27 April 2022

Manès Sperber: Bis man mir Scherben auf die Augen legt (Autobiographie)

 Manès Sperber

Wie eine Träne im Ozean (Romantrilogie)

Zitate daraus nach "Bis man mir Scherben auf die Augen legt":

"Als ich mit dem Kommunismus brach, geschah es auch seinethalb, denn der Gedanke, dass ich auf der Seite seiner Mörder bleiben sollte, war mir unerträglich geworden. Ich fühlte fast körperlich Djukas* Nähe, als ich den 'Verbrannten Dornbusch' zu schreiben begann; einer der wesentlichen Figuren dieses Romans, Vasso Militsch, habe ich manche seiner Züge verliehen. Vasso denkt sich in der Zelle Briefe aus, die er nie schreiben wird; in einem von ihnen heißt es: 'Wenn ich tot sein werde, wird dein Leben aufhören. Es wird dein Überleben beginnen, in dem ich mitbegriffen sein werde… Mein Leben wird nur gerechtfertigt sein, wenn du meinem Tod einen Sinn gibst." (Bis man mir Scherben auf die Augen legt, S. 35)

Đuro Cvijić Duka (Pseudonym: Krešić; Zagreb, 25. März 1896 - Moskau, 26. April 1938) war ein kroatischer Revolutionär, einer der Führer der sozialdemokratischen und kommunistischen Bewegung, politischer Sekretär der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, Initiator der Borba und einer der besten kommunistischen Journalisten. Als Gymnasiast beteiligte er sich am Attentat auf den kroatischen Ban Cuvaj. Wegen seiner revolutionären Aktivitäten wurde er mehrfach verhaftet. In den 1920er Jahren war Đuka Cvijić der Anführer der sogenannten die "linke Fraktion" in der KPJ, die seit langem als Repräsentant der Komintern gilt.[2] In den 1930er Jahren wurde er aufgrund eines Konflikts mit der Führung aus der CPY ausgeschlossen. Er wurde zusammen mit seinem Bruder Stjepan und anderen prominenten jugoslawischen Kommunisten während der stalinistischen Säuberungen getötet." (kroatische Wikipedia, Maschinenübersetzung)

All das Vergangene. (Autobiographie)
  • Die Wasserträger Gottes. (1974)
  • Die vergebliche Warnung. (1975)
  • Bis man mir Scherben auf die Augen legt. (1977)

Zitate:
"Ich war nicht ein Emigrant, Wien war für mich nicht ein Asyl, sondern die Heimat, in die ich nun zurückkehrte, da mir Berlin – wohl für einige Zeit – verloren, verschlossen bleiben mußte. [...]
An diesem Tag, dem 24. April 1933, begann ihre Emigration. Gewiß hatten sie in Berlin Bekannte und Freunde unter jenen politischen Flüchtlingen, die seit 1919 aus Rußland, Ungarn, Italien oder aus Polen in Deutschland ein Asyl gefunden hatten. Für einige Wochen oder Monate nur, hieß es zuerst, bis der Spuk zu Hause zerstoben und die Heimkehr möglich sein würde. Die beredten, ja aufgeräumten Emigranten in meinem Coupé erwogen offenbar nicht einen Augenblick lang, daß auch in ihrem Lande der Spuk dauerhaft werden und ihr Schicksal dem jener Flüchtlinge gleichen könnte." (S.6) 

"Angesichts des Feindes diskutiert man nicht, wann gehorcht der Führung" (S. 24)
"[...] hinter alldem ging es um den Stalinschen Monolithismus, darum, dass selbst im letzten montenigrinschen Dorf niemand, der sich Kommunist nannte, auch nur um Haaresbreite von der Linie abwich, die Moskau allein bestimmte und von einem Tag auf den anderen völlig ändern, ja umkehren mochte." (S. 24)
Ein Name aber ragte hervor: Miroslav Krleža. Der ihn trug, war sehr früh berühmt geworden; ihn kannten alle, er blieb in jeder Zeile unverkennbar. Auf ihn berief sich die Partei insgeheim, wo immer sie sein Prestige nutzen konnte, denn seinethalben kamen junge Intellektuelle zum Kommunismus. [...] mit dem unter dem Titel 'Kroatischer Gott Mars' nach dem Krieg erschienenen Erzählungen errang Krleža eine einzigartige Position in der kroatischen serbo-kroatischen Literatur, die er bis auf den Tag bewahrt hat." (S. 25) 
"Karl Kraus, Jaroslaw Hašek und Miroslav Krleža enthüllten das Gesicht der Weltkriegsmacher so, daß es einer von Gelächter und Todeskampf geschüttelten Fratze glich." (S. 26)
" 'Alle Zeichen deuten auf eines hin: dass in allernächster Zukunft gewaltsame Klassenkämpfe zu erwarten sind.' Das erklärte wörtlich die Führung der KPD, das glaubten jene unter uns, die mit kurzen Fristen rechneten.
Auch wer diesen Optimisten nicht zustimmte, widersprach nicht energisch genug, denn keiner von uns konnte sich vorstellen, dass Hitlers Regime die Arbeitslosigkeit auch nur erheblich vermindern würde. [...] 
Inzwischen waren die Konzentrationslager errichtet worden; die Nachrichten, die zuerst nur spärlich durchsickerten, ließen Schlimmstes für das Schicksal der dort Internierten befürchten. Seit sie die Macht ergriffen hatten, verübten die Nazis zwar weniger Morde, als sie selbst angekündigt und wir befürchtet hatten, aber sie demütigten, misshandelten, folterten ihre Gefangenen. Dass die so mächtige Kommunistische Partei Deutschlands mit ihren Millionen Wählern nicht das Allergeringste tun konnte, um den Insassen der Konzlager zu Hilfe zu eilen, zum Beispiel einen einzigen Ausbruch zu organisieren, verstärkte den Eindruck, dass die Folgen der Niederlage die wir am 30. Januar erlitten hatten, viel weiter reichen konnten, als wir wahrhaben wollten, [...]" (S.29)
"Mich geht der Mensch an, so wie er ist und solange er für das, was er tut, die Verantwortung tragen kann. War es ein Verhängnis, dass wir alles als Eventualität vorhersehen konnten und nichts durchschauen sollten von alledem, was uns solch unnennbares Unglück und so vielen den verfrühten, gewaltsamen Tod bringen sollte? Doch was soll mir das Wort 'Verhängnis' – ein Wort aus Schauerdramen. Wir sind dagewesen, Und selbst jene, die nur Zeugen sein wollten, sind mitverantwortlich. Das Recht auf Gleichgültigkeit ist nicht unverbrüchlich, ebenso wenig das Recht auf Unwissenheit." (S.31)
"Beno war viel älter als ich, ich war auch jünger als Dora. Nun aber bin ich sehr viel älter als beide – ja, als wäre ich ihr Vater geworden. Diese fortdauernde Beziehung zu ihr wie zu ihm ist ein Teil meines Verhältnisses zu mir selbst geworden. Und ich weiß seit langem, dass solch Überleben das Dasein gefährden kann. Auch deshalb schrieb ich einmal den nur scheinbar pathetischen Satz: 'Wir werden zu den wandelnden Friedhöfen unserer ermordeten Freunde werden.'" (S. 32)
"Natürlich hat auch er sich oft genug geirrt, wie es einem jeden widerfährt, der politische Meinungen fasst und der Notwendigkeit nicht ausweichen darf, schicksalshafte Entscheidungen zu treffen." Seite 33
"Auch dadurch, dass er recht behielt ist Dukas Schicksal besiegelt worden: Er wurde einige Zeit später nach Russland gerufen und als einer der ersten unter den jugoslawischen Kommu/nisten ohne Prozess durch die GPU ermordet. [...] als ich mit dem Kommunismus brach, geschah es auch seinethalben, denn der Gedanke dass ich auf der Seite seiner Mörder bleiben sollte war unerträglich geworden.( S. 34/35)
"Wir begriffen dass die Gefangenen Ustaschi waren, die man wegen des versuchten Mords an König Tag und Nacht in Dörfern und Wäldern gesucht hatte, und dass ihre Flucht nun zu/ Ende war. Als der Zug in der Nebengasse verschwunden war, blieben wir wie angewurzelt stehen. Nicht nur das Mitleid mit den jungen Gefangenen war es, das uns überwältigte, obschon wir wussten, dass sie uns noch mehr als ihre Verfolger hassten und dass ihre Partei, käme sie zur Macht uns ohne Zögern ausschalten würde. Nein, nicht nur das Mitgefühl mit gefolterten Menschen ließ uns erstarren, sondern die Gewissheit, dass ihre Ermordung so viele andere, sinnlose noch weit grausamere Gewalttaten entfesseln würde. (S. 36/37)
"In meiner Erinnerung ist diese Begegnung mit der Empfindung durchdringender, feuchter Kälte verknüpft, als wenn Regenschauer pausenlos als auf mich niedergegangen wären, und mit dem Gefühl, dass ich mich niemals von dem logisch leicht auflösbaren Widerspruch befreien würde, von dem inneren Zwang, mich mit den Opfern zu identifizieren, indes ich sie politisch verurteilte und ihre an erzogene Mordwut verabscheute." (S.37)

