten, als das Bild des
Duldens, der Sanftmut, des Ordnens und des Bestehens. So war sie ein
Mittelpunkt für unser Denken geworden,
[…] Ich
ließ mir nach einer Zeit das frische Grab der Mutter zeigen, weinte
dort meine Seele aus, und betete für sie zu dem Herrn
des[736] Himmels.
[…]
In der Zeit, als Risach sich von der Gesellschaft zurückgezogen
hatte und sich ganz seinen Studien widmete, wurde er gefragt, ob er
der Erzieher des siebenjährigen Jungen einer wohlhabenden Familie
werden wolle.
In
der Verödung, in der ich mich befand, hatte die Aussicht auf ein
Familienleben eine Art Anziehung für mich, und ich nahm den Antrag
unter der Bedingung an, daß ich die Freiheit haben müsse, in jedem
Augenblicke das Verhältnis wieder auflösen zu können. Die
Bedingung wurde zugestanden, ich packte meine Sachen, und nach drei
Tagen fuhr ich in der Richtung nach dem Landsitze der Familie ab.
Dieser Sitz war ein angenehmes Haus in der Nähe großer Meiereien,
die einem Grafen gehörten. Das Haus war beinahe zwei Tagereisen von
der Stadt entfernt. Es war sehr geräumig, hatte eine sonnige Lage,
liebliche Rasenplätze um sich, und hing mit einem großen Garten
zusammen, in dem teils Gemüse, teils Obst, teils Blumen gezogen
wurden. Der Besitzer des Hauses war ein Mann, der von reichlichen
Renten lebte, sonst aber kein Amt noch irgend eine andere
Beschäftigung zum Gelderwerb hatte.
[…]
Die
Frau stand auf und ging mir entgegen. Sie war sehr schön, noch
ziemlich jung, und was mir am meisten auffiel, war, daß sie sehr
schöne braune Haare, aber tief dunkle, große schwarze Augen hatte.
Ich erschrak ein wenig, wußte aber nicht warum. Mit einer
Freundlichkeit, die mein Zutrauen gewann, hieß sie mich einen Platz
nehmen, und als ich dies getan hatte, nannte sie meinen Vor- und
Familiennamen, hieß mich beinahe herzlich willkommen, und sagte, daß
sie sich schon sehr gesehnt habe, mich unter ihrem Dache zu sehen.
›Alfred‹,
rief sie, ›komm und küsse diesem Herrn die Hand.‹
Der
Knabe, welcher bisher neben ihr gespielt hatte, stand auf, trat vor
mich, küßte mir die Hand und sagte: ›Sei willkommen!‹ […]“
Die
Frau berichtet:
„Meine
Freundin Adele, die Gattin des Kaufherrn, dessen Warengewölbe dem
großen Tore des Erzdomes gegenüber ist, hat mir von Euch erzählt.
