28 Dezember 2023

Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart

 Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart

Rezension bei Perlentaucher

Leseprobe bis S.29

1. Eintracht und Streit in der Familie . . . . . . . . . . . 19 

Der große und der kleine Bruder . . . . . . . . . . . . . 19 

Die Großrussen und die Kleinrussen . . . . . . . . . . 25 

 2. Die gemeinsame Wiege der Kyjiver Rus’ . . . . . 28 

Der Erbstreit der Historiker . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 

Der Erbstreit der Politiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 

 3. Mongolen und Polen – Asien und Europa: Die Geschwister gehen getrennte Wege  (14. bis 17. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . .    37 

Danylo von Galizien-Wolhynien und Alexander Nevskij . . . . . . 38 

Der Aufstieg Moskaus und die Herausbildung des Zarenreichs. . . 43 

Die Ukraine unter litauischer und polnischer Herrschaft . ............46 

 Kirchenunion von Brest 1596, Ukrainische griechisch-katholische Kirche

Die ukrainischen Kosaken und die Revolution von 1648  . . . . . . . .51 

Starker Staat – libertäre Gesellschaft, belagerte Festung – Orientierung nach Europa . 53

4. Die Annäherung der Ukraine an Russland und die Integration der «Kleinrussen» in das Imperium der Zaren (17. bis frühes 19. Jahrhundert) . .. . . . . . . . . . . . . . . . . 56 

Die Vereinbarung von Perejaslav und der Beginn der Herrschaft Russlands über die Ukraine 59 Peter der Große, Mazepa und das Ende des ukrainischen Kosakentums .  . . . . . . . . . . . 65    Doch Angehörige einer ukrainischen Kosakenfamilie erlebten unter der Kaiserin Elisabeth einen auffallenden Aufstieg: Alexei Grigorjewitsch RasumowskiKirill Grigorjewitsch Rasumowski (S.71), Andrei Kirillowitsch Rasumowski (S.72)

Die Ukrainisierung der russischen Kultur . .. . . . . . . . . . . . . . . . .  72                                  "Im 18. Jahrhundert kamen etwa 60 Prozent der Bischöfe des Imperiums aus der Ukraine und Weißrussland." (S.73)                                                                                                        Feofan Prokopovyč . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74                                                              "Ausgerechnet ein ukrainischer Absolvent der Kijiver Akademie wurde so zum wichtigsten frühen Ideologen des autokratischen Absolutismus in Russland. [...]  Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts hob sich die linksufrige Ukraine von Russland durch ein merklich höheres Bildungsniveau ab, wie ausländische Beobachter bestätigten. Sie wies ein recht breites Netz von Kirchenschulen auf, an denen auch Mädchen ausgebildet wurden." (S.75/76)

"Im Laufe des 18. Jahrhunderts erlebte die auf Mittel- und Westeuropa ausgerichtete weltliche Bildung und Kultur auch in Russland einen raschen Aufschwung. Die Kijiver Akademie und die anderen Bildungsstätten in der Ukraine sanken dagegen zu Priesterseminaren ab, während die weltliche höre Bildung seit dem Jahr 1755, als die Universität Moskau gegründet wurde, immer mehr von russischen Institutionen übernommen wurde. Allerdings wurde die zweite (russischsprachige) Universität des Imperiums 1805 in Charkiv gegründet, wo sie auf dem dortigen Collegium aufbauen konnte. Trotzdem beraubte der ständig zunehmende Brain Drain die Ukraine zahlreicher Gebildeter. In der Mitte des 18. Jahrhunderts drehte sich die Richtung des Kulturtransfers um, und die Ideen der französischen Aufklärung kamen  nicht mehr über die Ukraine nach Russland, sondern über St. Petersburg in die Ukraine. Die Bildungssprachen waren nicht mehr Latein und Kirchenslawisch, sondern Deutsch, Französisch und zunehmend Russisch. (S.76/ 77)

Die Expansion Russlands ans Schwarze Meer und in die rechtsufrige Ukraine . . .. . . . . . 77   "Der Steppengürtel nördlich des schwarzen Meeres war seit der Antike Durchzugsgebiet aus Asien kommender Reiternomaden gewesen. Seit dem 15. Jahrhundert stand er unter der Herrschaft der Krimtataren, deren Khan Vasall des Osmanischen Reiches war. Die Region war landwirtschaftlich nicht erschlossen und kaum besiedelt. Lediglich die Saporoger  Kosaken hatten am Unterlauf des Dnjepr  Fuß gefasst. Sie standen in ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen (aber auch in Handelsbeziehungen) mit den Krimtataren und fuhren mit ihrem kleinen Booten auf das Schwarze Meer, wo sie osmanische Galeeren kaperten und Hafenstädte ausraubten.

Im Türkischen Krieg von 1768 bis 1774 eroberte Russland das gesamte Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres, 1783 folgte die Annexion der Krim." (S. 77)
"Das eroberte Gebiet im Süden der heutigen Ukraine wurde offiziell als Neurussland bezeichnet und in einem Generalgouverneurment dieses Namens zusammengefasst. Die südukrainische Steppe mit ihren fruchtbaren Schwarzerdeböden wurde nun für die Landwirtschaft nutzbar gemacht, und in den folgenden Jahrzehnten wurde sie von ukrainischen und russischen Bauern besiedelt. Sie kamen zum größeren Teil in die Abhängigkeit von (vorwiegend russischen) Adligen, denen die Regierung in Neurussland Güter verliehen hatte. [...] Zunächst rief man aus dem Osmanischen Reich orthodoxe Bulgaren, Serben, Rumänen und Griechen ins Land. Die größte Gruppe waren die deutschen Kolonisten, unter ihnen zahlreiche Mennoniten, die als tüchtige Ackerbauern den ostslawischen Bauern als Vorbild dienen sollten. Die Region stieg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum wichtigsten Getreideproduzenten des Imperiums auf. In den Städten ließen sich Russen, Juden, Griechen und Armenier nieder, während die Ukrainer hier nur kleine Minderheiten stellten. (S.77/78)
"Katharina II. rechtfertigte die Annexion des östlichen Polen-Litauens  damit, dass diese Länder und Städte, die an das Russische Reich angrenzen, einst in seinem Besitz waren und von ihren Stammesgenossen bevölkert sind, die zum orthodoxen Glauben bekehrt wurden und ihn bis heute ausüben. Indem die Kaiserin darauf verwies, dass diese Gebiete früher im Besitz Russlands (gemeint ist die Kyjiver Rus') gewesen sein, lancierte sie die Auffassung von der 'Wiedervereinigung' der Ukraine und Weißrussland. Obwohl sie diesen 'Stammesgenossen' ihre besondere Fürsorge verhieß, kümmerte man sich in der Folge kaum um die ukrainischen Leibeigenen, sondern verkehrte mit Ihnen nur indirekt über ihre adeligen polnischen Herren. Eine Ausnahme war die Konfession. Staat und Kirche betrachteten sich als Schutzjahren ihrer orthodoxen Untertanen, die gegen katholische Einflüsse abgeschirmt werden sollten. "(S. 80)

 Die Entdeckung Kleinrusslands durch die Russen um 1800 . . . . . . . . .  . . . . . . . . . . . . . 81 

Im Geiste Rousseaus wurde die Ukraine als einfaches, moralisch reines, von der Zivilisation nicht verdorbenes Volk und ihr Leben als ländliche Idylle idealisiert. Die ukrainischen Bauern erschienen als Kinder der Natur, als ehrlich, fröhlich, treu, offen, gastfreundlich, musikalisch, emotional und tief religiös. [...]  Man kann von einer Kleinrussland-Mode im Russland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprechen. Nicht nur die Reiseberichte, sondern auch die wichtigsten russischen Zeitschriften der ersten vier Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, sowohl konservativer wie liberaler Ausrichtung, zeichneten ein überwiegend positives Bild von der Ukraine. [...]