Über den spanischen Bürgerkrieg:
Das 'No pasaran!' des belagerten Madrid, das bis zuletzt aushielt, war begeisternd, aber nicht für den Westen, der entschlossen war, nichts zu tun, was ihn in einen Krieg verwickeln könnte. Die Politik der Nichtintervention, welche die Republik an Franco und seine Alliierten auslieferte, missfiel der Mehrheit der Bevölkerung im noch freien Europa und beruhigte sie zugleich. Denn in Wirklichkeit wollten alle den Frieden bewahren – um jeden Preis. Fast um jeden Preis.
Und da erwies es sich, dass wir recht hatten, wir, die trotz aller Zweifel der Sowjetunion treu geblieben waren. Sie war nicht neutral, sie allein lieferte der republikanischen Armee und den internationalen Brigaden Panzer, Kanonen und Flugzeuge. Konnte man darüber aber die Moskauer Prozesse vergessen, in denen Sinowjew, Kamenjew und andere Bolschewiken selbstverleugnende Selbstanklagen erhoben, deren Haltlosigkeit jedem, der sich nicht verblenden lassen wollte, in die Augen sprang? Gleichzeitig kamen Berichte aus der Sowjetunion darüber, dass täglich zahllose Menschen gegen Ende der Nacht aus ihren Wohnungen geholt worden und verschwanden: Emigran/ten, alte deutsche Kommunisten wurden als Gestapospitzel, als Spione und Saboteure enthüllt, die gegen Stalin, Molotow und andere Attentate vorbereitet hatten; auch sie verschwanden spurlos." (S.112/113) 
"Johannes R Becher, der aus der Pariser Emigration nach Moskau geholt worden war, aber von Zeit zu Zeit in Frankreich auftauchte, schilderte in einem Anfall von Zynismus, der sich bei ihm zuweilen geistreich mit Galgenhumor verband, Anna Seghers und mir, wie Genossen, insbesondere die Funktionäre der deutschen kommunistischen Partei, im Moskauer Hotel Lux lebten: jeder darauf bedacht, sich nicht durch den Verkehr mit einem Freund zu kompromittieren, den man vielleicht in der Nacht darauf abholen würde. Im übrigen waren alle ständig bemüht, nur ja nicht aufzufallen. ''Man hört den Donner rollen, jeder zieht den Kopf ein, macht sich klein bis zur Unsichtbarkeit und hofft, dass es beim Nachbarn einschlägt. Ist es vorbei dann wagt man wieder frei zu atmen. Doch ist's es nur für eine Nacht vorbei… Man lebt in der ständigen Angst – alle, nur nicht der Genosse Pieck. [...] 
Gleichzeitig wurde in Nazideutschland und in Russland pausenlos durch Rundfunk und Presse, in Worten und Musik verkündet, dass 'das Leben bei uns so fröhlich ist wie nie vorher'. 
André Gide, der im Spätsommer von einer langen Reise durch die Sowjetunion zurückgekehrt war, berichtete in zwei Büchern [...] Jedes Mal, wenn er öffentlich oder privat vom Bürgerkrieg in Spanien sprach, antwortete ihm ein betretenes Schweigen oder eine leere Formel. Noch hatte Stalin nicht entschieden, [...]" (S. 113)
"Ich wusste, dass Süchtigkeit eine der verhängnisvollsten, die Urteilsfähigkeit und den geistigen Anstand äußerst gefährdenden Krankheiten ist, doch erkannte ich damals nicht, dass das Bedürfnis zu hoffen sich in eine nicht weniger zwingende, gefährliche Sucht verwandeln kann. Ja, ich war hoffnungssüchtig, deshalb bewahrte meine Skepsis mich davor so wenig, wie seine Erfahrung im langjährigen Umgang mit Narkomanen den giftsüchtigen Arzt heilt." (S.114)
Am 9.2.1937 wurde Arthur Koestler von Frankisten verhaftet. Er war gewarnt worden, "doch im letz/ten Augenblick war er aus dem rettenden Wagen abgesprungen und in das Haus zurückgekehrt" (S.117/18)
"In jenen Stunden wurde ich Koestlers Freund. Ich nahm mir vor, ihn allein, kam er mit dem Leben davon, in meinen Plan einzuweihen: mich vom Jugendkomité und von der Partei zurückzuziehen, mit der Partei zu brechen, vorderhand wortlos –/ sofern dies möglich war. Und damit es gelinge, hatte ich beschlossen Paris zu verlassen, nach Wien zurückzukehren und dort, abseits aller Politik, neu anzufangen.
In seinem 'Spanischen Testament' hat Köstler alles, was er damals erlitten und worüber er in der Todeszelle meditiert hat, in vorbildlicher Weise dargelegt. Als er nach Paris zurückkehrte, empfand auch eher, dass unsere Freundschaft für ihn wie für mich an Bedeutung gewonnen hatte. Was uns verband, waren nicht Erfolge, sondern das Leiden an der Zeit, an der mörderischen Maßlosigkeit von Lüge und Gewalt und schließlich der Wille zum Widerstand gegen alle ideologisch maskierte Niedertracht.
Wir waren beide im 32. Lebensjahr, beide in mehr als einem Sinne heimatlos, überaus empfindlich, doch abgehärtet gegenüber Schlägen und Entbehrungen, gegen die gefährliche Lockung von Erfolgen sowie gegen die Eingebungen der Einsamkeit." (S. 118/119)

"Da es mir psychisch unmöglich war, mich ganz vom Deutschen zu lösen, entschloss ich mich notgedrungen, ein zweisprachiger Schriftsteller zu werden – die Romane deutsch, die Essays hauptsächlich französisch zu schreiben. [...] diese Situation mag vorteilhaft erscheinen, sie ist es keineswegs. Wohl dem, der nur in einer einzigen Sprache fühlt, denkt und schreibt, selbst wenn er mehrere Sprachen beherrscht. [...]
1946 ließ Sperber als Lektor für seinen Verlag Calmann-Lévy einige deutsche Romane ins Französische übersetzen:
Während ich die von ausgezeichneten Germanisten besorgten Übertragungen überprüfte, stellte ich mit Staunen, ja mit Entsetzen fest, wie wenig kongenial die beiden Sprachen sind, so dass sie einander hoffnungslos fremd bleiben. Deshalb erstaunt es mich nicht, dass was immer ich in der einen schrieb, mir selber fremd erschien, sobald ich es In die andere Sprache zu übersetzen begann. Die sprachliche/ Bigamie bringt gewiss auch viele Vorteile, aber ich mag sie nicht. Es sind die Vorteile eines schicksalhaft Nachteils: der Entwurzeltheit.

Französisch wurde meine Sprache in jener äußerst schwierigen Situation, als ich darauf achten musste, kein deutsches Wort auszusprechen, wenn etwa gegen Ende der Nacht Polizei bei mir anklopfen sollte, und keinen Schmerzensschrei in einer anderen Sprache als der französischen auszustoßen. Damals, nach dem Debakel und besonders seit 1941 wurde Französisch meine Traum-Sprache. Aber es vergingen noch mehrere Jahre, ehe ich mich entschloss, Französisch zu schreiben, da ich bis dahin nur das als authentisch empfand, was sich mir in deutscher Sprache gleichsam aufdrängte." (S.271/72)

"In Wahrheit stellt der Autor an sich selbst und an seine Leser/ den Überanspruch, jedes neue Werk als ein neues Beginnen und gleichermaßen als eine letzte Vollendung anzuerkennen. Dieser maßlose Anspruch verrät, wie wenig er des eigenen Urteils und des Urteils der anderen sicher ist. Denn es ist nicht Selbstsicherheit und nicht das Zutrauen zu einer ererbten oder errungenen Gewissheit, die zum Schreiben drängt, sondern fast immer eine unerträgliche gewordene alte oder neue Ungewissheit, die zuweilen schmerzlich empfundene Notwendigkeit, mit sich selbst ins Reine und so endlich zu sich selbst zu kommen." (S.275/76)

Das erklärt auch, weshalb Autoren Literaturkritikern gegenüber, die ihr neuestes Werk loben sehr aufgeschlossen sind und mit Kritikern, die vielleicht alte Werke gelobt haben, aber das neuste kritisieren, nicht gut zurechtkommen. Marcel Reich-Ranicki hat dieses Phänomen als extreme Eitelkeit von Autoren gedeutet; die Erläuterung, dass es an der Unsicherheit des auf eine neue Phase zugehenden kreativen Menschen liegen könnte, spricht mich persönlich mehr an. 
Man denke, ein Kritiker hätte Goethe darauf aufmerksam gemacht, wie viel steifer sein Tasso gegenüber seinem Werther sei. Goethe hätte das gewiss nicht zu schätzen gewusst. Und das nicht ohne Berechtigung. 
Der bekannteste Fall ist wohl Thomas Mann, der es nicht zu schätzen wusste, dass man ihm dem über 50jährigen den Nobelpreis für die Buddenbrooks, das Werk eines 25jährigen, und nicht für die Werke seiner Reifezeit. verliehen hat. (Fontanefan)

Epilog
"[...] Mit den Jahren bin ich dem Tod, diesem nicht endenwollenden Skandal gegenüber toleranter geworden; ich finde mich ohne Widerstreben damit ab, dass alte Menschen sterben. Hingegen ruft das Ableben junger Menschen in mir eine schmerzhafte Empörung, eine tiefe Trauer und ein stummes Gefühl missbrauchter Wehrlosigkeit hervor. Auch deswegen bewirkt der Gedanke an die nekrologische Fußnote, die meine Erinnerungen an 'All das Vergangene ...' eines Tages endgültig abschließen wird, mit keinerlei Gemütsbewegung: ich werde als alter Mann sterben. [...] 
Auch wir sind ja nicht klüger, als es die Juden oder die Griechen der Antike waren, und obschon wir viel reicher sind an Wissen und Erfahrungen, begehen wir keineswegs weniger Fehler im Denken und Urteilen, im individuellen und politischen Tun. [...] 
Damals schon drängte sich mir die scheinbar so banale, doch in der Tat beunruhigende Wahrheit auf: Nichts hat mit uns begonnen, nichts wird mit uns enden. Ja, und das meine ich, wenn ich von meinem Glauben an die kleine irdische Ewigkeit alles Menschlichen spreche." (S.278-280)

24 April 2022

Stifter: Feldblumen

 "Vor dem Hohlspiegel unsrer Sinne hängt nur das Luftbild einer Welt, die wahre hat Gott allein.(S.54) [...]

Oft und oft, wenn ich die ewigen Sterne sah, diese glänzenden Tropfen, von dem äußeren, großen Weltenozeane[55] auf das innere, blaue Glöcklein hereingespritzt, das man über uns Infusionstierchen gedeckt hat – wenn ich sie sah und mir auf ihnen dachte dieses Unmaß von Kräften und Wirkungen, die zu sehen und zu lieben ich hienieden ewig ausgeschlossen bin; so fühlte ich mich fürchterlich einsam auf der Insel ›Erde‹ – – und sind denn nicht die Herzen eben so einsam in der Insel ›Körper‹? Können sie einander mehr zusenden, als manchen Strahl, der noch dazu nicht immer so freundlich funkelt, als der von den schönen Sternen? Wie jene Herzen des Himmels durch ein einziges, ungeheures Band verbunden sind, durch die Schwerkraft, sollten auch die Herzen der Erde verbunden sein durch ein einziges, ungeheures Band – die Liebe – – aber sind sie es immer??

Noch sind Kriege, noch ist Reichtum und Armut. [...] (Glockenblume)
Der Tagebuchschreiber sieht zunächst von hinten eine Frau. Als er sie anspricht und sie ihm ihr Gesicht zeigt, sieht er alle Schönheiten, die er vorher bewundert hat, von ihr übertroffen.