Wenn Ihr es für gut findet, den Knaben auch in irgend etwas zu
unterrichten, so ist es Eurem Ermessen überlassen, wie und wie weit
Ihr es tut.‹
Ich
konnte auf diese Worte nichts antworten; ich war sehr errötet. […]
Der
Knabe hatte während der ganzen Zeit meine Hand gehalten, war neben
mir stehen geblieben, und hatte öfter zu meinem Angesichte
heraufgeschaut. […]
Obwohl
Risach nur für die Erziehung des Sohnes Alfred zuständig ist, wird
er mit der Zeit auch aufmerksamer für Mathilde:
Als
kaum die ersten Frühlingslüfte kamen, gingen wir wieder nach
Heinbach. Mathilde, Alfred und ich saßen[755] in
einem Wagen, der Vater und die Mutter in einem anderen. Alfred wollte
nicht von mir getrennt sein, er wollte neben mir sitzen. Man mußte
es daher so einrichten, daß Mathilde uns gegenüber saß. Sie war,
als ich das Haus betreten hatte, noch nicht völlig vierzehn Jahre
alt. Jetzt ging sie gegen fünfzehn. […]
Alfred
hielt mich größtenteils an der Hand, oder suchte sich überhaupt
irgendwie an mich anzuhängen, sei es selbst mit einem Hakenstäbchen,
das er sich von irgend einem Busche geschnitten hatte. Mathilde
wandelte neben uns. Ich hatte nur den Auftrag, zu sorgen, daß sie
keine heftigen Bewegungen mache, welche an sich für ein Mädchen
nicht anständig sind und ihrer Gesundheit schaden könnten, und daß
sie nicht in sumpfige oder unreine Gegenden komme und sich
ihre[756] Schuhe
oder ihre Kleider beschmutze; denn man hielt sie sehr rein. […]
Wenn
nach einem klaren Morgen, an dem wir noch die Erde und die Dächer
weiß gesehen hatten, ein heiterer Tag kam und die Wege trocken
waren, ging Mathilde mit uns, und wir führten sie auf Anhöhen oder
Felder, wo wir kurz vorher die schönsten[758] Triller
der Lerchen gehört hatten. Diese Sänger waren die einzigen, die mit
uns schon die Gegend bevölkerten. […]
Mathilde
wurde immer herrlicher, sie war zuletzt feiner als die Rosen an dem
Gartenhause, zu denen wir sehr gerne gingen. Ich liebte beide Kinder
unsäglich. […] Mathilde nahm ich nicht nur sehr gerne, sondern
viel lieber als früher zu unsern Spaziergängen mit. Ich sprach mit
ihr, ich erzählte ihr, ich zeigte ihr Gegenstände, die an unserm
Wege waren, hörte ihre Fragen, ihre Erzählungen, und beantwortete
sie. Bei rauhen Wegen oder wo Nässe zu befürchten war, zeigte ich
ihr die besseren Stellen oder die Richtungen, auf denen man trockenen
Fußes gehen konnte. […]
Wenn
fremde Kinder zugegen waren, wenn Spiele veranstaltet waren, und alle
auf dem heiteren Rasen hüpften und sprangen, stand Mathilde
seitwärts und sah teilnahmlos zu.
[…]
Sie
fragte mich, ob ich denn nicht gerne in die Stadt gehe.
Ich
sagte, daß ich nicht gerne gehe, daß es hier gar so schön sei, und
daß es mir vorkomme, in der Stadt werde alles anders werden.
›Es
ist wirklich sehr schön‹, antwortete sie, ›hier sind wir alle
viel mehr beisammen, in der Stadt kommen Fremde dazwischen, man wird
getrennt, und es ist, als wäre man in eine andere Ortschaft gereist.
Es ist doch das größte Glück, jemanden recht zu lieben.‹
›Ich
habe keinen Vater, keine Mutter und keine Geschwister mehr‹,
erwiderte ich, ›und ich weiß daher nicht, wie es ist.‹
[762] ›Man
liebt den Vater, die Mutter, die Geschwister‹, sagte sie, ›und
andere Leute.‹
›Mathilde,
liebst du denn auch mich?‹ erwiderte ich.
Ich
hatte sie nie du genannt, ich wußte auch nicht, wie mir die Worte in
den Mund kamen, es war, als wären sie mir durch eine fremde Macht
hineingelegt worden. Kaum hatte ich sie gesagt, so rief sie: ›Gustav,
Gustav‹, so außerordentlich, wie es gar nicht auszusprechen ist.
Mir
brachen die heftigsten Tränen hervor.
Da
flog sie auf mich zu, drückte die sanften Lippen auf meinen Mund und
schlang die jungen Arme um meinen Nacken. Ich umfaßte sie auch und
drückte die schlanke Gestalt so heftig an mich, daß ich meinte, sie
nicht loslassen zu können. Sie zitterte in meinen Armen und seufzte.
Von
jetzt an war mir in der ganzen Welt nichts teurer als dieses süße
Kind.