Die Ukrainer seien in ihrer Entwicklung stecken geblieben und hätten es nicht verstanden, eine gebildete Elite, eine höhere Zivilisation und einen Staat zu schaffen. Die idealisierten traditionellen Sitten wurden somit umgedeutet zu Rückständigkeit, Ignoranz und Aberglauben. Das häufigste Attribut, dass russische Beobachter den Ukrainern zuschrieben, war deren Trägheit und Faulheit." (S.83)

 5. Zwei verspätete Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 

Russland und die Ukraine existieren als Nationalstaaten erst seit einem Vierteljahrhundert. Sie sind junge, verspätete Nationen [...]  Dass die Ukrainer eine verspätete Nation sind, ist evident. Sie wurde nach dem plötzlichen Erscheinen des Nationalstaats auch als 'unerwartete Nation' bezeichnet, und es wird sogar bestritten, dass sie überhaupt eine Nation sein. 'Die Ukraine ist ein unabhängiger Staat, der kein Nationalstaat ist. Zwischen Historikern ist umstritten, ob es überhaupt eine ukrainische Nation gibt', so der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt [...] kurz nach der Annexion der Krim durch Russland. [...] 

Nicht selbstverständlich ist dagegen die These von den Russen als einer verspäteten Nation. Im Gegensatz zur Ukraine verfügt Russland über eine seit dem Mittelalter ununterbrochene staatliche Tradition, und bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion lebten fast alle Russen in einem Staat zusammen. Allerdings war der Staat nicht, wie in Westeuropa, der Kern, sondern der wichtigste Hemmschuh für die russische Nationsbildung [...]. Gerade der übermächtige, territorial riesige Stadt, das russländische Imperium [...] und die Sowjetunion behinderten die Formierung einer russischen Nation [...] Die autoritären Regime der Zaren und Sowjets verhinderten eine demokratische Entwicklung, eine politische Emanzpation der russischen Gesellschaft und ihre Integration zu einer Staatsbürgernation, Die Multiethnizität und die soziale Polarisierung standen der Bildung einer ethnischen Nation im Weg.". (S.85/86)

Prozesse der Nationsbildung in der Vormoderne . . 87                     

Das vormoderne kosakisch-kleinrussische Nationalbewusstsein äußerte sich noch einmal in einem bemerkenswerten Text, der die Beziehung des 'kleinen' zum 'großen' Russland zum Thema hat. 'Ein Gespräch zwischen Großrussland und Kleinrussland' des Absolventen der Kijiver Akademie Semen Divovyc wurde im Jahr 1762 in russischen Versen abgefasst, aber erst im Jahr 1882 gedruckt. Zu Beginn fragt Großrussland Kleinrussland:
'Welcher Herkunft bist du und woher bist Du gekommen?                                                Sprich, sprich von deinen Ursprüngen, von denen du herstammst!'
Kleinrussland erklärt dann ausführlich seine glanzvolle Geschichte seit dem Mittelalter, unter der Herrschaft des polnischen Könige und besonders die Heldentaten der Kosaken bis zu ihrer freiwilligen Unterstellung unter den russischen Herrscher Alexej Michajlovic, der ihnen die Erhaltung ihrer Privilegien garantierte." (S. 91)
Divovyc verfasste sein 'Gespräch' kurz nach dem Regierungsantritt Katharinas II. Er verteidigt die Eigenständigkeit und die Rechte 'Kleinrusslands', genauer des Kosaken-Hetmanats, und pocht auf Gleichberechtigung der ukrainischen Elite mit dem russischen Adel. Dabei werden die Bezeichnungen 'klein' und 'groß', wie wir wissen zu Unrecht, mit der unterschiedlichen Größe der beiden Länder erklärt. Es ist bemerkenswert, dass Divovyc die Verwandtschaft der beiden Völker nicht erwähnt, sondern Kleinrussland als eigenes Objekt mit einer von großen Russland getrennten Geschichte vorstellt. Von der gemeinsamen Abkunft von der Kyjiver Rus’  ist nicht die Rede." (S.92)

Varianten eines russischen Nationalbewusstseins in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . .  93
Westler (u.a.  Iwan TurgenewIwan PanajewPjotr TschaadajewWissarion Belinski und Alexander Herzen) und Slawophile                                                                                                          Die ukrainische Herausforderung und die russische Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .96
Nationaldichtung: Ivan Kotljarevskij und Nationalgeschichte 'Geschichte der Rus' ' (konzentriert auf die heroische Zeit der Kosaken aber auch Rückgriff auf die Kyjiver Rus’);  die Kyrill-und-Method-Bruderschaft "spielte eine zentrale Rolle in der Herausbildung eines Nationalbewusstseins in der Ukraine.[1]"  (Wikipedia),   Mykola Kostomarow (Gründer), Taras Schewtschenko (nach Kasachstan verbannt)(S.96-98); eine vergleichbare russischr Gruppe, der Dostojewski angehörte, wurde härter bestraft (Todesurteil, Begnadigung zu Zwangsarbeit in Sibirien). 
18 42 wurde Nikolai Gogol's Roman 'Die Toten Seelen' publiziert was Anlass zu Erörterungen über die nationale Zuordnung des ukrainisch-russischen Schriftstellers gab. [...]  Gogol' selbst äußerte sich dazu zwei Jahre später in einem Schreiben, in dem er bekannte, eine doppelte 'Seele' zu haben. Er wisse selbst nicht, 'welche Seele ich habe, die eines Chochol [Spitzname für Ukrainer] oder eine russische. Ich weiß nur, dass ich keineswegs dem Kleinrussen vor dem Russen noch den Russen vor dem Kleinrussen den Vorzug geben würde. Beide Naturen sind von Gott üppig bedacht worden, und mit Bedacht besitzt jede  von Ihnen für sich das, was der anderen fehlt: ein klares Zeichen, dass sie einander ergänzen müssen.'
Gogol', der aus einer ukrainischen Kosakenfamilie stammte, steht für die zahlreichen Ukrainer, die nach Moskau oder St. Petersburg zogen, und sich dort sprachlich russifizierten, gleichzeitig aber die russische  Kultur ukrainisierten. Seine Erzählzyklen 'Abende auf dem Gutshof bei Dikan'ka' und 'Migorod' hatten ukrainische Themen und waren in einem Russisch geschrieben, das viele Ukrainismen aufweist. In Russland wurden sie als Beispiele der exotischen Kleinerussischen Literatur positiv aufgenommen. Sie führten die Ukraine in die russische Literatur ein; ihre Natur verbundenen pittoresken, humorvollen, faulen, ess- und trinkfesten Gestalten mit einer deformierten Sprache und Irrationalität prägten das russische Ukrainebild für lange Zeit. In Russland warf man Gogol' vor, die Russen negativ und die Kleineussen mit viel Sympathie darzustellen, worauf er in dem zitierten Brief antwortet." (S. 100/101)