"Ob ich in sie verliebt wurde? – Nein, in diese war ich es seit meinem ganzen Leben schon gewesen. [...]" (Nachtviole

"[...] Das Allerverkehrteste ist aber das, daß meine unbekannte Südländerin, die stolze Zenobia, nichts weniger als eine Südländerin ist, sondern die russische Fürstin Fodor. " Sein Malerfreund Lothar hat den Auftrag bekommen, sie zu malen, und hat dem Tagebuchschreiber nebenbei ein kleines Bild von ihr gemalt und ihm geschenkt. "[...] die Fürstin soll hart und alt sein und von dem echtesten Ahnenstolze besessen; ich aber hatte alle Weichheit und Güte der schönsten Seele in die Züge dieses Bildes getragen. – Wenn sie längst in ihrem Norden ist, dann nehme ich erst das Bild echt her und dichte ihm alles an, was mir nur immer beliebt – ich wüßte nicht, wer mirs wehren könnte!" (Wiesenbocksbart)


Stifters Metaphernflut in "Feldblumen"

 "[...] Ich habe mein Modell wieder gesehen. Sie ist noch immer dieselbe. Aus Zufall sah ich sie mit ihrer Mutter in die Annenkirche gehen, und ich ging dann auch hinein. Sollte ich sie hier öfter sehen können, so will ich suchen, mir ihre Züge zu stehlen und in einer glücklichen Stunde auf die Leinwand zu werfen; dann sende ich Dir ein Miniaturbild davon für deine Sammlung schöner Menschenköpfe. [...] [41] Noch muß ich Dir sagen, ehe ich schließe, daß ich gestern wieder einmal recht spazieren war, so zu sagen unendlich, auf allen Landen herum, um Heerschau über alle Schönheiten zu halten, über lebende und leblose. Da waren die lichten, klaren, glänzenden Lüfte mit den wunderlichen Aprilwolken voll Sonnenblicken – das Zittern der anbrütenden Lenzwärme über den noch schwarzen Feldern – die schönen, grünen Streifen der Wintersaat dazwischen; – dann waren die rötlich fahlen Wälder, die an den Bergen hinanziehen, mit dem sanften, blauen Lufthauch darüber, und überall auf der farblosen Erde die geputzten Menschen wandelnd, die so gern die ersten Strahlen der schwachen Lenzsonne und der reinen Luft genießen wollten. Eine Mutter sah ich mit mehreren schönen Töchtern, die sehr jung waren und in allen Abstufungen bis zur Kindheit herab auf den lieben, runden Wangen das Rot der Unschuld und Gesundheit trugen, welches Rot noch röter wurde, als ich sie unversehens anblickte. Ich habe diese Gattung Scham so gern – gleichsam rotseidne Vorhänge zieht die junge Seele plötzlich vor dem fremden Auge über, das unberufen will hineinsehen. [...] Da dachte ich so, wie denn Gott mit den Linien und Formen des Menschenangesichts so eigen und am wunderbarsten den Geist der Schönheit verband, daß wir so mit Liebe hineinsehen und von Rührung getroffen werden; – aber kein Mensch, dachte ich, kann eigentlich dieses wundervolle Titelblatt der Seele so verstehen als ein Künstler, ein echter, rechter, wie er uns beiden oft im Ideale vorschwebte; denn der Weltmensch schaut nur oberflächlich[42] oder selbstsüchtig, und der Verliebte verfälscht, nur zu sehr am irdischen Geschöpfe hangend; aber der reine, einfältige Meister in seiner Werkstätte, tagelang denselben zwei Augen gegenüber, die er bildet und rundet, – der sieht den Finger Gottes aus den toten Farben wachsen, und was er doch selber gemacht hat, scheint ihm nun nicht bloß ein fremdes Gesicht, sondern auch eine fremde Seele, der er Achtung schuldig ist, – und öfters mag es geschehen, daß mit einem leichten ungefähren Zug des Pinsels plötzlich ein neuer Engel in die Züge tritt, davor er fast erschrickt und von Sehnsucht überkommen wird. Ferner dachte ich an Galerien, wo die Augen und Wangen längst vergangener Geschlechter noch immer ihre Freude und ihr Weh erzählen – – – – dann dachte ich an unser eignes Sterben und an den Glanz derer, die nachher sein werden – – und in dem Fortspinnen desselben düster schönen Gedankens zog ich die sanften Fäden planlosen Phantasierens um mein Haupt und über die große, stille Landschaft vor mir, – ich ging herum ins Weite und Breite und ließ von Gedanken und Phantasieen kommen, was da wollte. Ach! ein sanftes Eden liegt im Menschenherzen, und es blühen darin leuchtende und dunkle Blumen. Meine gewöhnliche Frühlingstrauer stellte sich ein. Ich weiß nicht, ob die schönen allerersten Frühlingstage auch andere traurig machen. Ist es etwa die Ruhe nach den Winterstürmen, die lächelnd in der ungeheuern Bläue liegt, und darunter auch ruhig die tote Erde und das schwarze Baumgitter, das des Keimens harrt – oder ist es physischer Einfluß der weichen Luft nach der Winterhärte, oder beides? – – – [...] Weithin über den Horizont Ungarns schweiften trübe, gedehnte Streifen – der Abend kam endlich – ein weißlicher Rauch trank die Stadt ein – Frühlingsabenddünste beschmutzten das Gold des Himmels, und ein dumpfer, roter Mond kämpfte sich langsam herauf. – Ich aber[43] dachte und dachte- – so geht es immer – und so geht es immer." (Stifter: Feldblumen, 1. Kap.  Primel, S.40-42)

So geht es weiter und weiter. 

"[...] der Vorstadtturm wirft goldne Funken, und ein ferner Taubenflug läßt aus dem Blau zu Zeiten weiße Schwenkungen vortauchen. [...] Wünsche meines Herzens stehen auf [...] endlich jene Farben zu erhaschen, die mir ewig im Gemüte schweben und nachts durch meine Träume dämmern – ach, jene Wunder, die in Wüsten prangen, über Ozeanen schweben und den Gottesdienst der Alpen feiern helfen [...] Mondenschein wäre, der im Gegensatze zu dem trübgelben Erze meines Lampenlichtes schöne, weiße Lilientafeln draußen auf die Wände legte, durch das Gezweig spielte, über die Steinbilder glitte und Silbermosaik auf den Fußboden setzte [...] gleichsam durch tausend Himmel[45] zurückgeworfene Milchstraßen [...] wir schauten gegenseitig in unsere Herzen, die auch ein Abgrund sind, wie der Himmel, aber auch einer voll lauter Licht und Liebe, nur einige Nebelflecke abgerechnet; [...]" (Stifter Feldblumen Kap. 2 Veilchen)

Ich versuche, geläufige Metaphern zu übergehen, doch wenn die ungewöhnlichen in ihrem Zusammenhang verstehen will, kann man die vertrauten nicht immer auslassen.


23 April 2022

Stifter: Condor - Die Verbannung der Metapher

Stifters frühe Erzählungen sind voll von Gefühlen und Metaphern. Insofern folgt er Jean Paul.

"Sie drückte ihre Hände nur noch fester gegen das Gesicht,[28] und nur noch heißer und nur noch reichlicher flossen die Tränen hervor.

Ihm aber – – wie war ihm denn? Angst des Todes war es über diese Tränen, und dennoch rollte jede wie eine Perle jauchzenden Entzückens über sein Herz – – wo ist die Schlange am Fenster hin? wo der drückende blaue Himmel? – Ein lachendes Gewölbe sprang über die Welt, und die grünen Bäume wiegten ein Meer von Glanz und Schimmer!

Er hatte noch immer ihren Arm gefaßt, aber er suchte nicht mehr ihn herabzuziehen – sie ward ruhiger – endlich stille. Ohne das Antlitz zu enthüllen, sagte sie leise: »Sie haben mir einst über mein den Männern nachgebildetes Leben ein Freundeswort gesagt,...«

»Lassen wir das,« unterbrach er sie, »es war Torheit, Anmaßung von mir...«

»Nein, nein,« sagte sie, »ich muß reden, ich muß Ihnen sagen, daß es anders werden wird – – ach, ich bin doch nur ein armes, schwaches Weib, wie schwach, wie arm selbst gegen jenen greisen, hinfälligen Mann – – sie erträgt den Himmel nicht! – –«

Hier stockte sie, und wieder wollten Tränen kommen. Der Jüngling zog nun ihre Hände herab; sie folgte, aber der erste Blick, den sie auf ihn tat, machte sie erschrecken, daß plötzlich die Tränen stockten. Wie war er verwandelt! Aus den Locken des Knaben schaute ein gespanntes, ernstes Männerantlitz empor, schimmernd in dem fremden Glanze des tiefsten Fühlens; – aber auch sie war anders: in den stolzen, dunklen Sonnen lag ein Blick der tiefsten Demut, und diese demütigen Sonnen hafteten beide auf ihm, und so weich, so liebreich wie nie – – hingegeben, hilflos, willenlos – sie sahen sich sprachlos an die heiße Lohe des Gefühles wehte – das Herz war ohnmächtig – ein leises Ansichziehen – ein sanftes Folgen und die Lippen schmolzen heiß zusammen, nur noch ein[29] unbestimmter Laut der Stimme – und der seligste Augenblick zweier Menschenleben war gekommen, und – vorüber.

Der Kranz aus Gold und Ebenholz um ihre Häupter hatte sich gelöset, der Funke war gesprungen, und sie beugten sich auseinander – aber die Häupter blickten sich nun nicht an, sondern sahen zur Erde und waren stumm.

Nach langer, langer Pause wagte der Jüngling zuerst ein Wort und sagte gedämpft: »Cornelia, was soll nun dieser Augenblick bedeuten?«

»Das Höchste, was er kann«, erwiderte sie stolz und leise. »Wohl, er ist das Schönste, was mir Gott in meinem Leben vorgezeichnet,« sagte er, »aber hinter der großen Seligkeit ist mir jetzt, als stände ein großer, langer Schmerz – Cornelia – wie werde ich diesen Augenblick vergessen lernen?!«

»Um Gott nicht,« sagte sie erschrocken, »Gustav, lieber, einziger Freund, den allein ich auf dieser weiten Erde hatte, als ich mich verblendet über mein Geschlecht erheben wollte – wir wollen ihn auch nicht vergessen; ich müßte mich hassen, wenn ich es je könnte. – Und auch Sie, bewahren Sie mir in Liebe und Wahrheit Ihr großes, schönes Herz.«

Er schlug nun plötzlich die Augen zu ihr auf, erhob sich von dem Sitze, trat vor sie, ordentlich höher geworden, wie ein starker Mann, und rief: »Vielleicht ist dieses Herz reicher, als ich selber weiß; eben kommt ihm ein Entschluß, der mich selber überrascht, aber er ist gut: meine vorgenommene Reise trete ich sogleich und zwar morgen schon an. – Ich kann noch an das neue Glück nicht glauben – ist es etwa nur ein Moment, ein Blitz, in dem zwei Herzen sich begegneten, und ist es dann wieder Nacht? Laß uns nun sehen, was diese Herzen sind. Verloren kann diese Minute nie sein, aber was sie bringen wird!?[30] Sie bringe, was sie muß und kann – und so gewiß eine Sonne draußen steht, so gewiß wird sie eines Tages die Frucht der heutigen Blume beleuchten, sie sei so oder so – – – ich weiß nur eines, daß draußen eine andere Welt ist, andere Bäume, andere Lüfte – und ich ein anderer Mensch. O Cornelia, hilf mirs sagen, welch ein wundervoller Sternenhimmel in meinem Herzen ist, so selig, leuchtend, glänzend, als sollt‹ ich ihn in Schöpfungen ausströmen, so groß, als das Universum selbst, – aber ach, ich kann es nicht, ich kann ja nicht einmal sagen, wie grenzenlos, wie unaussprechlich und wie ewig ich Sie liebe und lieben will, so lange nur eine Faser dieses Herzens halten mag.«

Cornelia war im höchsten Grade erstaunt über den Jüngling und seine Sprache. – Sie war mit ihm in gleichem Alter, aber sie war eine aufgeblühte, volle Blumeer konnte zu Zeiten fast noch ein Knabe heißen. – Bewußt oder unbewußt hatte sie die Liebe vorzeitig aus ihm gelockt – in einer Minute war er ein Mann geworden; er wurde vor ihren Augen immer schöner, wie Seele und Liebe in sein Gesicht trat, und sie sah ihn mit Entzücken an, wie er vor ihr stand, so schön, so kräftig, schimmernd schon von künftigem Geistesleben und künftiger Geistesgröße, und doch unschuldig wie ein Knabe und unbewußt der göttlichen Flamme Genie, die um seine Scheitel spielte.

