Hören Sie, meine Tante teilt die Bücher in zwei Arten: gute, über welchen sie nach Tisch einschlafen kann, und schlechte, bei denen das nicht geht. Ihre Chronik würde sie unter die ersteren rechnen, wenn sie, aufgewühlt, ihr in die Hände fallen sollte. Adieu!« [...]
Aus diesem dolce far niente hatte mich plötzlich das Schreien eines Kindes aufgeschreckt. Es drang aus dem Haus hinter mir und bewog mich, aufzustehen und in das niedere, vom Weinstock umsponnene Fenster zu sehen. Eine alte Frau war eben beschäftigt, einen widerspenstigen, heulenden, strampelnden Bengel von vier Jahren mit Wasser, Seife und einem wollenen Lappen tüchtig zu waschen, welcher Prozedur drei bis vier andere kleine »Blaen« angstvoll zusahen, wartend, bis die Reihe an sie kommen würde.
»Nun, Mutter«, sagte ich, mich auf die Fensterbank lehnend; »und Ihr seid nicht in der Kirche?«
Die Alte sah auf und sagte lachend: »Et geit nich immer; ek mott düsse lüttgen Panzen waschen und antrecken – Herre – Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch!«
Ich nahm den Hut ab und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Welch eine wunderbar schöne Predigt lag in den fünf Worten des alten Weibes! [...] Ich konnte der alten Frau kein Wort mehr sagen.
»Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch!« murmelte ich leise, zu meinem Tisch unter der Linde zurückgehend. Ich riß ein Blatt aus meiner Brieftasche, schrieb darauf: Kinderschreien is ok een Gesangbauksversch, und zog es mit einem Strauß Waldblumen unter das Hutband.
Träumend schritt ich dann durch die Tür des Dorfkirchhofs, vorüber an den bunten, geputzten Gräbern, zu dem offnen Kirchtor (auf dem Lande braucht der Protestantismus seine Kirchen während des Gottesdienstes noch nicht zu schließen) und lehnte andächtig an der Esche davor. Mit großer Freude hörte ich, wie der junge Pastor eine Gellertsche Fabel in das Gleichnis aus dem fernen Orient schlang, während die Schwalben in dem heiligen Gebäude hin und her schossen und ein verirrter Schmetterling seinen Weg durch die geöffnete Kirchtür eben wieder zurückfand.
Hunderte von Auswandrern trug der Dampfer an mir vorüber, hinunter den Strom, der einst so viele Römerleichen der Nordsee zugewälzt hatte. Ein Männerchor sang: »Was ist des Deutschen Vaterland«, und die alten Eichen schienen traurig die Wipfel zu schütteln; sie wußten keine Antwort darauf zu geben, und das Schiff flog weiter. Die Weser trägt keine fremden Leichen mehr zur Nordsee hinab, wohl aber murrend und grollend ihre eigenen unglücklichen Söhne und Töchter!
Hunderte von Auswandrern trug der Dampfer an mir vorüber, hinunter den Strom, der einst so viele Römerleichen der Nordsee zugewälzt hatte. Ein Männerchor sang: »Was ist des Deutschen Vaterland«, und die alten Eichen schienen traurig die Wipfel zu schütteln; sie wußten keine Antwort darauf zu geben, und das Schiff flog weiter. Die Weser trägt keine fremden Leichen mehr zur Nordsee hinab, wohl aber murrend und grollend ihre eigenen unglücklichen Söhne und Töchter!
[...]
Kennt ihr das »Rette sich wer kann!« bei einem plötzlich hereinbrechenden Gewitter in einer großen Stadt? Alle Gruppen lösen sich – Schürzen werden über den Kopf, Taschentücher über die Hüte gebunden; hier flüchtet ein Pärchen unter eine laubige Akazie, dort ein dicker alter Herr unter den Vorsprung eines Hauses; hier schlüpft leichtfüßig ein junges Mädchen dicht an den Häuserwänden hin, dort wandelt langsam und gleichmütig ein Naturmensch daher, nichts vor dem Regen schützend als seine glühende Zigarre.
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
in der Wikipedia: Die Chronik der Sperlingsgasse
in der Wikipedia: Die Chronik der Sperlingsgasse
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