Der russische imperiale Nationalismus und die Krise der ukrainischen Nationsbildung . . . . 103 

 6. Ein asymmetrisches Verhältnis: Russen und Ukrainer im Russländischen Reich im 19. und frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113              Russische Stadt – ukrainisches Dorf . . . . . . . . . . . 114                                                 Hierarchie der Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117                                             Wechselseitige Perzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 121                                                   Akkulturation und doppelte Identität . . . . . . . . . 124                                                             War die Ukraine eine Kolonie Russlands? . . . . . . . 130 

 7. Die Russische und die Ukrainische Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .     . . . 132

In der Zeit von 1917-1922 herrschten in der Ukraine unübersichtliche und zeitlich rasch wechselnde Machtverhältnisse:

Die national-ukrainisch orientierten Kräfte des Bürgertums und der Intelligenz, die Mittelmächte, die weißen Truppen [Deniken, Wrangel], die die russische Revolution annullieren wollten, die ukrainischen Bauern, die weitgehend russischen, bolschewistisch orientierten Arbeiter, die provisorische russische Regierung ab Februar 1917, die Rote Armee der Sowjetunion. (Eine gewisse Sonderrolle spielte die im November 1918 in Lemberg ausgerufene Westukrainische Volksrepublik (S.142) der Ruthenen/Ukrainer im Bereich der Habsburger Monarchie. [Einen groben Überblick liefern die Seiten 132-149 und im Internet die betreffenden Artikel, die nur zum Teil verlinkt sind, einiges ist dort genauer dargestellt als im Buch.

Die Russische Revolution (Februar 1917 bis März 1918) . . . . . . . . .            . . . . . . . . 132 Die Ukrainische Zentralrada und ihr Verhältnis zu Petrograd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Die Ukrainische Volksrepublik [UNR] zwischen den «roten» und den «weißen»* Russen.141   *"Die Weißen, deren bewaffneter Arm die Weiße Armee war, vereinten politisch sehr unterschiedliche Kräfte der russischen Gesellschaft, deren Vorstellungen über die Methoden, die Richtung und die Ziele des Kampfes gegen Sowjetrussland stark differierten."                     Weshalb gelang es den Bolschewiki, den Bürgerkrieg zu gewinnen und die Herrschaft über den größten Teil der Ukraine zu erringen? . .(NÖP) . . . . ................................................146  "[...] die Ukrainer waren nach 1918 das größte Volk Europas ohne Nationalstaat." (S.147)

 8. Russen und Ukrainer in der sowjetischen «Völkerfamilie» . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Die Gründung der Ukrainischen und der Russländischen Sowjetrepublik . . . . . . . . . . . 151 Korenizacija und Ukrainisierung . .[unter Stalin zurückgenommen]        . . . . . . . . . . . .155 Der ukrainische Nationalkommunismus . [ Skrypnyk;S.163/64] . . . . . . . .                       162  Industrialisierung, Zwangskollektivierung und Hungersnot . . . . . . .  . . . . . . . .            165

"Das Bewusstsein, als Nation Opfer des Sowjetkommunismus zu sein, ist heute ein wichtiges Element des ukrainischen Nationalbewusstseins." (S.170)

Sowjetpatriotismus, Völkerfreundschaft und die Rückkehr des «Großen Bruders» . . . 171 Referat von Kappelers Darstellung: "Die Ukrainische Nation habe in den 1920er-Jahren ein soziales Fundament erhalten, das die Brüder näher auf Augenhöhe brachte. Erst Stalin setzte dem ukrainischen Nationalkommunismus ein Ende, als er die Ukraine zum Risikofaktor für den Fünfjahrplan erklärte. Kappeler weist den Genozidbegriff von sich, mit dem die von Stalin induzierte Hungerkatastrophe der frühen 1930er-Jahre zuweilen beschrieben wird; doch Terror und Hungersnot richteten sich auch in Kappelers Deutung gezielt gegen die neue ukrainische Elite. Der „Große Bruder“ kehrte zurück und er bestimmte auch die Lesart nach 1945.". . . . . . . . . . .. ..... . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .
"Trotz dieses gemeinsamen Anteils, Leid und Sieg gegen Nazi-Deutschland ist der zweite Weltkrieg heute Gegenstand heftiger erinnerungspolitische Kontroversen zwischen Russland und der Ukraine. Auch innerhalb der Ukraine wird der zweite Weltkrieg unterschiedlich bewertet. Die wichtigste Ursache für diese Kontroversen liegt darin, dass die Bevölkerung der Westukraine, die erst 1939 gewaltsam in die Sowjetunion eingegliedert worden war, wenig Loyalität gegenüber Moskau zeigte.

Im Gefolge des Hitler – Stalin – Paltes (und seines Zusatzprotokolls) besetzte die Rote Armee im September 139 das östliche Polen und mit ihm Galizien und West-Wolhynien. Galizien hatte nie zum Zarenreich gehört." ( S.178)

 Großer Vaterländischer Krieg oder antisowjetischer Befreiungskampf . . . . . . . . . . . . . 175

"Nicht nur in der Westukraine, sondern auch in den zentralen Regionen, die als Reichskommissariat Ukraine organisiert wurden, und im Osten, der der Militärverwaltung unterstellt war, arbeiteten zahlreiche Ukrainer als Hilfswillige für die Deutschen, in der Hilfspolizei, in Schutzmannschaften und in der Lokalverwaltung. Dabei wurden sie in der Regel gegenüber ethnischen Russen bevorzugt. Unter der breiten Bevölkerung zerstörte die brutale deutsche Besatzungspolitik aber rasch anfängliche Illusionen. (S. 180)

"In der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland war und ist die Vorstellung von den Ukrainern als Kollaborateuren und Banderisten [...] weit verbreitet. Sie wird von der russischen Propaganda geschürt, die den Krieg gegen die Ukraine als Neuauflage des Krieges gegen 'die ukrainischen Faschisten' und 'geistigen Erben Banderas, des Handlangers von Hitler im zweiten Weltkrieg', inszeniert.