Seele kann nur Seele lieben, und Genie nur Genie entzünden.

Cornelia war nun auch aufgestanden, sie hatte ihre schönen Augen zu ihm emporgeschlagen, und alles, was je gut und edel und schön war in ihrem Leben, die unbegrenzte Fülle eines guten Herzens lag in ihrem Lächeln, und sie wußte es nicht, und meinte zu arm zu sein, um dieses Herz lohnen zu können, das sich da vor ihr entfaltete. Er aber versprach sich in diesem Momente innerlich,[31] daß er ringen wolle, so lange ein Hauch des Lebens in ihm sei, bis er geistesgroß und tatengroß vor allen Menschen der Welt dastehe, um ihr nur vergelten zu können, daß sie ihr herrlich Leben an ihn hingebe für kein anderes Pfand, als für sein Herz.

Sie waren mittlerweile an das Fenster getreten, und so sehr jedes innerlich sprach, so stumm und so befangener wurden sie äußerlich. [...]"

Stifter: Condor, Kap3.: Blumenstück

So schrieb Stifter in seinen frühen Erzählungen. In seinen Romanen - in seinem Altersstil - äußern sich seine Liebenden anders.


»Und ich habe schöne Jungfrauen und Mädchen vor dir gesehen, und keine war mir lieb«, sagte Witiko.
»Siehst du?« sprach Bertha.
»Und weil ich dir lieb war, hast du mit mir geredet?« fragte Witiko.
»Weil du mir lieb warst, habe ich mit dir geredet«, antwortete Bertha.
»Und weil ich dir lieb war, bist du mit mir zu den Sitzsteinen an den Ahornen gegangen?« fragte Witiko.
»Weil du mir lieb warst, bin ich mit dir zu den Sitzsteinen an den Ahornen gegangen«, antwortete Bertha.
»Und bist neben mir auf den Steinen gesessen«, sagte Witiko.
»Und bin neben dir auf den Steinen gesessen«, sprach Bertha.
»Und mir bist du so lieb gewesen«, sagte Witiko, »daß ich immer bei dir hätte sitzen, und immer mit dir hätte reden mögen. Du bist heute wie damals gekleidet, Bertha.«
»Es ist das nämliche Gewand, welches ich an jenem Sonntage an gehabt hatte«, antwortete Bertha, »nur das schwarze Röcklein ist mir ein wenig kürzer geworden.«
»Mir ist alles wie in jener Zeit«, sagte Witiko. [...]
Da sie bei den Steinen angekommen waren, sagte Witiko: »Bertha, setze dich nieder.«
»Ich bin auf diesem gesessen«, sagte Bertha.
»So setze dich wieder auf ihn«, sprach Witiko.
Sie tat es.
»Und ich bin neben dir auf diesem gesessen«, sagte Witiko, »er ist niederer, und ich setze mich wieder auf ihn.«
Er tat es.
»Siehst du, Bertha«, sagte er, »unsere Angesichter sind nun wieder in gleicher Höhe, wie damals, da ich dich angeblickt hatte, und da du mich angeblickt hattest.«
»Bist du größer geworden, Witiko?« fragte Bertha.
»Es muß ein wenig sein«, antwortete Witiko, »da ich dir hier wieder gleich bin, und da du gesagt hast, daß dir dein Röcklein kürzer geworden ist. Mein Lederkleid dehnt sich.«
»Und so wie damals ragt dein Schwert in die niedreren Steine«, sagte Bertha, »und in den nämlichen Gewändern sitzen wir hier wie vor sechs Jahren.«
»Nur die Bäume, die jenseits der hellen Wiese stehen, an deren Rande wir sitzen«, sprach Witiko, »glänzen nun im Sonnenscheine, da sie damals im Schatten waren, und die Blätter der Ahorne über uns sind dunkel, die damals geschimmert hatten.« 
(Adalbert Stifter: Witiko)

 

20 April 2022

Adolf Muschg: Der Rote Ritter

Adolf Muschg: Der Rote Ritter habe ich nach meiner Erstlektüre 1993 jetzt wieder in der Hand gehabt. Sigune und Schionatulander fand ich gleich beide sympathisch.
Das Gespräch zwischen Klingschor und Herzeloyde erinnert mich an das Gespräch Adrian Leverkühns mit dem Teufel in Thomas Manns Doktor Faustus, auch hier weiß der Böse so viel mehr als das vergleichsweise naive Gegenüber, so begabt es als als Mensch auch sein mag. 
Zu meiner früheren Lektüre findet sich unter 2011 ein Eintrag

15 April 2022

Niall Ferguson: Doom. Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft

Niall Ferguson: Doom. Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft 


Ferguson liefert - darin sind sich die Rezensionen einig - eine Fülle von Einzelheiten zu allen möglichen Katastrophen, aber kein Instrument, sie vorherzusagen. Das erste hat auch mich enttäuscht. Das zweite versteht sich von selbst. 
Besonders Kapitel 6: 'Die Psychologie der politischen Unfähigkeit'(S.235-278) liefert mir interessante historische Zusammenhänge. So war mir nicht bekannt, dass Churchill die Schuld am Verlust der Schlacht von Singapur 1942 gegeben wurde (S.268) und dass die Schuld an den britischen Verlusten (419654 Tote) bei der Schlacht an der Somme der Strategie von Douglas Haig (mehr Angriff als Verteidigung) angelastet wurde, auch wenn namhafte britische Militärhistoriker ihn verteidigen. 
Dabei interessierte mich besonders der Blick auf den Zusammenbruch von Imperien (S.270ff).

Zitate
John Lipsky: " 'Der Aufbau einer produktiven und verlässlichen Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und China ist das sine qua non für die Stärkung der Institutionen der Global Governance'. Nach Ansicht des früheren stellvertretenden US-Außenminister James Steinberg hat der letzte kalte Krieg 'auf Jahrzehnte hinaus den Schatten eines globalen Holocaust geworfen'." (S.470)
Niall Ferguson: "Als ich 2019 zum ersten Mal auf Konferenzen von einem zweiten Kalten Krieg sprach, widersprach mir zu meiner Verwunderung keiner der chinesischen Teilnehmer. Im September jenes Jahres fragte ich den chinesischen Leiter einer internationalen Institution nach dem Grund. 'Weil ich Ihnen zustimme!', erwiderte er lächelnd.
Als Gastprofessor an der Tsinghua Universität von Peking habe ich die ideologische Wende unter Xi mit eigenen Augen gesehen. Akademiker, die sich kritish mit sensiblen Themen wie der Kulturrevolution beschäftigen, werden Gegenstand von geheimdienstlicher Überwachung oder Schlimmerem. Wer an die Annäherung an China anknüpfen will, sollte den Einfluss von Wang Huning nicht unterschätzen, der seit 2017 dem ständigen Ausschuss des Politbüros angehört und Xis einflussreichster Berater ist. Im August 1988 verbrachte Wang sechs Monate in den Vereinigten Staaten und bereiste mehr als dreißig Städte und zwanzig Universitäten. Sein Bericht America Against America (veröffentlicht 1991) ist eine zum Teil beißende Kritik an der Demokratie, dem Kapitalismus und der Kultur der Vereinigten Staaten; im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht der Rassismus. (S. 471)
"Für Ben Thomsen, Autor des Newsletters Stratechery waren die Ereignisse der Jahre 2019 und 2020 ein Augenöffner. Nachdem er die politische und ideologische Motivation der chinesischen Regierung heruntergespielt hatte, wandelte er sich 2019 zum neuen Kalten Krieger. China habe ein vollkommen anderes Technologieverständnis als der Westen, so Thompson, und es habe die Absicht, seine antifreiheitliche Sichtweise in den Rest der Welt zu exportieren. Als Trump im August 2020 auf ein Verbot der albernen chinesischen App TikTok drängte, stimmte er zu; im Juli hatte er geschrieben: 'Wenn China das freiheitliche Denken nicht nur im eigenen Land angreift, sondern auch bei uns, dann muss es im Interesse des westlichen Liberalismus sein, einen Vektor abzuschneiden, der nur deshalb Wurzeln geschlagen hat, weil er so genial darauf zugeschnitten ist, den Menschen genau das zu geben, was sie wollen.' Um zu verstehen, wie gefährlich es ist, wenn die Hälfte der Jugendlichen in den Vereinigten Staaten ihre persönlichen Daten an eine chinesische App gibt, muss man sich nur ansehen, wie die Kommunistische Partei mithilfe der künstlichen Intelligenz einen Überwachungsstaat aufbaut, neben dem George Orwells Big Brother vorsintflutlich wirkt. (Wie wir sehen werden, hat Xis  Panoptikum mehr gemein mit der Dystopie in Jewgeni Samjatins Roman Wir aus dem Jahr 1920.) [...]
Viele der prominenten KI-Start-ups in China sind 'willige Geschäftspartner'  der Kommunistischen Partei, und das ist schon schlimm genug. Doch wie Andersen deutlich macht. ist diese Technologie zum Export bestimmt, und zu den Käufern gehören Äthiopien, Bolivien, Ekuador, Kenia, Malaysia [...]" (S. 473)
"In einem aufschlussreichen Artikel von April 2020 hatte der Politologe und Juraprofessor Jiang Shigong bereits die Folgen des Niedergangs der Vereinigten Staaten ausbuchstabiert: 'Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte des Konkurrenzkampfes um imperiale Vorherrschaft, der aus den einstmals regionalen immer globalere Reiche gemacht hat und mit einem einzigen großen Weltreich enden wird.' Die Globalisierung ist seiner Ansicht nach das 'Imperium 1.0, ein Modell des Weltreichs, wie es von England und den Vereinigten Staaten geschaffen wurde'. Zitat Ende. Doch das anglo-amerikanische Imperium zerfalle von innen heraus, denn es habe 'drei unlösbare Probleme: die von der liberalen Wirtschaft erzeugte, größer werdende Ungleichheit… Die ineffiziente Regierungsführung des politischen Liberalismus sowie die Dekadenz und der Nihilismus des kulturellen Liberalismus.' [...] Es gehe jedoch nicht darum, ein alternatives eurasisches Imperium zu begründen, sondern um 'den Kampf, die Mitte des Weltimperiums zu werden'. (S.473)
"Eine der vielen Methoden, mit denen die Vereinigten Staaten während des ersten Kalten Krieges die Sowjetunion zu schwächen suchten, war der 'Kalte Kulturkrieg'. Dabei ging es zum Beispiel darum, die Sowjets bei ihrem eigenen Spiel zu schlagen, ob im Schach (Fischer gegen Spasski) [...] Vor allem aber ging es darum, die Menschen in der Sowjetunion mit den unwiderstehlichen Verlockungen der westlichen Pop-Kultur zu verführen. 1986 klagte der französische Philosoph Régis Debray, einstiger Weggefährte von Che Guevara: 'Rockmusik, Videos, Bluejeans, Fast Food, Nachrichtensender und TV-Satelliten haben mehr Macht als die gesamte Rote Armee.' [...] Der Tech-Milliardär Peter Thiel prägte "den bemerkenswerten Aphorismus: 'KI ist kommunistisch, Krypto ist libertär.' Tik Tok bestätigt die erste Hälfte dieses Satzes. Während der Kulturrevolution der späten 1960er Jahre denunzierten chinesische Kinder ihre Eltern wegen vermeintlicher rechter Ansichten. Und als amerikanische Jugendliche 2020 ihre Eltern des Rassismus bezichtigten, taten Sie dies auf TikTok. [...] Das Buch, das den besten Einblick in das chinesische Verständnis der Vereinigten Staaten und der heutigen Welt bietet, ist allerdings kein politischer Text, sondern ein Science-Fiction-Roman. Der dunkle Wald 2008 ist  Liu Cixins Fortsetzung seines Romans Die drei Sonnen. Sein Einfluss im heutigen China ist kaum zu unterschätzen [....]  Darin führt Liu Cixin "drei Axiome der Kosmosoziologie ein. 'Erstens: Überleben ist das erste Gebot jeder Zivilisation. Zweitens: 'Zivilisationen wachsen und dehnen sich ununterbrochen aus, aber die im Kosmos verfügbare Materie bleibt konstant.' Und drittens führen die 'Zweifelsketten' und das Risiko einer technologischen Explosion dazu, dass im Kosmos nur das Gesetz des Dschungels herrschen kann. Wie es der Held, der 'Wandschauer' Luo Ji, ausdrückt: 'Das Universum ist ein dunkler Wald. [...] Der Jäger muss vorsichtig sein, denn überall im Wald lauern andere Jäger wie er. Stößt er auf anderes Leben, [...] bleibt ihm nichts anderes übrig als es auszuschalten. In diesem Wald sind die Hölle die anderen Lebewesen. Es herrscht das ungeschriebene Gesetz, dass jedes Leben, das sich einem offenbart, umgehend eliminieret werden muss.' " (S.474/75)
Ferguson dazu: "Das ist intergalaktischer Darwinismus. Es ist nicht an uns zu entscheiden, ob wir einen kalten Krieg mit China wollen oder nicht. China hat uns diesen kalten Krieg längst erklärt." (S.475/76)