Als
wir uns losgelassen hatten, als sie vor mir stand, erglühend in
unsäglicher Scham, gestreift von den Lichtern und Schatten des
Weinlaubes, und als sich, da sie den süßen Atem zog, ihr Busen hob
und senkte: war ich wie bezaubert, kein Kind stand mehr vor mir,
sondern eine vollendete Jungfrau, der ich Ehrfurcht schuldig war. Ich
fühlte mich beklommen.
Nach
einer Weile sagte ich: ›Teure, teure Mathilde.‹
›Mein
teurer, teurer Gustav‹, antwortete sie.
Ich
reichte ihr die Hand und sagte: ›Auf immer, Mathilde.‹
›Auf
ewig‹, antwortete sie, indem sie meine Hand faßte. […]
Ich
hatte früher nie irgend ein Mädchen bei der Hand gefaßt als meine
Schwester, ich hatte nie mit einem ein liebes Wort geredet oder einen
freundlichen Blick gewechselt. Dieses Gefühl war jetzt wie ein Sturm
wind über mich gekommen.
[…]
Ich
ging wieder zu unserem Wohnhause zurück, und ging auf den Platz, von
dem ich Mathildens Fenster sehen mußte. Sie beugte sich aus einem
heraus und suchte mit den Augen. Als sie mich erblickt hatte, fuhr
sie zurück. Auch mir war es gewesen da ich die holde Gestalt sah,
als hatte mich ein Wetterstrahl getroffen. Ich ging wieder in die
Büsche. Es waren Flieder in jener Gegend, die eine Strecke Rasen
säumten und in ihrer Mitte eine Bank hatten, um im Schatten ruhen zu
können. Zu dieser Bank ging ich immer wieder zurück.
[…]
Es
war zauberhaft, ein süßes Geheimnis[765] mit
einander zu haben, sich seiner bewußt zu sein und es als Glut im
Herzen zu hegen. […]
Sie
stand wie eine feurige Flamme da, und mein ganzes Wesen zitterte. Im
vorigen Sommer hatte ich ihr oft die Hand gereicht, um ihr über eine
schwierige Stelle zu helfen, um sie auf einem schwanken Stege zu
stützen, oder sie auf schmalem Pfade zu geleiten. Jetzt fürchteten
wir, uns die Hände zu geben, und die Berührung war von der größten
Wirkung.
[…]
Dann
setzte sie sich zu dem Klaviere und rief einzelne Töne aus den
Saiten.
[…]
Es
begann nun eine merkwürdige Zeit. In meinem und Mathildens Leben war
ein Wendepunkt eingetreten. Wir hatten uns nicht verabredet, daß wir
unsere Gefühle geheim halten wollen; dennoch hielten wir sie geheim,
wir hielten sie geheim vor dem Vater, vor der Mutter, vor Alfred und
vor allen Menschen. Nur in Zeichen, die sich von selber gaben, und in
Worten, die nur uns verständlich waren, und die wie von selber auf
die Lippen kamen, machten wir sie uns gegenseitig kund.
[…]
Wenn
wir durch den Garten gingen, wenn Alfred um einen Busch bog, wenn er
in dem Gange des Weinlaubes vor uns lief, wenn er früher aus dem
Haselgebüsche war als wir, wenn er uns in dem Innern des
Gartenhauses allein ließ, konnten wir uns mit den Fingern berühren,
konnten uns die Hand reichen, oder konnten gar Herz an Herz fliegen,
uns einen Augenblick halten, die heißen Lippen an einander drücken
und die Worte stammeln: ›Mathilde, dein auf immer und auf ewig, nur
dein allein, und nur dein, nur dein allein!‹
›O
ewig dein, ewig, ewig, Gustav, dein, nur dein, und nur dein allein.‹
Diese
Augenblicke waren die allerglückseligsten. […]
Dennoch
war allgemach etwas da, das wie ein Übel in mein Glück bohrte. Es
nagte der Gedanke an mir, daß wir die Eltern Mathildens täuschen.