In der Ukraine wird ihre Rolle unterschiedlich bewertet. Während OUN und UPA in Galizien von vielen Ukrainern als Helden im Befreiungskampf gegen die sowjetische Herrschaft verehrt wurden und noch werden, galten und gelten sie vielen Ukraine im Osten und Süden des Landes als Verräter. Präsident Juschtschenko  initiierte eine offizielle Neubewertung des Zweiten Weltkrieges, der auch als nationaler Befreiungskampf der Ukraine gegen die Sowjetunion anerkannt werden sollte." (S.181/182)

 Von der Völkerfamilie zum Sowjetvolk . . . . . . . . . 183                                                        Russland und die Ukraine als Totengräber der Sowjetunion . . . . . . . . .. . . . . . . 192 

Die Reformen, die der 1985 zum Generalsekretär der KPDSU gewählte Gorbacev (geb. 1931) [Gorbatschow]  unter den Slogans Perestroika (Umbau) und Glasnost' (Transparenz) anstieß und die eine Modernisierung der Sowjetunion, deren wirtschaftliche Rückständigkeit immer offensichtlicher geworden war, zum Ziel hatten, führten in wenigen Jahren zu einer schweren Wirtschaftskrise und zur Delegitimierung der sowjetischen Ordnung. In heftigen Geschichtsdiskussionen fiel ein ideologisches Tabu nach dem anderen, und selbst der Gründungsmythos der Oktoberrevolution und die Person Lenins gerieten unter Beschuss. 1989 wurden erstmals seit 1917 weitgehende freie Parlamentswahlen durchgeführt [...]" (S. 192)


 9. Feindliche Brüder? Die Konfrontation der beiden postsowjetischen Staaten . . . 199 Die Unabhängigkeit der Ukraine und die Reaktion Russlands . . .. . . . . . . 199   Kontroversen und Kompromisse . . . . . . . . . . . . . 203                                                         Die Orange Revolution von 2004: Juščenko, Janukovyč und Putin . 212                            Die Revolution des Euro- Majdan . .                         .219                                                          Das militärische Eingreifen Russlands – Versuch einer Deutung . . . . .222                              Putins Begründungen zur Rechtfertigung des Anschlusses der Krim .  226 

10. Feinde statt Brüder: Russlands Krieg gegen die Ukraine . . . . .232 

Die Ukraine und Russland in der ersten Phase des Krieges (2014 bis 2021)  . 232              Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine im Jahr 2022 . .  242                                  Putins Begründungen und Rechtfertigungen des Kriegs . . . . . . . 255 

11. Russland, die Ukraine und Europa . . . . . . . . . . 264

Richard C. Schneider: Die Sache mit Israel Fünf Fragen zu einem komplizierten Land

Das Buch erschien vor dem 7.10.2023. 

 Leseprobe Prolog bis S.12 (pdf)

Auf S.10 erinnert Schneider an einen Angriff jüdischer Siedler auf die palästinensische Kleinstadt Huwara. Sie "zündeten Autos und Häuser an [...] die Armee und die Polizei brauchten endlos viel Zeit, um dem Wahnsinn ein Ende zu bereiten [...]" 

"Ist Israel eine Demokratie? Ist Israel ein Apartheidstaat? Ist Kritik an Israel antisemitisch? Ist Israel ein fundamentalistischer Staat? Gehört Palästina den Palästinensern?

Richard C. Schneider [Wikipedia], SPIEGEL-Autor und langjähriger Israel-Korrespondent der ARD, lebt seit fast 20 Jahren in Tel Aviv, kennt Alltag und Geschichte des Landes und weiß um die gängigen Vorbehalte und Vorurteile in Deutschland. Bei den Antworten auf diese fünf Fragen setzt er an, um einige grundlegende Dinge über Israel zu erklären – 75 Jahre nach der Staatsgründung Israels und in einem entscheidenden Moment für die Demokratie des Landes." (https://presse.penguinrandomhouse.de/edition/9783421070104)

Artikel von Schneider Bücher von ihm

Leserrezensionen:

Von: Klaus Hans Wilhelm Rohrmann aus Berlin

14.08.2023

"Sehr geehrter Herr Schneider, Ihre informative und sachliche Berichterstattung über Israel aus der Sicht eines Natives ist mir aufgefallen und deshalb habe ich Ihr Buch mit Interesse gelesen. Allerdings vermeiden Sie klare Antworten auf gestellte Fragen, geben aber eine deutliche Tendenz. Mir war z.B. neu, dass israelische Extremisten den israelischen Staat mit welcher Begründung auch immer ablehnen... Mein Problem ist: Was soll jedoch mit den zahlreichen palästinensischen Flüchtlingen passieren, die nach wie vor in erbärmlichen Zuständen in den Nachbarländern Syrien, Libanon und Jordanien leben müssen. Diese Frage scheint bei Ihnen und in Israel keine Rolle zu spielen. Solange diese Fragen neben den von Ihnen geschilderten aktuellen inneren Bedrohungen des Staate Israel nicht einvernehmlich gelöst sind, wird es m.E. in dieser Region für alle Bevölkerungsgruppen keinen anhaltenden Frieden, Wohlstand etc. geben. Ich selbst bin 1952 in Warnemünde geboren und war u.a. von 1985-1993 mehrfach als Verkaufsleiter für von der DDR gelieferte Gleitbauschalungen für Getreidesilos in Syrien, Feuerfest-Auskleidungen für Ziegeleien im Irak etc. unterwegs und habe dabei auch erschütternde Zustände in den palästinensischen Flüchtlingslagern gesehen. Ich denke, dass es dem Anliegen Ihres Buches gedient hätte, unbedingt auch diesen Aspekt mit einzubeziehen. Wie wäre es denn, Bereitschaft bei allen beteiligten Seiten vorausgesetzt, eine Konföderation aller in der Region lebenden Bevölkerungsgruppen zu initiieren?" (https://www.penguin.de/Buch/Die-Sache-mit-Israel/Richard-C-Schneider/DVA-Sachbuch/e612311.rhd - 

Dort findet sich auch eine zweite Rezension (von Sebastian Venske,11.06.2023): 

"[...] Israel sei eindeutig eine Demokratie, aber eine ethnische Demokratie, in der der Staat einen jüdischen Charakter hat und Araber - Muslime wie Christen – und andere Minderheiten als Staatsbürger alle Individualrechte besitzen, aber nur sehr eingeschränkte Kollektivrechte. Nach Schneider ist das notwendig, da Israel nur so ein sicherer Hafen für Jüdinnen:Juden bleiben kann. Das Buch greift fundamentale und wichtige Debatten rund um Israel auf. Es zu lesen ist bereichernd. Vieles ist bedenkenswert. Eine absolute Leseempfehlung."