"Wer die Regierungen der Welt dazu aufruft, sich gegen die Gefahren der Menschheit zu verbünden, sollte die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass diese Vebündung selbst die größere Gefahr ist." (Bryan Caplan:The Totalitarian Threat in Nick Bostrom und Milan Ćirković (eds.): Global Catastrophic Risks. Oxford: Oxford University Press, 504–519.) (S.488)

Zukünftige Schrecken
Im Anschluss an Huxleys "Schöne neue Welt", Orwells "1984" und Samyatins Wir stellt Ferguson Dystopien vor, die seiner Meinung der heutigen Welt ähnlicher sind als diese drei berühmten Utopien: John Brunner Morgenwelt (1968), William Gibson Neuromancer (1984), Neal Stephenson Snow Crash (1992) Chan Koonchung Die fetten Jahre (2009) [The Fat Years], Han Song 2066 (2000) Darin "wird das World Trade Center von einem Terroranschlag zerstört, und Manhattan versinkt in den steigenden Fluten des Meeres." Liu Cixin Die drei Sonnen [...]" (S.494-495)

12 April 2022

James Joyce

"[...] Da saß meist allein in einer Ecke des Café Odeon ein junger Mann mit einem kleinen braunen Bärtchen, auffallend dicke Brillen vor den scharfen dunklen Augen; man sagte mir, daß es ein sehr begabter englischer Dichter sei. Als ich nach einigen Tagen James Joyce dann kennenlernte, lehnte er schroff jede Zusammengehörigkeit mit England ab. Er sei Ire. Er schreibe zwar in englischer Sprache, aber er denke nicht englisch und wolle nicht englisch denken – „ich möchte“, sagte er mir damals, „eine Sprache, die über den Sprachen steht, eine Sprache, der sie alle dienen. In Englisch kann ich mich nicht ganz ausdrücken, ohne mich damit in eine Tradition einzuschließen.“ Mir war das nicht ganz klar, denn ich wußte nicht, daß er damals schon an seinem „Ulysses“ schrieb; er hatte mir nur sein Buch „Portrait of an artist as a young man“ geliehen, das einzige Exemplar, das er besaß, und sein kleines Drama „Exiles“, das ich damals sogar übersetzen wollte, um ihm zu helfen. Je mehr ich ihn kennenlernte, desto mehr setzte er mich durch seine phantastische Sprachkenntnis in Erstaunen; hinter dieser runden, fest gehämmerten Stirn, die im elektrischen Licht wie Porzellan glatt glänzte, waren alle Vokabeln aller Idiome eingestanzt, und er spielte sie in brillantester Weise durcheinander. Einmal als er mich fragte, wie ich einen schwierigen Satz in „Portrait of an artist“ deutsch wiedergeben würde, versuchten wir die Formung zusammen in Italienisch und Französisch; er hatte für jedes Wort vier oder fünf in jedem Idiom parat, selbst die dialektischen, und wußte ihren Valeur, ihr Gewicht bis in die kleinste Nuance."

(Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Im Herzen Europas)

09 April 2022

Paul Mason: Meine Generation hat sich geirrt

 Meine Generation hat sich geirrt von Paul Mason

"[...] Wie sich herausgestellt hat, lagen die Wurzeln des Faschismus nicht in der spezifischen Klassendynamik Europas in den dreißiger Jahren. Es ist keine Massenarbeitslosigkeit erforderlich, um ihn hervorzubringen. Er ist nicht auf eine Niederlage im Krieg oder auf die Existenz staatlicher Radiosender angewiesen. Er ist ein wiederkehrendes Symptom des Systemversagens im Kapitalismus. [...]"

FR 9.4.22

Faschismus

08 April 2022

Delphine de Vigan: „Die Kinder sind Könige“ - Kinder als unfreiwillige Influencer

Die kleinen Youtube-Sklaven von: Cornelia Geißler  FR 7.4.2022

Die Story ist ein Kriminalfall um die verschwundene 6-jährige Kimmy Claux. Geschildert werden die Gefahren, die unfreiwilligen Influencer-Kindern und ihren Eltern im Jahr 2031 drohen könnten.

"[...] Man kann Delphine de Vigan eine Chronistin der modernen west- und mitteleuropäischen Lebensweise nennen. Ihre Themen sind gesellschaftlich relevant, ob es sich um die Pflege älterer Menschen handelt („Dankbarkeiten“, 2020), um Alkoholismus unter Jugendlichen („Loyalitäten“, 2018) oder Magersucht („Tage ohne Hunger“, 2017). [...] 

Kimmy und Sammy werden von ihren Eltern vor allem gefilmt, wie sie Waren auspacken und bewundern. Um das Interesse der Follower zwischendurch wachzuhalten, postet die Mutter Handyfilmchen aus ihrem gescripteten Alltag vom Mittagsschlaf bis zum gemeinsamen Essen. Gelegentlich wird die Grenze des Laptop- oder Handybildschirms aufgerissen, wenn die Kinder sich in Freizeitparks den Fans präsentieren, dabei wie Stars aus der Musik- oder Filmszene Autogramme geben. Die Überforderung Kimmys und Sammys zeigt später ein Blick ins Kinderzimmer, wo sich etliche unberührte Dinge stapeln. Das favorisierte Spielzeug des Mädchens ist ein abgeliebtes Stoffkamel, „Schmuseschmutz“ genannt. [...]

Die Autorin lässt keinen eindeutigen Eindruck zu, ob das Verschwinden des Mädchens als familiäre Katastrophe empfunden oder als Ende des Geschäftsmodells erlebt wird. [...]

Mélanie Claux dagegen fühlte sich in Elternhaus, Schule und Berufsausbildung nie ausreichend beachtet und träumte von einer Karriere, wie sie die Stars von TV-Formaten wie „Big Brother“ erleben. Dabei gescheitert, stellt sie die ersten Videos ihrer Kinder zunächst arglos auf Facebook, bis sie damit auf Beifall stößt. [...]

06 April 2022

Reich-Ranicki: Mein Leben

 Meine erste Lektüre fand 1999 statt. Ich war sehr beeindruckt, habe aber nichts festgehalten 

Zur wiederholten Lektüre zunächst nur so viel:

Gekonnt auf die deutsche Leserschaft abgestellt ist sein Lob der deutschen Literatur und seine Kritik an der "mosaischen" Religion mit der von orthodoxen Juden betriebenen wortgetreu übernommenen Sabbatheiligung, sogar bezogen auf seinen Großvater, den Rabbiner, dem er sogar Heuchelei unterstellt. indem er sich so von der jüdischen Religion distanziert, macht er - ohne es ausdrücklich auszusprechen - deutlich, dass es bei der Judenverfolgung um reinen Rassismus ging und dass fehlendes Verständnis für die Religion keine bedeutsame Rolle gespielt haben kann. Für seine persönliche Kritik an der Religion zieht er Goethe heran "Es erben sich  Gesetz und Rechte/ Wie eine ew'ge Krankheit fort", ohne zu erwähnen, dass Goethe den Teufel (Mephisto) diese Worte sprechen lässt. Dann sein Lob seines blonden, blauäugigen Deutschlehrers, der der Klasse vor Augen hielt, dass Jesus ein Jude war und der deswegen strafversetzt wurde.

Reich-Ranicki als Person war mir nie sympathisch; doch meine Bewunderung kann ich ihm nicht versagen, und ich fühle schon auf den ersten Seiten mit ihm, weil er seine Liebe für deutsche Kultur durch die Nazis so grausam "enttäuscht" wurde - wobei enttäuscht ein viel zu schwaches Wort ist.