Sie ahnten nicht, was bestand, und wir sagten es ihnen nicht. Immer
drückender wurde mir das Gefühl, und immer ängstender lastete es
auf meiner Seele. Es war wie das Unheil der Alten, welches immer
größer wird, wenn man es berührt.
Eines
Tages, da eben die Rosenblüte war, sagte ich zu Mathilden, ich wolle
zur Mutter gehen, ihr alles entdecken und sie um ihr gütiges Vorwort
bei dem Vater bitten. Mathilde antwortete, das werde gut sein, sie
wünsche es, und unser Glück müsse dadurch sich erst recht klären
und befestigen.
Ich
ging nun zur Mutter Mathildens, und sagte ihr alles mit schlichten
Worten, aber mit zagender Stimme. […]
Die
Mutter spricht mit Risach und erklärt ihm ausführlich, Mathilde sei
noch zu jung für eine Bindung und er müsse auch erst eine
Lebensstellung erarbeiten.
Er
anwortet:
„Wir
haben uns nicht vorzustellen vermocht, daß das, was für uns ein so
hohes Glück war, für die Eltern ein Unheil sein wird. Ihr habt es
mir mit Eurer tiefsten Überzeugung gesagt. Selbst wenn Ihr irrtet,
selbst wenn unsere Bitten Euch zu erweichen vermöchten, so würde
Euer freudiger Wille, Euer Herz und Euer Segen mit dem Bunde nicht
sein, und ein Bund ohne der Freude der Eltern, ein Bund mit der
Trauer von Vater und Mutter müßte auch ein Bund der Trauer sein, er
wäre ein ewiger Stachel, und Euer ernstes oder bekümmertes Antlitz
würde ein unvertilgbarer Vorwurf sein. Darum ist der Bund, und wäre
er der berechtigteste, aus, er ist aus auf so lange, als die Eltern
ihm nicht beistimmen können. Eure ungehorsame Tochter würde ich
nicht so unaussprechlich lieben können, wie ich sie jetzt liebe,
Eure gehorsame werde ich ehren und mit tiefster Seele, wie fern ich
auch sein mag, lieben, so lange ich lebe. Wir werden daher das Band
losen, wie schmerzhaft die Lösung auch sein mag. – O Mutter,
Mutter! – laßt Euch diesen Namen zum ersten und vielleicht auch
zum letzten Male geben – der Schmerz ist so groß, daß ihn keine
Zunge aussprechen kann? und daß ich mir seine Größe nie
vorzustellen vermocht habe. […]
Ich
werde morgen Mathilden sagen, […] daß sie ihrem Vater und ihrer
Mutter gehorchen müsse. […]
Am nächsten Tag geht Risach zu
Mathilde:
„Ich
ging auf die Gründe, welche die Mutter angegeben hatte, nicht ein,
und legte Mathilden nur dar, daß sie zu gehorchen habe, und daß
unter Ungehorsam unser Bund nicht bestehen könne.
Als
ich geendet hatte, war sie im höchsten Maße erstaunt.
›Ich
bitte dich, wiederhole mir nur in kurzem, was du gesprochen hast, und
was wir tun sollen‹, sagte sie.
›Du
mußt den Willen deiner Eltern tun und das Band mit mir lösen‹,
antwortete ich.
›Und
das schlägst du vor, und das hast du der Mutter versprochen, bei mir
auszuwirken?‹, fragte sie.