Zum Inhalt:

Ben Gvir und Smotrich, "Oberherr der Regierung im von Israel besetzten Westjordanland.[6]" (Wikipedia), die extremistischen Koalitionspartner Netanyahus. (S.17/18)

Zitat: "Die Schwierigkeiten dürften noch größer werden, wenn die Justizreform durchkommt. Dann würde die Justiz in Israel nicht mehr als unabhängig angesehen. Bisher bewahrte die Unabhängigkeit des Obersten Gerichts Soldaten, Offiziere und Politiker davor, vor dem ICC wegen möglicher Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt zu werden. Die Unabhängigkeit des Bagatz*, wie das Oberste Gericht in seiner hebräischen Abkürzung genannt wird, war Grund genug, dass das ICC sich zurückhielt beziehungsweise entsprechende Vorstöße abgewehrt werden konnten. Das aber wäre nicht mehr möglich, wenn die Politik sich einen Freifahrtschein ausstellt und die Justiz lahmlegt." (S.19)

*"An der Spitze der Judikative, als höchste Berufungsinstanz, steht das Oberste Gericht mit Sitz in Jerusalem. Aus den Richterinnen und Richtern des Obersten Gerichts bildet sich auch das „Hohe Gericht für Gerechtigkeit“ („Beit-Din Gawoah LeTzedek“ = „BaGaTz“), das je nach Bedeutung des Falles mit drei, fünf oder sieben Richterinnen und Richtern besetzt ist. Dieses Gericht ist die einzige und höchste Appellationsinstanz in Grundsatzfragen und bietet (ähnlich dem Bundesverfassungsgericht) die Möglichkeit, gegen die Regierung sowie alle Vertreter und Institutionen des Staates zu klagen und ihre Maßnahmen auf Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen, sie ggf. sogar auszusetzen." (Wikipedia)

Schneiders Antworten auf seine Fragen: (nach meinem Verständnis der Textes)

Ist Israel eine Demokratie? 

Israel ist eine "ethnische Demokratie" (passim)

"[...] Doch man muss unterscheiden: zwischen dem Rechtsruck und wachsendem Rassismus, der die Demokratie insgesamt bedroht, und der klaren Notwendigkeit Israels, eine ethnische Demokratie bleiben zu müssen, wenn der jüdische Charakter des Staates erhalten bleiben soll. Eine vollständig pluralistische Gesellschaftsform mit totaler Gleichstellung aller gesellschaftlichen Gruppen wird es in Israel nie geben, Es wäre das Ende als Staat, wie er jetzt existiert. Das wird die jüdische Mehrheit nicht akzeptieren, selbst, wenn die Progressiven und Wolken im In- und vor allem im Ausland es anders haben wollen. Aber wie schon gesagt, das Jüdische ist eine partikularistische Identität. Seit mehr als 3000 Jahren. Nur so hat das Judentum bis heute überlebt." (S.69)

Ist Israel ein Apartheidstaat

Es gibt Ungleichbehandlung zwischen jüdischen Israelis und arabischen, nicht im offiziellen Rechtsstatus, aber etwa in der Bewilligung von Projekten für jüdische oder arabische Gemeinden.   - Dies belegt nach Schneider aber keinen Apartheidstaat, da palästinensische und jüdische Israelis de jure gleich gestellt seien.  Dann fährt er fort: 

"Also herrscht nur im Westjordanland Apartheid? Dort ist die Besatzungsmacht ja nun wahrlich präsent. Leider sind viele Vorwürfe, die Amnesty macht, tatsächlich nicht von der Hand zu weisen. Israel verstößt gegen Menschenrechte, es verstehst auch nach gängigem Recht gegen die Auflagen, die der Staat als Besatzungsmacht zu befolgen hätte, etwa die verbotene Besiedlung besetzter Gebiete. Wie schon erwähnt, wird palästinensisches Land enteignet, die Palästinenser können in bestimmten Gegenden nicht bauen, in manchen Gegenden dürfen sie nicht einmal ihre Häuser aufstocken, wenn die Familie wächst. Sie müssen Gebiete verlassen, die willkürlich zur militärischen Sperrzonen deklariert werden [...]

Wozu also sollte Netanyahu oder irgendein anderer Premier, wenn er nicht fundamentalistischer Ideologe ist, auch nur irgendeinen Teil des Westjordanlands annektieren? De facto ist es ja bereits so. Und kostet den Staat so weniger, als wenn es offiziell gemacht wurde, ganz abgesehen von den politischen Implikationen, die ein solcher Schritt erst einmal nach sich ziehen würde.
Doch genau solche 'pragmatische' Überlegungen sind der Grund, warum in den besetzten Gebieten irgendwann, vielleicht sogar schon in naher Zukunft der 'Apartheidszustand' tatsächlich eintreten könnte. Egal, ob Israel sich das Westjordanland offiziell einverleiben würde oder nicht. Schon jetzt ist die Gefahr groß, dass die Situation irreversibel ist [...] die Ultras haben sich längst entschieden und sagen es auch. Ihnen ist es wichtiger, dass Israel jüdisch ist. Auf Demokratie können Sie verzichten. Und ihre Anhängerschaft wächst. Sie werden Immer stärker. (S.97/98)

Ist Kritik an Israel antisemitisch? 

"In den seltensten Fällen ist die Kritik an Israel sachlich fundiert. Sie ist eben häufig ein Mix aus uralten anti-kolonialistischen und anti-imperialistischen Ideologien, rassistischen Überzeugungen und einem völlig unreflektierten Blick auf die Welt und die eigene politische Position und Bedeutung." (S.102)

"Es ist kein Zufall, dass die BDS-Bewegung ihr Vorbild in der Anti-Apartheid-Bewegung hat. Auch diese hatte ihren Ursprung in England. BDS übernahm Strategien der Anti-Apartheids- Bewegung zum Teil wortwörtlich." (S.105)
Fontanefan dazu: Darauf weist Schneider sehr zu recht hin. Allerdings hat er selbst darauf aufmerksam gemacht, dass "vielleicht sogar schon in naher Zukunft der 'Apartheidszustand' tatsächlich eintreten könnte" Dass.der BDS das zu verhindern versucht, kritisiert er, weil er sie angewandten Mittel für falsch hält. Im Fall Südafrikas waren sie allerdings dank einer günstigen Konstellation erfolgreich. Von S.107 bis 132 beschäftigt er sich mit dem "Antisemitismus der Linken". Aus seiner Sicht ist das gut begründet, weil er jeden Angriff auf einen "jüdischen Staat" als Antisemitismus versteht, weil Israel nur als jüdischer Staat existieren könne. 
Hier ist der entscheidende Gegensatz zu postkolonialistischen Forderungen zu finden. Wenn eine Zweistaatenlösung nicht mehr in Frage kommt, ist in der Tat zu befürchten, dass auf längere Sicht Mehrheiten entstehen können, die die ungestörte Religionsausübung orthodoxer Juden gefährden würde, weil sie sich nicht mit dem Gleichheitsprinzip vereinigen lasse.
Zur Kennzeichnung des Streits um die documenta 15 greift Schneider das Wort von Sascha Lobo auf, "dass diese wohl größte Kulturausstellung der Welt zur 'Antisemita 15' mutiert" sei. Der Streit ließ manchmal die Vermutung aufkommen, es habe sich in der Tat darum gehandelt. Der Masse der Werke der Ausstellung, die sich auf die Selbstermächtigung der Kunst konzentrierte, wird diese Bezeichnung freilich kaum gerecht. Trotzdem besteht immer die Gefahr, dass Antisemitismus im Namen der Kunstfreiheit gerechtfertigt wird. Darauf wurde zu recht von verschiedenen Seiten hingewiesen. 
Schneider formuliert in diesem Zusammenhang: "Im Grunde gab es in dem gesamten Skandal nur eine einzige Person mit echter Haltung und Statur: Die international berühmte und anerkannte Künstlerin Hito Steyerl, die ihr Werk von der documenta schon früh zurückgezogen hatte, weil in der Ausstellung antisemitische Bilder aufgetaucht waren und niemand Verantwortung dafür übernehmen wollte." (S.125)
Aus meiner Sicht ein zu starkes Wort.