Zitate:
"In der Charlottenburger Volksschule erging es mir nicht so schlecht: ich wurde weder geprügelt noch schikaniert. Aber ganz einfach war es nun doch nicht. Indes haben mir nicht die Lehrer den Alltag erschwert, sondern die Mitschüler. Sie sahen in mir – und verwunderlich war das nicht – den Ausländer, den Fremden. Ich war etwas anders gekleidet, ich kannte ihre Spiele und Scherze nicht, noch nicht. Also war ich isoliert. Schlichter ausgedrückt: ich gehörte nicht dazu. [...]  Jeder Schüler erhielt ein Exemplar, aus dem er dann etwa eine halbe Seite vorlesen musste. Ich schaffte das einigermaßen, aber das Buch begeisterte mich nicht, mit dem Autor konnte ich nicht viel anfangen – und kann es bis heute nicht. Es handelte sich um Peter Roseggers "Als ich noch der Waldbauernbub war". Böcklin und Rosegger – so gut meinte ist das Leben mit hier nun doch nicht." (Seite 31/32)

Um sich an seinen Mitschülern zu rächen beschloss er, ein guter Schüler zu werden, und wählte dafür Mathematik.
"Lange dauerte meine Liebe zur Mathematik nicht. Als ich 13 oder 14 Jahre alt war, vernachlässigte ich das Fach und die meisten anderen ebenfalls. Ein anderes Fach, ein einziges, hatte es mir inzwischen angetan – ein Fach übrigens, das mir für die Rache an jenen Mitschülern, die mich verspotteten, noch viel besser geeignet schien als die Mathematik. Ja, ich rächte mich, ich wurde nun und blieb bis zum Abitur der beste Deutschschüler der Klasse. Aus Trotz? Das mag zutreffen, aber so ganz richtig ist es natürlich nicht.
Da gab es noch einen anderen Faktor, da hat noch ein anderes Motiv mitgewirkt – und es lässt sich kaum überschätzen: Das Lesen von Geschichten, von Romanen und sehr bald auch von Theaterstücken machte mir immer mehr Spaß. Und ehe ich mich's versah, da war’s um mich geschehen. Ich war glücklich – wohl zum ersten Mal in meinem Leben. Ein extremes, ein unheimliches Gefühl hatte mich befallen und überwältigt. Ja, ich war verliebt. Halb zog sie mich, halb sank ich hin – ich war verliebt in sie, die Literatur. (S. 34/35)

Über seinen Lehrer Dr. Reinhold Knick, der ihm die Ideale der deutsche Klassik und des deutsche Idealismus nahebrachte und auch die Fächer Mathe, Physik, Chemie u. Bio "ebenso wie Deutsch" (S.49) unterrichtete, anlässlich seines Rezitierens des ersten Aktes des "Biberpelz":
"Ich begriff, daß Literatur unterhaltsam sein darf - und sein sollte. Ich habe es nie vergessen." (S.50)
Als R.R. meinte, in Shakespeares Sturm stoße ihn die "vulgäre, teils plebejische und teils animalische Welt um den mißgestalteten Sklaven Caliban [...] " ab und Knick habe "in seiner Inszenierung" [...] ein Gleichgewicht hergestellt, das dem 'Sturm' nicht nütze, sondern schade", tat Knick das nicht ab, sondern sagte: "Das sind zwei Seiten derselben Sache und beide sind wichtig. Paß auf - heute zumal -, daß du nicht nur die eine Seite wahrnimmst und die andere übersiehst." (S.51)
R.R. schreibt weiter, den 'Sturm' habe er häufig gesehen. "Aber es blieb dabei: Ich empfand Respekt, ohne mich für das Stück erwärmen zu können. Man muß sich damit abfinden: Es gibt weltberühmte Werke, vor denen man sich verneigt, ohne sie zu lieben." (S.52)
Knick wurde später strafversetzt, weil er, als ein Jude beleidigt wurde, daran erinnerte, dass Jesus ein Jude war. 

"Was die überwiegende Mehrheit der Juden jahrelang davon abhielt, auszuwandern, lässt sich kurz sagen: es war nichts anderes als der Glaube an Deutschland. Erst durch die "Kristallnacht", die "Reichspogromnacht" im November 1938, geriet dieser Glaube ins Wanken – und auch dann keineswegs bei allen noch in Deutschland lebenden Juden." (S. 62)

"Ja,  das trifft die Sache: Millionen haben weggesehen." (S.81)

Liebesgeschichten (S.82 ff.)
Liebe zur deutschen Literatur, zum Theater und zu Schiller.. "Nie habe ich mehr gelesen als in der Gymnasialzeit." (S.93)

"Sollte ich mit zwei Namen andeuten, was ich als Deutschtum in unserem Jahrhundert verstehe, dann antworte ich, ohne zu zögern: Deutschland – das sind in meinen Augen Adolf Hitler und Thomas Mann. Nach wie vor symbolisieren diese beiden Namen die beiden Seiten, die beiden Möglichkeiten des Deutschtums. Und es hätte verheerende Folgen, wollte Deutschland auch nur eine dieser beiden Möglichkeiten vergessen oder verdrängen." 
(S. 104/105)

Theater (S.106 ff.)
"Geben Sie Gedankenfreiheit" erhielt 1937 ständig lauten Beifall, dennoch wurde die Inszenierung lange nicht abgesetzt. Sie wurde 32 x gespielt. Die Nazis fühlten sich schon sicher, denn zu den Worten sei schon zu Schillers Lebzeiten geklatscht worden. (S.113)
"Werner Krauss habe ich bewundert, Käthe Dorsch beinahe verehrt und Käthe Gold geliebt. Gustaf Gründgens indes hat mich nahezu hypnotisiert." (S.123)
"In Gründgens sah ich den typischen Repräsentanten der Kultur der zwanziger Jahre, eben der 'Asphaltkultur,' der er im Dritten Reich treu blieb. [...] Er war der Antityp der Zeit. Nicht Blut und Boden verkörperte er, wohl aber das Morbide und das Anrüchige, das Zwielichtige. Nicht die Helden spielte er und auch nicht die Gläubigen, sondern die Gebrochenen und die Degenerierten, die Schillernden. Er war ein Narziß und ein Neurastheniker, der Rollen bevorzugte, die es ihm ermöglichten, das Narzißtische und das Neurasthenische zu verdeutlichen und zu akzentuieren." (S. 124)
Der Höhepunkt von Gs Laufbahn sei sicher sein Mephisto in Faust I und II gewesen.
Aber für mich, der als ich als Jude im Dritten Reich lebte und dem die Angst in den Gliedern saß, war es ein Hamlet von 1936 noch wichtiger. Es wurde schon oft gesagt, dass jede Generation im Hamlet sich selber gesucht und gefunden hat, die eigenen Fragen und Schwierigkeiten, die eigenen Niederlagen. Auch ich habe Züge und Umrisse meiner Existenz im nationalsozialistischen Deutschland im Hamlet wieder erkannt – dank Gründgens. (S.125)

Ein Leiden das uns beglückt (Sexualität und Liebe) S.131 ff.
R entnahm das Technische zur Sexualität dem Brockhaus, das Seelische fand er bei Hermann Hesse in Nazi? und Goldmund.[...]

Die Tür führte ins Nebenzimmer S.145 ff.
Kontakt mit einer Schauspielerin, Verse aus "Der Tor und der Tod" von Hofmannsthal
"Es war doch schön… Denkst du nie mehr daran?
Freilich, du hast mir wehgetan, so weh.
Allein was hörte nicht in Schmerzen auf?" (S. 146)

Zweiter Teil von 1938-1944 S.163 ff.
In Polen Begegnungen mit Frauen

Der Tote und seine Tochter Seite 189 ff.
Teofila Langnas hatte soeben den Selbstmord ihres Vaters erlebt.
"So unvergleichbar unsere Situation – wir waren beide ihr beide nicht gewachsen, wir waren beide überfordert. Sie wusste seit zehn Minuten, dass sie keinen Vater mehr hatte. Sie weinte, sie konnte nichts sagen. Und ich, was sollte ich einem Mädchen sagen, das sich vor zehn Minuten vergeblich bemüht hatte, ihren Vater vom Gürtel loszuschneiden? Wir, beide 19 Jahre alt, waren gleichermaßen ratlos. Ich war mir der Dramatik des Augenblicks bewusst, aber mir fiel nichts anderes ein, als den Kopf der Verzweifelten zu streicheln und ihre Tränen zu küssen. Sie nahm es, glaube ich, kaum wahr. [...] 
Dann aber tat ich etwas Ungehöriges, etwas, was für mich selber überraschte, was ich in dieser Situation noch vor zehn Sekunden für ganz unmöglich gehalten hätte: Ich fasste sie plötzlich an, ich griff zitternd nach ihrer Brust. Sie zuckte zusammen, aber sie sträubte sich nicht. Sie erstarrte, ihr Blick erschien dankbar. Ich wollte sie küssen, ich unterließ es. [...] (S.197/98)
Bei der Beerdigung
"Ein Freund ihres Vaters fragte etwas verwundert, wer denn eigentlich der junge Mann sei, der sich offensichtlich der Tochter des Toten annahm. Vielleicht hielt er es für unpassend oder etwas ungehörig. Aber wir beide, sie und ich, wir machten uns keine Gedanken darüber. Wir empfanden es schon als selbstverständlich, dass wir an diesem düsteren, diesem regnerischen Tag im Januar 1940 zusammen waren. Und wir blieben zusammen." (S.198)

Die Vertreter der deutschen Gemeinde mit der jüdischen Gemeinde, wurden von den Deutschen in " 'Ältestenrat der Juden' und bald, was wohl verächtlicher klingen sollte, 'Judenrat' " umbenannt. Für die Volkszählung wurden viele Büroangestellte gebraucht. 
R. meldete sich dafür. 
"Der Briefwechsel mit den deutschen Instanzen wuchs schnell. Immer mehr Schriftstücke mussten täglich übersetzt werden: bisweilen aus dem Deutschen ins Polnische, meist aber aus dem Polnischen ins Deutsche. Ein besonderes Referat wurde nötig. Man nannte es 'Übersetzungs- und Korrespondenzbüro' und beschäftigte dort vier Personen: einen jungen Juristen, eine ziemlich bekannte polnische Roman Autorin, Gustawa Jarecka, eine professionelle Übersetzerin und mich. Ich, der jüngste, der zehn bis fünfzehn Jahre jünger war als die anderen, wurde zum Chef des Büros ernannt. Weil man mir organisatorische Fähigkeiten zutraute? Vor allem wohl deshalb, weil ich, was nun kein Kunststück war, besser Deutsch konnte als jene, die plötzlich meine Unterergebenen waren. 
Ich wurde also, zum ersten Mal in meinem Leben, gebraucht. Ganz unverhofft hatte ich eine feste Anstellung mit einem Monatsgehalt – wenn auch einem bescheidenen. Ich war zufrieden – nicht zuletzt deshalb, weil ich zum Unterhalt der Familie ein wenig beitragen konnte. 
(S. 203/204)