›Mathilde,
nicht auszuwirken‹, antwortete ich, ›wir müssen gehorchen; denn
der Wille der Eltern ist das Gesetz der Kinder.‹
›Ich
muß gehorchen‹, rief sie, indem sie von der Bank aufsprang, ›und
ich werde auch gehorchen; aber du mußt nicht gehorchen, deine Eltern
sind sie nicht. Du mußtest nicht hieher kommen und den Auftrag
übernehmen, mit mir das Band der Liebe, das wir geschlossen hatten,
aufzulösen.[782] Du
mußtest sagen: ›Frau, Eure Tochter wird Euch gehorsam sein, sagt
Ihr nur Euren Willen; aber ich bin nicht verbunden, Eure Vorschriften
zu befolgen, ich werde Euer Kind lieben, so lange ein Blutstropfen in
mir ist, ich werde mit aller Kraft streben, einst in ihren Besitz zu
gelangen. Und da sie Euch gehorsam ist, so wird sie mit mir nicht
mehr sprechen, sie wird mich nicht mehr ansehen, ich werde weit von
hier fortgehen; aber lieben werde ich sie doch, so lange dieses Leben
währt und das künftige, ich werde nie einer andern ein Teilchen von
Neigung schenken, und werde nie von ihr lassen.‹ ›So hättest du
sprechen sollen, und wenn du von unserm Schlosse fortgegangen wärest,
so hätte ich gewußt, daß du so gesprochen hast, und tausend
Millionen Ketten hätten mich nicht von dir gerissen, und jubelnd
hätte ich einst in Erfüllung gebracht, was dir dieses stürmische
Herz gegeben. Du hast den Bund aufgelöste, ehe du mit mir hieher
gegangen bist, ehe du mich zu dieser Bank geführt hast, die ich dir
gutwillig folgte, weil ich nicht wußte, was du getan hast. Wenn
jetzt auch der Vater und die Mutter kämen und sagten: ›Nehmet
euch, besitzet euch in Ewigkeit‹, so wäre doch alles aus. Du hast
die Treue gebrochen, die ich fester gewähnt habe als die Säulen der
Welt und die Sterne an dem Baue des Himmels.‹
›Mathilde‹,
sagte ich, ›was ich jetzt tue, ist unendlich schwerer, als was du
verlangtest.‹
›Schwer
oder nicht schwer, von dem ist hier nicht die Rede‹, antwortete
sie, ›von dem, was sein muß, ist die Rede, von dem, dessen
Gegenteil ich für unmöglich hielt. Gustav, Gustav, Gustav, wie
konntest du das tun?‹
Sie
ging einige Schritte von mir weg, kniete, gegen die Rosen, die an dem
Gartenhause blühten, gewendet, in das Gras nieder, schlug die beiden
Hände zusammen und rief unter strömenden Tränen: ›Hört es, ihr
tausend Blumen,[783] die
herabschauten, als er diese Lippen küßte, höre es du, Weinlaub,
das den flüsternden Schwur der ewigen Treue vernommen hat, ich habe
ihn geliebt, wie es mit keiner Zunge, in keiner Sprache ausgesprochen
werden kann. Dieses Herz ist jung an Jahren, aber es ist reich an
Großmut; alles, was in ihm lebte, habe ich dem Geliebten hingegeben,
es war kein Gedanke in mir als er, das ganze künftige Leben, das
noch viele Jahre umfassen konnte, hätte ich wie einen Hauch für ihn
hingeopfert, jeden Tropfen Blut hätte ich langsam aus den Adern
fließen und jede Faser aus dem Leibe ziehen lassen – und ich hätte
gejauchzt dazu. Ich habe gemeint, daß er das weiß, weil ich gemeint
habe, daß er es auch tun würde. Und nun führt er mich heraus, um
mir zu sagen, was er sagte. Wären was immer für Schmerzen von außen
gekommen, was immer für Kämpfe, Anstrengungen und Erduldungen; ich
hätte sie ertragen, aber nun er – er –! Er macht es unmöglich
für alle Zeiten, daß ich ihm noch angehören kann, weil er den
Zauber zerstört hat, der alles band, den Zauber, der ein
unzerreißbares Aneinanderhalten in die Jahre der Zukunft und in die
Ewigkeit malte.‹
Ich
ging zu ihr hinzu, um sie empor zu heben. Ich ergriff ihre Hand. Ihre
Hand war wie Glut. Sie stand auf, entzog mir die Hand, und ging gegen
das Gartenhaus, an dem die Rosen blühten.“
Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Dritter Band, Der Rückblick (S.732 - 782)
Wenn man bedenkt, mit wie gesetzten Worten das junge Liebespaar dieses Romans, Heinrich und Nathalie, nach dem Geständnis ihrer gegenseitigen Liebe miteinander umgehen, muss dieser Bericht über das - gescheiterte - Liebesverhältnis der vorhergehenden Generation überraschen.