Ist Israel ein fundamentalistischer Staat?  (S.133 ff.)

Diese Frage beantwortet Schneider nicht ausdrücklich, er macht aber deutlich, dass die Siedlerbewegung von Abraham Isaac Kook, zusammen mit seinem Sohn Zwi Jehuda Kook , "geistiger Vater der messianistischen Siedlerbewegung   Gusch Emunim" (Wikipedia),  das religiöse Fundament erhielt, somit von Anfang an zutiefst fundamentalistisch war und dass die israelischen Politiker an zwei wesentlichen Wendepunkten 1967 nach dem Sieg, als das historische Israel erobert wurde und 1973 nach der empfundenen Niederlage jeweils den Siedlern nicht energisch genug entgegentraten, so dass diese durch ihr Eindringen die Zwei-Staaten-Lösung immer unmöglicher machten. Dazu zitiert er Benny Katzover: "Mir war damals klar: Wenn Samaria ohne Juden bleibt, verlieren wir die Legitimation für den ganzen Staat Israel. Die Anfänge des jüdischen Volkes waren hier in Shechem, in Nablus. [...] Hier wurde das jüdische Volk als Nation geschaffen. Wenn dies nicht dem jüdischen Volk gehört, gehört dann Tel Aviv dem jüdischen Volk?" (S,148)

Gehört Palästina den Palästinensern?

Obwohl er den Palästinensern ein 'vertikales', dem Boden verbundenes Heimatgefühl zuspricht, während die Juden wegen ihrer langen Tradition im Exil in 'portables' (H. Heine) hätten (S.164), und obwohl die Palästinenser seit vielen Generationen das Land bewohnten und weitgehend als Privatbesitz hatten,   formuliert Schneider "Den Osmanen gehörte also Palästina. Dann, 1917 , eroberten die Briten während des Ersten Weltkrieges das Gebiet. [...]  Gehörte es ihnen völkerrechtlich ? Nein." ((S.166) Doch arbeitet er dann die sich widersprechenden Ansprüche von Arabern und Juden (Balfour-Deklaration und 'nationale Heimstätte' heraus.) Im Zusammenhang mit der Mandatspolitik spricht Schneider von einer "bei vielen Politikern Großbritanniens tief sitzende[n] Überzeugung von der sogenannten 'jüdischen Weltmacht', der Mär, dass Juden in einem weltweit umspannenden Netz Politik, Finanzen und Medien in ihrer Gewalt hätten, da sie vor allem – schon damals dachte man so in London – großen Einfluss in Washington hätten. Weizmann war klug. Anstatt sich über diese antisemitischen Vorurteile zu echauffieren oder gar zuzugeben, dass er Präsident eine Organisation war, die gerade mal so stabil war wie ein Kartenhaus und deren Macht sich allein darauf speiste, dass viele glaubten, sie hätte Macht, nutzte er lieber die Ehrfurcht vor dem 'Weltjudentum', um seine Forderungen und Ziele durchzusetzen. Selbst ein so hoch gebildeter Mann wie Winston Churchill glaubte bis zu einem gewissen Grad an die Macht der Juden! " (S. 71) 

[Fontanefan: Dass britische Politiker damals an eine 'jüdische Weltmacht' geglaubt und  Ehrfurcht vor dem 'Weltjudentum' gehabt hätten, halte ich für eine Konstruktion. Doch kann man nicht ausschließen, dass man in Kreisen der US-Hochfinanz und bei US-Industriellen europäischen Juden etwas mehr Sympathien entgegenbrachte als Arabern.]

"Anfang des 20. Jahrhunderts wurde mit Hilfe von Theodor Herzl der JNF, der Jüdische Nationalfons, der auch als KKL (J`Keren / Kayemet leYsisrael) bekannt ist, gegründet. Dessen Aufgabe war es, weltweit Spenden von Juden einzusammeln, um Land in Palästina zu kaufen. Die so genannte 'Puschkebox', ein rechteckiger Metallbehälter mit der israelischen Flagge und einer Landkarte von Eretz Jisrael vorne drauf, in den man Münzen und Geldscheine einwarf wie bei einem Sparschwein, gehörte bis in die nicht in die Sechziger und Siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zum Hausratsinventar jeder jüdischen Familie in der Diaspora." (S.176)

Es ist ein alles oder nichts, ein Kampf auf Leben und Tod im ganz realen, aber auch im metaphorischen Sinn.. Möglicherweise wird die Frage, wem Palästina beziehungsweise Israel gehört, auf dem Schlachtfeld geklärt. Oder durch die normative Kraft des Faktischen. Oder durch ein Wunder. Der Konflikt um dieses kleine Land Ist noch lange nicht vorbei. (S.188)