Unter den unterernährten Juden bricht Typhus aus. Zunächst kümmern sich die Deutschen darum nicht.
"War ihnen die Verbreitung der Epidemie etwa gleichgültig? Nein, keineswegs, sie war ihnen vielmehr willkommen.
Im Frühjahr 1940 erhielt der von den Juden bewohnte Bezirk eine neue Bezeichnung: 'Seuchensperrgebiet'. Der Judenrat hatte ihn mit einer drei Meter hohen Mauer zu umgeben, die oben noch mit einem ein Meter hohen Stacheldrahtzaun versehen werden sollte. An den Eingängen zu diesen Terrain, dessen Grenze die Juden nicht überschreiten durften, wurden Tafeln mit einer deutschen und einer polnischen Inschrift aufgestellt: 'Seuchensperrgebiet… Nur Durchfahrt gestattet.' [...]
Am 16. November 1940 wurden die 22 Eingänge [...] geschlossen und von da an Tag und Nacht von jeweils sechs Posten bewacht: zwei deutschen Gendarmen, zwei polnischen Polizisten und zwei Angehörigen der jüdischen Miliz, die 'Jüdischer Ordnungsdienst' hieß. Diese Miliz war nicht uniformiert, doch leicht erkennbar: die Milizionäre trugen neben dem für alle verbindlichen Armband auch noch ein zweites in gelber Farbe, ferner eine Uniformmütze und auf der Brust ein Metallschild mit einer Nummer. Bewaffnet waren sie mit einem Schlagstock.
So war aus dem 'Seuchensperrgebiet', aus dem offiziell 'der jüdische Wohnbezirk' genannten Stadtteil ein riesiges Konzentrationslager geworden: das Warschauer Getto." (S. 203-207)

Die Worte des Narren S.208 ff
"Sein Erkennungszeichen waren zwei jüdische Worte, die er laut ausrief und, wie ein Zeitungsverkäufer, rasch wiederholte. 'Ale glaach', zu deutsch: 'Alle gleich'. Ob es sich um einen Befund handelte, eine Voraussage oder eine Warnung, ob der Mann wahnsinnig war oder einen Wahnsinnigen spielte – das wusste niemand. Dieser unheimliche Mann, der Rubinstein hieß, aber 'Ale glaach' genannt wurde war der Narr des Warschauer Gettos."
Das Warschauer Getto war - nach New York - die größte jüdische Siedlung  auf der ganzen Welt. Die Bewohner waren natürlich nicht gleich, es gab Unterschiede zwischen Reichen, die noch einigen Besitz hatten, Schmugglern (junge Männer, die außerhalb des Gettos arbeiteten und für Geld und Schmuck aus dem Getto überteuerte Nahrung ins Getto schmuggelten) und Profis, die in Zusammenarbeit mit der polnischen Polizei und den deutschen Richtern Wächtern ganze Lastwagen voll Lebensmittel in das Ghetto lieferten).
Die deutschen Wächter machten sich unvorhersehbar nach Belieben eine Freude daraus, Juden sadistisch zu quälen.
Es gab eine von Pferden gezogene Straßenbahn sie war so voll, dass R. und seine Freunde sie aus Angst vor Läusen, "den wichtigsten Überträger des Fleckfiebers" mieden. Aber selbst die Straßen waren weitgehend überfüllt. "Am Straßenrand lagen, vor allem in den Morgenstunden, die mit alten Zeitungen nur dürftig bedeckten Leichen jener, die an Entkräftung oder Hunger oder Typhus gestorben waren und für deren Beerdigung niemand die Kosten tragen wollte." S.212) 
Der Historiker Emanuel Ringelblum sammelte Dokumente über das Leben im Getto, darunter Kopien von Schreiben die R. anzufertigen hatte. 
"Das gesamte Archiv wurde in zehn Metallbehältern und zwei Milchkanistern vergraben, an drei verschiedenen Stellen. Von diesen drei Teilen hat man nach dem Krieg nur zwei gefunden, der dritte gilt als verschollen." (S. 216)


Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist S. 217 ff.
"[...] Es stellte sich rasch heraus, dass man im Getto ohne Schwierigkeiten ein großes Streichorchester gründen konnte: an guten Geigen und Bratschisten, Cellisten und Kontrabassisten war kein Mangel. Schwieriger war es mit den Bläsern. Mithilfe von Inseraten in der einzigen (übrigens sehr schlechten) Zeitung im Getto und auf Anschlagtafeln wurden geeignete Kandidaten gesucht. Es meldeten sich Trompeter, Posaunisten, Klarinettisten und Schlagzeuger aus den Jazzbands und den Tanzkapellen – rasch zeigte sich dass sie, auch wenn sie nie in einem Symphonieorchester gearbeitet hatten, gleichwohl Schubert oder Tschaikowsky tadellos vom Blatt spielen konnten.
Doch es fehlten drei Blasinstrumente. Und so waren bald etwas sonderbare Anzeigen zu lesen: Hornisten, Oboisten und Fagottisten dringend gesucht. Da sich niemand meldete, musste man sich, wenn man Sinfonien aufführen wollte, anders behelfen: die Oboenstimmen wurden von Klarinetten gespielt und die Fagottstimmen von Basssaxophonen – und das klang gar nicht so schlecht. Am schwierigsten hatte man es mit den Hörnern. Man entschied sich für eine allerdings höchst fragwürdige Lösung: sie wurden mit Tenorsaxophonen ersetzt." (S.220)
"Mir will es scheinen, dass in unserem ganzen Leben Musik niemals eine derartige Rolle gespielt hat wie in jener düsteren Zeit. Hat uns Mozart so entzückt und begeistert, obwohl wir hungrig waren und uns unentwegt die Angst in den Gliedern saß – oder vielleicht gerade deshalb? Jedenfalls darf man es mir glauben: Im Warschauer Getto ist Mozart noch schöner gewesen. In diesem Abschnitt meines Lebens hatte also die deutsche Musik die deutsche Literatur verdrängt. Bald sollte sich das Blatt wieder wenden. Da gab es für uns keine Musik – aber doch, höchst unerwartet, Literatur, vor allem deutsche." (Seite 230)
In dieser Zeit hat R in der einzigen (polnischen) Gettozeitung Konzertrezensionen geschrieben unter dem Namen Wiktor Hart.


Ranickis Rede im Bundestag am 27.1.2012

Ranicki berichtete, "wie SS-Sturmbannführer Hermann Höfle den Judenrat mit der sogenannten „Umsiedlung der Juden aus Warschau“, auch bekannt unter „Große Aktion“, beauftragte.[1] Reich-Ranicki war auf Auftrag Höfles gezwungen, die Sitzung zu protokollieren.[1] Nachdem die Konferenz geschlossen war und die SS-Führer mit ihren Begleitern das Haus verlassen hatten, musste sich Reich-Ranicki um die polnische Übersetzung des Protokolls kümmern.[1] Er selbst meinte, er habe damals, am 22. Juli 1942, das Todesurteil, das die SS über die Juden von Warschau gefällt hatte, seiner Mitarbeiterin Gustawa Jarecka diktiert.[1]

Auf Anraten Jareckas heiratete Reich-Ranicki kurz darauf seine Freundin Tosia.[1] Der Obmann des Judenrates Adam Czerniaków nahm sich am nächsten Tag, 23. Juli 1942, das Leben.[1] In dem Abschiedsbrief an seine Frau erklärte Czerniaków, nachdem man von ihm verlangt habe, mit eigenen Händen die Kinder seines Volkes umzubringen, wäre ihm nichts anderes übrig geblieben als zu sterben.[1] Reich-Ranicki erzählte, dass diese Tat damals als Zeichen dafür gesehen wurde, dass die Lage der Juden Warschaus hoffnungslos sei.[1] Weiters hielt Reich-Ranicki Czerniaków für einen intellektuellen Mann mit Grundsätzen, der auch in unmenschlicher Zeit an seinen Idealen festhielt.[1] Am Ende der Rede stellte Reich-Ranicki fest, dass die sogenannte „Umsiedlung“ der Juden eine bloße Aussiedlung aus Warschau war: 'Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.' " (WikipediaMarcel Reich-Ranickis Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus)

Anmerkung 1: Broschüre des Bundestags zum Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus  (pdf)

Sie enthält auf den Seiten 14-20 den vollständigen Wort der Rede Reich-Ranickis.

Daraus: "Als ich bei der Aufzählung der Personengruppen angelangt war, die von der „Umsiedlung“ ausgenommen sein sollten, und dann der Satz folgte, dass sich diese Regelung auch auf die Ehefrauen beziehe, unterbrach Gustawa das Tippen des polnischen Textes und sagte, ohne von der Maschine aufzusehen, schnell und leise: „Du solltest Tosia noch heute heiraten.“ Sofort nach diesem Diktat schickte ich einen Boten zu Tosia: Ich bat sie, gleich zu mir zu kommen und ihr Geburtszeugnis mitzubringen. Sie kam auch sofort und war ziemlich aufgeregt; denn die Panik in den Straßen wirkte ansteckend. Ich ging mit ihr schnell ins Erdgeschoss, wo in der Historischen Abteilung des „Judenrates“ ein Theologe arbeitete, mit dem ich die Sache schon besprochen hatte. Als ich Tosia sagte, wir würden jetzt heiraten, war sie nur mäßig überrascht und nickte zustimmend. Der Theologe, der berechtigt war, die Pflichten eines Rabbiners auszuüben, machte keine Schwierigkeiten. Zwei Beamte, die im benachbarten Zimmer tätig waren, fungierten als Zeugen. Die Zeremonie dauerte nur kurz, und bald hatten wir eine Bescheinigung in den Händen, der zufolge wir bereits am 7. März getraut worden waren. Ob ich in der Eile und Aufregung Tosia geküsst habe, ich weiß es nicht mehr. Aber ich weiß sehr wohl, welches Gefühl uns überkam: Angst. Angst vor dem, was sich in den nächsten Tagen ereignen werde. Und ich kann mich noch an das Shakespeare-Wort erinnern, das mir damals einfiel: „Ward je in dieser Laun’ ein Weib gefreit?“ " (S.20)

Und über Czerniaków:

"Von Czerniakóws Selbstmord erfuhr das Getto am nächsten Tag – schon am frühen Morgen. Alle waren erschüttert, auch seine Kritiker, seine Gegner und Feinde. Man verstand seine Tat, wie sie von ihm gemeint war: als Zeichen, als Signal, dass die Lage der Juden Warschaus hoffnungslos sei. Still und schlicht war er abgetreten. Nicht imstande, gegen die Deutschen zu kämpfen, weigerte er sich, ihr Werkzeug zu sein. Er war ein Mann mit Grundsätzen, ein Intellektueller, der an hohe Ideale glaubte. Diesen Grundsätzen und Idealen wollte er auch noch in unmenschlicher Zeit und unter kaum vorstellbaren Umständen treu bleiben. Die in den Vormittagsstunden des 22. Juli 1942 begonnene Deportation der Juden aus Warschau nach Treblinka dauerte bis Mitte September. Was die „Umsiedlung“ der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod."