Natalie und Heinrich sagten nach ihrer Liebeserklärung:
»Und nun hat sich alles recht gelöset.« »Es hat sich wohl gelöset, meine liebe, liebe Natalie.« »Mein teurer Freund!« Wir reichten uns bei diesen Worten die Hände wieder und saßen schweigend da.
Am nächsten Morgen nach der Liebeserklärung kommen Nathalie und Heinrich dazu, unbeachtet von den anderen ihre Gefühle auszutauschen. Da sagen sie Folgendes:
»Es ist recht schön«, sprach sie, »daß wir gleichzeitig einen Weg gehen, den ich heute schon einmal gehen wollte, und den ich jetzt wirklich gehe.«
»Wie habt ihr denn die Nacht zugebracht, Natalie?« fragte ich. »Ich habe sehr lange den Schlummer nicht gefunden«, antwortete sie, »dann kam er doch in sehr leichter, flüchtiger Gestalt. Ich erwachte bald und stand auf. Am Morgen wollte ich auf diesen Weg heraus gehen und ihn bis über die Felderanhöhe fortsetzen; aber ich hatte ein Kleid angezogen, welches zu einem Gange außer dem Hause nicht tauglich war. Ich mußte mich daher später umkleiden und ging jetzt heraus, um die Morgenluft zu genießen.« [...]
Wir gingen langsam auf dem feinen Sandwege dahin, an einem Baumstamme nach dem andern vorüber, und die Schatten, welche die Bäume auf den Weg warfen, und die Lichter, welche die Sonne dazwischen legte, wichen hinter uns zurück. Anfangs sprachen wir gar nicht, dann aber sagte Natalie: »Und habt ihr die Nacht in Ruhe und Wohlsein zugebracht?« »Ich habe sehr wenig Schlaf gefunden; aber ich habe es nicht unangenehm empfunden«, entgegnete ich, »die Fenster meiner Wohnung, welche mir eure Mutter so freundlich hatte einrichten lassen, gehen in das Freie, ein großer Teil des Sternenhimmels sah zu mir herein. Ich habe sehr lange die Sterne betrachtet. Am Morgen stand ich frühe auf, und da ich glaubte, daß ich niemand in dem Schlosse mehr stören würde, ging ich in das Freie, um die milde Luft zu genießen.«
»Es ist ein eigenes erquickendes Labsal, die reine Luft des heiteren Sommers zu atmen«, erwiderte sie. »Es ist die erhebendste Nahrung, die uns der Himmel gegeben hat«, antwortete ich.
Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Dritter Band, Die Entfaltung, S.588 - 590
Vom viktorianischen Standpunkt aus, den Stefan Zweig so eindrücklich geschildert hat, müsste Stifter den Gefühlsüberschwang Mathildes eigentlich kritisch sehen und das vorsichtige die-Form-wahren von Nathalie und Heinrich begrüßen. Dazu passt ja auch seine Vorrede zu den Bunten Steinen.
Aber seine Darstellung der Geschichte von Mathilde und Gustav lässt doch sehr viel Verständnis für die Liebenden erkennen.
Sollte Stifter etwa an Mathildes Enttäuschung über Gustavs Verhalten ihre Lebensfremdheit kritisieren wollen und diese ihrer falschen Erziehung zuschreiben?
Andererseits halten sich Mathildes Eltern gerade nicht an den viktorianischen Kanon, dass ein junges Mädchen immer überwacht sein muss...