Andere Perspektiven: 
In diesen Zusammenhang gehört auch ein äußerst polemischer Artikel von John Neelsen   https://www.nachdenkseiten.de/?p=109118
Interview mit Saul Friedländer in der ZEIT vom18.1.2024:
"[...] Ich erinnere mich lebhaft an die Feier in Paris, auf der im Mai 1948 die Staatsgründung verkündet wurde. [...] Ich war 15 Jahre alt und voller Erwartungen. Ein paar Wochen später bin ich abgereist, mit der Altalena, einem Schiff der zionistischen Untergrundarmee Irgun, die unter anderem Anschläge auf die arabische Bevölkerung und die britische Mandatsmacht in Palästina verübt hatte. An Bord waren hauptsächlich jüdische Displaced Persons aus Deutschland dazu ein paar französische Juden. 
ZEIT: Sie reisten ganz allein?
Friedländer:  Ja, und deshalb habe ich in Pass mein Alter geändert, denn daran war mein erster Anlauf gescheitert. Ich wollte mit einer sozialistischen Zionistengruppe auswandern, aber da hieß es: Du bist zu jung. Ich datierte also meine Geburt im Pass von 1932 auf 1930 zurück und versuchte es bei der Irgun. Ein Freund hatte mich vorbereitet. Wenn ich gefragt würde: 'Was wollen wir?', Solle ich antworten: 'Beide Seiten des Jordans!', also ein Großisrael. Die Reise dauerte acht, neun Tage. Empfangen wollte die Altalena dann voll Truppen der israelischen Streitkräfte unter Staatsgründer David Ben-Gurion. Die wussten, das die Irgun Waffen schmuggelte – und wollten nicht nur den Schmuggel unterbinden, sondern die Irgun insgesamt ausschalten. Das Schiff wurde schließlich beschossen.
ZEIT: Waren Sie da noch an Bord?
Friesländer: Die meisten Holocaust-Überlebenden, so wie ich, wurden in ein nahe gelegenes Lager gebracht. Erst danach eröffnete die Armee das Feuer. Juden schossen auf Juden. Es war eine Tragödie. [...]
Zeit: [...] Woran sollte man sich gerade besonders erinnern?
Friedländer: An zwei Dinge vielleicht. Zum einen an das Jahr 1945 nicht nur an den 27. Januar. Dass es ein Weiterleben nach der totalen Zerstörung gab, nach Holocaust und Krieg, ist für mich bis heute ein Quell der Hoffnung. Das andere, woran ich denke, ist Charles de Gaulles Reise nach Syrien 1941. Auch dort tobte der Weltkrieg. De Gullel hatte keinen Schimmer von der Region. In seinen Memoiren schrieb er später: 'Vers l'Orent compliqué [...]' In den komplizierten Orient bin ich mit einfachen Ideen geflogen. Darin steckt eine unverändert aktuelle Mahnung: Hüte dich vor simplen Lösungen." ZEIT 18.1.2024

Weitere Informationen zu Israel:
Informationen zur politischen Bildung Heft 336 (2018) mit Inhaltsverzeichnis
bemerkenswert, wie klein das Gebiet des Gazastreifens ist.
Zur Voransicht hier die Einzelkarten von Gazastreifen und der Altstadt von Jerusalem. Die bessere Auflösung findert sich unter dem oben angegebenen Link:  https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/israel-336/276752/karten/

Gazastreifen







16 Dezember 2023

Herder

 Johann Gottfried Herder (Wikipedia)

Julian Schmidt: Herder und seine Bedeutung für die deutsche Literatur (Vorwort des Bandes Der Cid von Herders Werken)









Journal meiner Reise im Jahr 1769

Den 23 Mai [nach gregorianischem Kalender: 3.6.] reisete ich aus Riga ab und den 25/5. ging ich in See, um ich weiß nicht wohin? zu gehen. Ein großer Theil unsrer Lebensbegebenheiten hängt würklich vom Wurf von Zufällen ab. So kam ich nach Riga, so in mein geistliches Amt und so ward ich deßelben los; so ging ich auf Reisen. Ich gefiel mir nicht, als Gesellschafter weder, in dem Kraise, da ich war; noch in der Ausschließung, die ich mir gegeben hatte. Ich gefiel mir nicht als Schullehrer, die Sphäre war [für] mich zu enge, zu fremde, zu unpassend, und ich für meine Sphäre zu weit, zu fremde, zu beschäftigt. Ich gefiel mir nicht, als Bürger, da meine häusliche Lebensart Einschränkungen, wenig wesentliche Nutzbarkeiten, und eine faule, oft eckle Ruhe hatte. Am wenigsten endlich als Autor, wo ich ein Gerücht erregt hatte, das meinem Stande eben so nachtheilig, als meiner Person empfindlich war. Alles also war mir zuwider. Muth und Kräfte gnug hatte ich nicht, alle diese Mißsituationen zu zerstören, und mich ganz in eine andre Laufbahn hineinzuschwingen. Ich muste also reisen: und da ich an der Möglichkeit hiezu verzweifelte, so schleunig, übertäubend, und fast abentheuerlich reisen, als ich konnte. So wars. Den 4/15 Mai Examen: d. 5/16 renoncirt: d. 9/20 Erlaßung erhalten d. 10/21 die letzte Amtsverrichtung: d. 13/24 Einladung von der Krone: d. 17/28 Abschiedspredigt, d. 23/3 aus Riga d. 25/5 in See.

Jeder Abschied ist betäubend. Man denkt und empfindet weniger, als man glaubte: die Thätigkeit in die unsre Seele sich auf ihre eigne weitere Laufbahn wirft, überwindet die Empfindbarkeit über das, was man verläßt, und wenn insonderheit der Abschied lange dauret: so wird er so ermüdend, als im Kaufmann zu London. Nur denn aber erstlich siehet man, wie man Situationen hätte nutzen können, die man nicht genutzt hat: und so hatte ich mir jetzt schön sagen: ei! wenn du die Bibliothek beßer genutzt hättest? wenn du in jedem, das dir oblag, dir zum Vergnügen, ein System entworfen hättest? in der Geschichte einzelner Reiche – – Gott! wie nutzbar, wenn es Hauptbeschäftigung gewesen wäre! in der Mathematik – – wie unendlich fruchtbar, von da aus, aus jedem Theile derselben, gründlich übersehen, und mit den reellsten Kän[n]tnißen begründet, auf die Wißenschaften hinauszusehen! – – in der Physik und Naturgeschichte – – wie, wenn das Studium mit Büchern, Kupferstichen und Beispielen, so aufgeklärt wäre, als ich sie hätte haben können – und die Französische Sprache mit alle diesem verbunden und zum Hauptzwecke gemacht! und von da aus also die Henaults, die Vellys, die Montesquieu, die Voltaire, die St. Marcs, die La Combe, die Coyers, die St. Reals, die Duclos, die Linguets und selbst die Hume's französisch studirt: von da aus, die Buffons, die D'Alemberts, die Maupertuis, die La Caille, die Eulers, [...]

Johann Wolfgang von Goethe an J. G. Herder

Konstanz, 5. 6. 1788 [?]

Daß ich von Constanz an dich nach Rom zu schreiben habe, ist wohl eine seltsame Sache, die mir noch völlig den Kopf verwirren könnte. Gestern Abend lese ich in der Vaterlandschronik, du seiest wirklich mit Dalbergen verreist. Ich glaube es und ergebe mich drein, ob es gleich für mich ein sehr harter Fall ist. Reise glücklich und erbrich den Brief gesund, da wo ich in meinem Leben das erstemal unbedingt glücklich war. Angelika wird dir ihn geben. Vielleicht erhältst du zu gleicher Zeit noch einen; denn ich schreibe gleich, wenn ich nach Hause komme, und Ihr haltet Euch wohl auf.