"Der Deportation im Januar 1943 entkam das Ehepaar, indem es auf dem Weg zum Versammlungsplatz floh. Es lebte fortan versteckt. In dieser Zeit unterstützte Reich-Ranicki zusammen mit seiner Frau die Jüdische Kampforganisation (polnisch: Żydowska Organizacja Bojowa, kurz: ŻOB) bei der Beschaffung einer größeren Geldsumme aus der Kasse des „Judenrates“. Als Anerkennung bekamen sie einen kleinen Teil des Geldes; dieser sollte ihnen die Flucht aus dem Ghetto durch Bestechung der Grenzposten ermöglichen,[7] was am 3. Februar 1943 gelang. Sie fanden nach kurzen Zwischenverstecken für sechzehn Monate einen Unterschlupf bei der Familie des arbeitslosen Schriftsetzers Bolek Gawin" (Wikipedia)

Jüdischer Widerstand gegen den Holocaust

Aufstand im Warschauer Ghetto (Wikipedia)

Warschauer Aufstand als WendepunktWlodzimierz Borodziej im Gespräch mit Michael Köhler 27.7.14

Widerstand im Wilnaer und im Warschauer Ghetto


Dritter Teil von 1944 bis 1958 s. 295 ff.

"[...] Auf dem Lastwagen, der allerlei Waren transportierte, saßen schon mehrere Leidensgenossen. Man betrachtete uns nicht gerade mit Sympathie. Aber ein ordentlich gekleideter Pole sprach mich freundlich an. Nach einigen Minuten fragte er mich, den unrasierten und schmutzigen Landstreicher: 'Sie sind wohl Jurist?' So heruntergekommen ich war, etwas war offenbar geblieben und hatte ihn zu seiner Vermutung veranlasst: die Sprache – oder vielleicht die logische Argumentation. Mein Alter schätze er auf knapp fünfzig. Ich war damals 24. (Seite 298/99)


"
Walter Jens oder die Freundschaft S.418-426
30 Jahre Freundschaft, in gewisser Weise beide in der Gruppe 47 Außenseiter, weil dort alle anderen im 2. Weltkr. deutsche Soldaten gewesen waren.
Stundenlange Telefongespräche. 
"Als wir schon längst zerstritten waren, hat Jens einmal gesagt: "Wir verdanken uns gegenseitig sehr viel." Abwägen lässt sich derartiges nicht, aber ich kann mich des Verdachts nicht erwehren, dass ich ihm noch mehr zu verdanken habe als er mir." (Seite 424) "Als im Herbst 1990 unsere Beziehung ernsthaft gestört und gefährdet war [...]" (S.426)

Canetti, Adorno, Bernhard und andere S.438ff
Canetti und Adorno waren beide sehr eitel und selbstgefällig.
Zwischen der Eitelkeit Adornos und jener Canettis bestand ein nicht geringer Unterschied. Canettis Eitelkeit hing mit seinem Ehrgeiz zusammen, als kategorischer Ankläger und einsamer Weltenrichter zu fungieren. Freilich entzog sich das symbolische Amt, das er anstrebte und vielleicht schon mit priesterlicher, ja, mit majestätischer Würde zu versehen bemüht war, einer genaueren Definition: Denn es war in einem diffusen Grenzbereich beheimatet – zwischen Literatur und Philosophie, Kunst und Religion, zwischen strenger Zeitkritik und höherer Lebenshilfe. Canetti wurde, nicht zu seiner Unzufriedenheit, als eine fast archaische und mythische Gestalt berühmt, als der 'Prophet von Rustschuk'.
Das alles war Adornos Sache nicht. Auch er wollte gefeiert und geehrt werden – doch vor allem als intellektuelle und wissenschaftliche Autorität. Auch ihm war an einer Gefolgschaft gelegen. Aber niemand sollte ihm blind folgen, vielmehr sein kritisches Denken kritisch bewundern. Die Verehrung Canettis ging bisweilen in Verklärung über. Daran war Adorno nicht interessiert. Nicht das Sakrale war sein Element, sondern die Pfauenhaftigkeit, die er überhaupt nicht tarnte. [...] Adornos Eitelkeit ähnelte jener eines Sängers oder eines Schauspielers: Nicht auf stumme Anbetung hatte er es also abgesehen, sondern auf begeisterten Beifall. Sie so enorm seine Gefallsucht auch war, es verbarg sich in ihr etwas Entwaffnendes, etwas, das seine Eitelkeit begreiflicher und auch sympathischer machte als jene Canettis: Hilflosigkeit. In seinem Bedürfnis nach Zustimmung, in seiner ständigen Sehnsucht nach Lob war etwas Rührendes, etwas Kindliches." S.457/58)

FAZ, Fest (S.477 ff)
Begegnung mit Fest, beinahe eine Freundschaft, wenn auch Fest immer noch etwas förmlich blieb. Als er als Herausgeber der FAZ gewonnen wurde (einer von 6) wünschte er sich Ranicki für den Literaturteil
"Mit den mir vorgeschlagenen Bedingungen und Modalitäten war ich gleich einverstanden, nur sollte im Vertrag ausdrücklich gesagt werden, dass mir 'die Bereiche Literatur und literarisches Leben' oblägen und dass ich unmittelbar den Herausgebern unterstellt sei. Daran war mir besonders gelegen: Ich wollte auf keinen Fall einem Feuilletonchef unterstehen. Mit meinem Einzug in die Redaktion der 'Frankfurter Allgemeinen' sollte also die Kultur in zwei Bereiche mit gleichberechtigten Chefs aufgeteilt werden – das allgemeine Feuilleton, geleitet von Günter Rühle, und die Literatur. Mein Wunsch wurde erfüllt
Fest war zufrieden, und ich war es erst recht. Rund fünfzehn Jahre nach meiner Rückkehr hatte ich endlich einen Posten im literarischen Leben Deutschlands und vielleicht den wichtigsten. Aus dem Literaturteil dieser Zeitung würde sich, das hoffte ich, ein Forum und ein Instrument höchsten Ranges machen lassen – vorausgesetzt, dass keine Schwierigkeiten die Zusammenarbeit mit Fest beeinträchtigten. Dass sie entstehen könnten, darauf wies nichts hin – einstweilen jedenfalls nichts." (S.480)

Der dunkle Ehrengast  "Dieser dezente Herr war ein Verbrecher, einer der schrecklichsten Kriegsverbrecher in der Geschichte Deutschlands. Er hatte den Tod unzähliger Menschen verschuldet.Albert Speer (S.481)

Ein Streitgespräch mit vier Feministinnen
"[...] Auch ich war angriffslustig, aber mein Interesse an dem bevorstehenden Streitgespräch war schlagartig geschwunden, als ich plötzlich sah, dass eine meiner Partnerinnen eine  außerordentliche Frau war: anmutig und anziehend, verlockend und verführerisch, lieblich und liebreizend, kurz: wunderschön.
Ich war von ihr so bezaubert, dass ich die anderen kaum wahrnahm. In der Diskussion hat sie mir noch besser gefallen: Sie sprach sehr intelligent und sie hatte die höchst sympathische Neigung, mit allem, was ich sagte, einverstanden zu sein. Das angebliche Streitgespräch verwandelte sich in einen heimlichen erotischen Dialog: Was ich sagte, war nur für sie bestimmt, und was sie sagte, war, wollte mir scheinen, an mich gerichtet." (S. 493/94): Lilli Palmer [Zu beachten ist das Lebensschicksal von Palmer.]
"Ich las die Verse gleich. Ich war entzückt und gerührt. [...] Eine junge Frau, von der noch nichts publiziert war, hatte mir unzweifelhaft druckbare Gedichte zugeschickt, mehr noch, Gedichte, die bewiesen, dass deutsche Lyrik auch heute schön sein darf und schön sein kann." (S.494/95): Ulla Hahn

R.-R. hatte lange ein gutes Verhältnis zu Frisch, weil er seinen Gantenbein gegen die Kritik Hans Mayers in Schutz genommen hatte. Als er später ein Werk, den Blaubart, kritisch beurteilte, kühlte es ab, bis es nach dem Erscheinen einer Sammlung von Kritiken R.R.s zu Werken von Frisch kurz vor dessen Tod sich wieder verbesserte. Dabei ging aus diesen Kritiken noch nicht einmal hervor, wieviel R.-R. glaubt, Frisch zu verdanken:
Frisch schrieb "über die Komplexe und die Konflikte der Intellektuellen, und er wandte sich immer wieder an uns, die Intellektuellen aus der bürgerlichen Bildungsschicht. Wie kein anderer hat Frisch unsere Mentalität durchschaut und erkannt. Unseren Lebenshunger und unsere Liebesfähigkeit, unsere Schwäche und unsere Ohnmacht. Was wir viele Jahre lang spürten, ahnten und dachten, hofften und fürchteten, ohne es ausdrücken zu können – er hat es formuliert und gezeigt. Er hat seine und unsere Welt gedichtet, ohne sie je zu poetisieren, er hat seine und unsere (das Wort lässt sich nicht mehr vermeiden) Identität stets aufs Neue bewusst gemacht – uns und allen anderen.
So konnten und können wir in seinem Werk, im Werk des europäischen Schriftstellers Max Frisch, finden, was wir alle in der Literatur suchen: unsere Leiden. Oder auch: uns selber."  (S. 525/26)

Weitere Texte:

Ulrich Greiner über Reich-Ranicki:
"Dieses Land verdankt ihm viel. Das Verhältnis der Deutschen zu einem Juden, zu einem Überlebenden, der so provozierend in die Öffentlichkeit wirkte und Anerkennung suchte, konnte nicht einfach sein, und es gab im Verlauf von Reich-Ranickis bundesdeutschen Lebensjahren manche Missverständnisse, Fehlleistungen, auch Entgleisungen. Alles in allem aber ist es wohl eine geglückte Geschichte. Man muss in der Tatsache, dass dieser Mann ins Land seiner Jugend zurückgekehrt ist und uns die Bedeutung der zuweilen schnöde vergessenen literarischen Tradition aufs Neue beigebracht hat, eine unverdiente Gunst des Schicksals erblicken. Er war ein außerordentlicher Mann, der uns fehlen wird. Mit anderen Worten: So einen Kerl habe ich zeit meines Lebens nicht gesehen."