Wenn Ihr einen Antiquar braucht, wie Ihr denn einen braucht, so nehmt einen Deutschen, der Hirt heißt. Er ist ein Pedante, weiß aber viel und wird jedem Fremden nützlich sein. Er nimmt des Tages mit einem Zechin vorlieb. Wenn Ihr ihm etwas mehr gebt, so wird er dankbar sein. Er ist übrigens ein durchaus redlicher Mensch. Alsdann suche einen jungen Maler Bury incontro Rondanini, den ich lieb habe, und laß dir die farbigen Zeichnungen weisen, die er jetzt nach Carrache macht. Er arbeitet sehr brav. Mache, daß sie Dalberg sieht und etwas bestellt. Dieser junge Mensch ist gar brav und gut, und wenn du etwa das Museum oder sonst eine wichtige Sammlung mit ihm, zum zweitenmal, aber NB. allein sehen willst, so wird es dir Freude machen und Nutzen schaffen. Er ist kein großer Redner, besonders vor mehreren. Meyer, der Schweizer, ist, furchte ich, schon in Neapel. Wo er auch sei, mußt du ihn kennen lernen.

Ich weiß nicht, ob ich wache oder träume, da ich dir dieses schreibe. Es ist eine starke Prüfung, die über mich ergeht. Lebe wohl, genieße, was dir beschert ist. Einer meiner angelegentlichsten Wünsche ist erfüllt.

Wenn du nach Castell-Gandolfo kommst, so frage nach einer Pinie, die nicht weit von Herrn Jenkins' Haus, nicht weit vom kleinen Theater steht. Diese hatte ich in den Augen, als ich dich so sehnlich wünschte. Lebe wohl. Ich gehe zu den Deinigen, und will ihnen die Zeit deiner Abwesenheit verleben helfen.

G.

Wahrscheinlich wird Euch Hofrat Reiffenstein an einige Orte führen. Ich empfehle Hirten also zum Supplemente.

Moritzen mußt du auch sehen. Du wirst noch andere finden: Lips etc.

J. G. Herder an Herzogin Anna Amalia

Weimar, Mitte Juni 1788

Warum haben Sie mir nicht, gnädigste Herzogin, mit Ihrer schönen Italienischen Übersetzung der Lira zugleich etwas Italienischen Geist ins Couvert eingesiegelt, Ihnen Italienisch danken zu können; statt dessen, daß ich jetzt das liebliche, harmonische Blatt mit Bewunderung und etwas Neide lese, daß ich dagegen ein so barbarischer, Deutscher Ignorant bin. Indessen studiere ich seit ehegestern die Sprache, wie es sich tun läßt, und sehe den Zuruf der Lira eben auch als eine Stimme an, die mich dazu freundlich einladet. Ich will sie lesen u. wiederlesen, auch morgen die kleine Nachtigall in Manheim damit erfreuen. Haben Euer Durchl. für den süßen Enthusiasmus Dank, der darin herrschet: im schönen Lande jenseits der Alpen

– – – wo die Zitronen blühn,

hoffe ich Ihnen Italienisch, und also anmutiger danken zu können, als hier hinter der Peter- u. Paulskirche. Vorher aber hoffe ich es nächstens in Tiefurt tun zu können. – Die Fr. v. Dieden u. der Prinz August müssen durch Euer Durchl. Gnade doch ja auch die Musik des kleinen Ritters Valdimonte (so haben wir ihn übersetzt) hören. Ich empfehle mich zu E. D. Gnade

Herder.

J. G. Herder an Christian Gottlob Heyne

Weimar, 22. 6. 1788

Liebster Freund,

Die Zeitungen werden Ihnen, nicht nur sehr zu frühe, sondern auch mir sehr unlieb, gemeldet haben, daß ich nach Italien reise. Reisen mußte ich, wenn es auch auf den Walfischfang gewesen wäre, u. da diese Gelegenheit u. Anerbietung kam, sahe ich sie als einen Wink des Schicksals an, den ich nicht ausschlagen durfte. Wozu ich reise? wird die Zeit selbst negativ oder positiv zeigen: ich lasse ihr gern ihren Lauf u. will den guten Göttern nicht vorgreifen; ich hoffe aber das Letzte, oder vielmehr ich bin dessen gewiß, da doch alles Nichts ein Nichts ist. Wie angenehm, unterrichtend, ja gewissermaßen notwendig wäre es, wenn ich erst zu Ihnen nach G[öttingen] käme; ich habe im Ernst daran gedacht, den Gedanken aber sogleich verworfen. Meine Zeit ist beschränkt; ich weiß nicht, wie ich hier mit meinem Bündel zurecht kommen will; eilen müssen wir, weil wir durch die Schweiz ziehen, u. in der Provence uns zuerst erholen wollen, ehe uns, wie es die Reisende über die Alpen sonst zu genießen pflegen, das stolze Rom verschlingt; also kann ich nicht säumen, u. wie sehr haben wirs mit unsern Sitten, in unsrer Lebensweise darauf eingerichtet, daß wir uns nur immer in einem »minimum« genießen u. kosten! – Also das herzlichste Lebewohl, liebster, treuer, alter Freund, Sie am Ufer der Leine, u. ich wo ich sein möge. Haben Sie Aufträge für mich, wollen Sie mir Gesichtspunkte, Ideen, Aussichten geben, finden Sie es gut, wie ichs freilich gut fände, daß Sie mich nach Ihrer weiten Bekanntschaft in den dortigen Gegenden an einige Menschen, die mir nützlich sein können, empfehlen: so tun Sie, was Ihnen Ihr Sinn u. Herz gebietet. Alles aber ohne Zwang: denn mir ists ganz gleichgültig, wenn ich auch den u. den u. den nicht sehe; was ich sehen, u. einst gesehen haben will, sehe ich doch, u. was mir daher gewährt sein soll, ist in der Götter Händen. Mir selbst, so nahe ich dran bin, scheinet die Reise noch wie eine Fabel. So wird sie es auch sein, wenn sie vorüber ist: denn wie schnell vergehen einige Monate, in welchen wir uns wie Würmer einige Schritte weit zu Hause hingekrümmt u. am Ende doch nichts anders getan, als gemüht u. verdauet hätten – nun mögen sie auf andre Weise wie Schatten vorbeigehn. Die Augen will ich indessen auftun, u. dies schmale Interstitium mit Sorgfalt u. Muße gebrauchen. Ich weiß, Sie wünschen mir sodann eine glückliche Rückkehr, u. ich mir sodann einige Augenblicke oder Stunden, Sie sprechen zu können. Die Bücher, die ich von der Bibliothek habe, schicke ich an dem Ort, der Göttingen am nächsten ist, zu Ihnen, u. sage Ihnen sodann noch dankbar das letzte Lebewohl. [ . . . ] Leben Sie wohl, lieber Patriarch der Künste, bald schreibe ich Ihnen noch einige Zeilen. Überdenken Sie indessen etwas, ob Sie mir etwas mitzugeben haben. [...]